Archäomedizin: Chirurgie im alten Ägypten
Ärzte trauten sich im Reich der Pharaonen wohl mehr zu als bislang angenommen. Jüngste Untersuchungen an Mumien belegen größere Operationen, die auch gut verliefen.
Unter den Wissensgebieten der frühen Hochkultur Ägyptens erfreute sich die Heilkunde vermutlich besonderer Hochachtung. So jedenfalls berichten es griechische Schriftsteller und Gelehrte seit Homer, also seit dem 8. Jahrhundert vor Christus. Im vierten Gesang der "Odyssee" heißt es (in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß): "Dort ist jeder ein Arzt und übertrifft an Erfahrung alle Menschen." Mit ihrem eigenen Gott der Medizin, Asklepios beziehungsweise Äskulap, verglichen die Griechen sogar einen ägyptischen Sterblichen – Imhotep, um 2600 vor Christus Wesir, Architekt und Astrologe des Pharaos Djoser, des Bauherrn der Stufenpyramide von Sakkara. Ihm wurde zwei Jahrtausende nach seinem Ableben im eigenen Lande ebenfalls göttliche Verehrung zuteil, und Kranke pilgerten zu den Imhotep-Tempeln in Memphis und auf der Insel Philae. So nimmt es nicht wunder, dass im Altertum Adlige aus Vorderasien und dem Mittelmeerraum zu Konsultationen an den Nil reisten und ägyptische Ärzte vielfach an fremden Fürstenhöfen tätig waren.
Ihr Wirken lässt sich aus schriftlichen Belegen ableiten. Mehrere Papyri geben detaillierte Anweisungen zur Behandlung verschiedenster Krankheiten. Überraschenderweise werden darin aber kaum chirurgische Techniken beschrieben. Auch zeitgenössische Hinweise von anderer Seite fehlen. So schrieb der griechische Chronist Herodot (nach 490-425 v. Chr.): "Jeder Arzt behandelt nur eine Krankheit ... es gibt Augenärzte, Ohrenärzte, Zahnärzte, Magenärzte und Ärzte für bestimmte innere Krankheiten." Doch bei dieser Liste von Fachärzten führte er keine Chirurgen auf! So ist es nicht verwunderlich, dass Archäologen bis vor kurzem daran zweifelten, dass es überhaupt größere und geplante Operationen gegeben hat. Wir haben aber an Mumien eindeutige Hinweise gefunden, die auf ein wohl überlegtes und durch Erfahrung gestütztes Vorgehen hindeuten.
Honig auf die Wunde
Doch betrachten wir zunächst die Hinweise in den medizinischen Schriften der Zeit. Der Papyrus Smith beschreibt Verletzungen vom Kopf bis etwa zur Körpermitte und deren Folgen sowie entsprechende Gegenmaßnahmen. Da der Text abrupt abbricht, gilt es als wahrscheinlich, dass er Teil einer Lehrschrift war, die Verletzungen des menschlichen Organismus systematisch von oben nach unten abgehandelt hat. Die oft sehr klaren, gut nachvollziehbaren Empfehlungen beeindrucken auch heute noch, zumal manche sogar modernen Behandlungsrichtlinien entsprechen.
So lautet die Anweisung bei einem Schädelbruch, der das Gehirn nicht freilegte, er könne mit einem Verband zur Ruhigstellung und Blutstillung durchaus behandelt werden. Als medizinisch wirksame Substanz wird häufig Honig genannt, dessen bakterizide Wirkung gute Dienste geleistet haben dürfte. Hingegen galt ein Schädeltrauma mit freiliegendem Gehirn ("wenn du das Gehirn pulsieren siehst") als nicht mehr therapierbar.
Der Fall 36 des Werkes beschreibt einen geschlossenen Bruch des Oberarmknochens, also ohne Durchspießung der Weichteile. Er sei mit hölzernen Splinten zu schienen. Solche Hilfsmittel hat der in Kairo lebende Anatom Elliot Smith 1908 tatsächlich an zwei Mumien gefunden. Die Patienten hatten ihre Verletzungen – eine Oberarm- beziehungsweise eine Oberschenkelfraktur – allerdings vermutlich nicht lange überlebt, denn an den Bruchkanten war kein neuerliches Knochenwachstum festzustellen. Eine Verfärbung der umliegenden Weichteile deutete Smith als Blutungsreste – ein Hinweis darauf, dass der Bruch tatsächlich zu Lebzeiten auftrat und nicht etwa der Leiche zugefügt worden ist. Bemerkenswert ist, dass mit Fall 37 eine ähnliche, jedoch offene Fraktur folgt und als "Verletzung, die du nicht behandeln sollst" klassifiziert ist: Bis weit in die Neuzeit hinein endete eine solche Fraktur mit tödlichem Wundfieber. Die dafür verantwortliche bakterielle Infektion der Bruchstelle kannten die ägyptischen Ärzte freilich nicht.
