Chemische Unterhaltungen: Chemie als abstrakte Kunst
Existiert in der Wissenschaft ein Pendant zur abstrakten Kunst? Die spontane Gegenfrage liegt nahe: Warum sollte es das geben? Welchen Platz könnte das Zwecklos-Schöne und Spielerisch-Ästhetische in der Wissenschaft haben, in der es doch um nüchterne Fakten und unwandelbare Gesetze geht? Nun sind Wissenschaft und Kunst immerhin beide das Ergebnis schöpferischen menschlichen Tuns. Das allein legt schon Parallelen nahe, auch wenn exakte Entsprechungen sicherlich nicht zu erwarten sind. Aber wer mit etwas Fantasie nach Analogien sucht, wird durchaus fündig.
Zunächst einmal stellt sich die Frage, was abstrakte Kunst überhaupt ist. Das lässt sich gar nicht so einfach sagen. Gehört das Ornament aus geschwungenen Linien dazu, das in ein etwa 4500 Jahre altes japanisches Jomon-Gefäß eingraviert ist? Sind die bunten Muster auf den Huari-Textilien aus präkolumbischer Zeit abstrakt? Man erkennt auf beiden kein konkretes Objekt, doch die Darstellung erscheint nicht willkürlich. Auch wenn wir mit den fremden Kulturen und den tieferen Bedeutungsschichten, die sich in diesen Mustern verbergen mögen, nicht vertraut sind, regen sie durch Form, Farbe und Struktur unsere Fantasie an – ganz sicher ein Merkmal von Abstraktion.
Abstrakte Kunst als Begriff existiert allerdings erst seit rund 100 Jahren. Sie verstand sich ursprünglich als radikaler Gegenentwurf zu den Idealen der naturalistischen, bildlichen Darstellung. Ich würde sogar sagen, als Alternative zur sichtbaren Realität schlechthin; denn – um es in Anlehnung an den Surrealisten René Magritte (1898 – 1967) auszudrücken – ein noch so detailgetreues Gemälde ist niemals gleich dem abgebildeten Objekt selbst. Wenn die Kunst also in jedem Fall eine eigene Welt verkörpert, kann sie auch gleich ihre eigene Welt erschaffen, die nichts mit der sinnlich erfahrbaren Realität zu tun hat. ...
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