Vereinzelt liefern medizinische Dokumente zu anderen Themen durchaus indirekte Hinweise auf chirurgische Maßnahmen. Insbesondere gibt es im Papyrus Ebers einige Beispiele für Eingriffe bei anderen Erkrankungen. So seien "Schwellungen", mit denen vermutlich Abszesse oder Wasserblasen gemeint sind, durch Einschneiden mit dem hemem genannten Messer zu öffnen. Unklar bleibt freilich, inwieweit diese Anweisung sich auch auf Schwellungen bezieht, die als umschriebene Auftreibungen – beispielsweise Tumoren – in verschiedenen bildlichen Darstellungen zu erkennen sind. Ebenso wenig gibt es einen Anhalt zur Erfolgsrate.
In der Liste der Hinweise auf chirurgische Maßnahmen darf die Beschneidung nicht fehlen. Sie wurde erst im Pubertätsalter vorgenommen, also vermutlich im Zusammenhang mit der Initiation (obschon der griechische Chronist Herodot berichtete, sie sei "der Reinlichkeit wegen" üblich). In Texten wird sie mehrfach erwähnt, und ein Relief im Grab des Arztes Anchmahor in der Nekropole von Sakkara aus der Zeit der 6. Dynastie (2290- 2157 vor Christus) zeigt das Vorgehen sehr detailliert: In der ersten Szene steht ein Junge, dessen erhobene Hände ein hinter ihm postierter Helfer festhält, vor einem hockenden Priester oder Arzt, der mit einem Gegenstand – vielleicht einem Schwamm – das Glied behandelt. Der begleitenden Inschrift "Reibe kräftig, damit es wirksam ist" ist allerdings nicht zu entnehmen, ob es sich nur um eine Reinigung oder eine lokale Anästhesie handelte. In der zweiten Szene setzt der Operateur ein Messer an der Vorhaut des Jungen an. Das Bild verrät auch nicht, ob dort ein Arzt oder Priester zu Werke ging. Nach den bisherigen Befunden an Mumien waren in der Antike so gut wie alle erwachsenen Ägypter beschnitten; der Eingriff, wiewohl ursprünglich vielleicht durch hygienische Vorsorge motiviert, diente also wohl nicht primär medizinischen Zwecken wie dem Beheben einer Phimose, sondern war ein religiöser Brauch wie noch heute bei Juden und Muslimen.
Es war nahe liegend, die Auswertung der wenigen schriftlichen und bildlichen Quellen durch paläopathologische Un-tersuchungen an Mumien zu ergänzen. Archäologen und Pathologen begannen damit gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Schätzungsweise 30000 Mumien und Mumienreste hatten sie bis zum Ende der 1920er Jahre untersucht, ohne auch nur eine chirurgische Narbe zu finden. Daran änderte sich auch bei einigen späteren Unternehmungen dieser Art nichts, wie James T. Rowling in London 1989 konstatierte. Ergo schlossen die Archäologen: Im Wesentlichen seien nur sehr oberflächliche Eingriffe im antiken Ägypten üblich gewesen.
Neue Techniken, kleine Sensationen
Auf der Suche nach pathologischen Veränderungen an Mumien- und Skelettresten aus Theben-West haben meine Kollegen und ich in den vergangenen sieben Jahren aber doch noch Spuren chirurgischer Kunst entdeckt; dabei kooperierten wir sehr eng mit dem Pathologischen Institut der Universität München, dem Ägyptologischen Institut der Universität Heidelberg, dem Deutschen Archäologischen Institut Kairo und dem Egyptian Supreme Council of Antiquities.
Den ersten Beleg lieferte der Schädel eines erwachsenen Mannes, der vor rund fünfzig Jahren nach Deutschland gebracht wurde (mehr wissen wir leider nicht über den Fund). Die Art der Mumifikation lässt darauf schließen, dass er in der ersten Hälfte der Dritten Zwischenzeit (1080-714 vor Christus) gestorben war. Unter den Leinenbinden kam eine intakte Schicht von Haut und Weichteilen samt dichtem Haar zu Tage . Nach der äußeren Inspektion und der Entnahme kleiner Harzplomben, die Nase und Ohren verschlossen, führten wir ein Endoskop in den Schädel ein: zunächst durch die beiden Mittelohren, dann über die Nasenhöhle und schließlich durch eine Öffnung im Nasenhöhlendach, durch die die Einbalsamierer das Gehirn entfernt hatten (Spektrum der Wissenschaft 8/2001, S. 34).
Uns fiel sofort auf, dass die rechte Kette der Gehörknöchelchen vollständig und gut erhalten war, die linke hingegen fehlte. War sie noch zu Lebzeiten entnommen worden oder kurz nach dem Tode bei der Mumifizierung herausgefallen? In der Schädelhöhle erkannten wir eine flache, bräunliche Schicht über dem Hinterhauptsbein. Solches Material wurde häufig eingegossen, um die Körperhöhlen zu konservieren; es erstarrte, während der Leichnam flach auf dem Rücken lag. Zudem bedeckte eine eigenartige flache, dunkelbraune Schicht tapetenartig einen Bereich der linken Seite der mittleren Schädelgrube.
Die Computertomographie (CT) brachte die Überraschung: Wir entdeckten unter völlig intakten Haut- und Weichteilen über dem linken Scheitelbein knapp oberhalb des linken Ohres einen großen, ovalen Defekt im Knochen, vermutlich infolge eines schweren Schlages. Von der Oberkante des Bruchs verlief ein Riss in die Schädelkalotte. An seinem Rand war vereinzelt eine leichte Knochenneubildung auszumachen. Die histologische Analyse einer kleinen Probe unterstrich, dass die Verletzung nicht sofort tödlich verlaufen war – es gab stellenweise Pigment, wie es beim Blutabbau entsteht.
Weit interessanter scheint jedoch, dass in der Defektzone Knochenfragmente fehlten. Die Auflagerung darunter im Inneren – vermutlich Reste der intakten, wenngleich verklebten harten Hirnhaut – und die ebenfalls intakte, also verheilte äußere Haut belegen: Ein Arzt hatte die Wunde versorgt, das Gewebe vermutlich aufgeschnitten und weggeklappt, danach die sicher vorhandenen Knochensplitter entfernt. Die Gehörknöchelchen der linken Seite waren bei dem Schlag aus ihrer normalen Position geraten und dann nach dem Tode, aber vor der Mumifikation herausgefallen.
Unser zweiter Fall war ein mumifizierter Fuß aus einem Grabkomplex in Theben-West; er stammte aus der so genannten Ramessiden-Zeit (1305-1080 vor Christus), in der elf Pharaonen der 19. und 20. Dynastie Ramses hießen. Merkmale der betreffenden Person wie Alter oder Geschlecht lassen sich an diesem Körperteil nicht mehr bestimmen. Besonders bemerkenswert ist es insofern, als nahezu der gesamte Vorfuß amputiert worden war. Die Operation gelang, denn die Wunde verheilte: Eine völlig intakte Schicht von Haut und Weichteilgewebe bedeckte die Schnittstelle, und selbst eine Narbe oder ein sonstiger Defekt ist heute nicht mehr zu erkennen. Unsere Röntgen- und CT-Untersuchung ergab, dass lediglich der fünfte Zehenstrahl teilweise erhalten blieb, dann aber verkümmerte. Auch diese Aufnahmen zeigen weder Fehlbildungen noch Verletzungsfolgen.
Vermutlich hatte dieser Patient mehrere Monate, möglicherweise sogar etliche Jahre überlebt, obwohl an den erhaltenen Knochen keine wesentlichen Umbaureaktionen stattfanden, wie sie eigentlich zu erwarten gewesen wären. Komplikationen gab es keine, beispielsweise hätte eine Wundinfektion narbige Wulstbildungen oder knöcherne Wucherungen hinterlassen können. Über den Anlass der Amputation kann man nur spekulieren. Eine Verletzung scheint uns am wahrscheinlichsten. Zwar gibt es keinen Hinweis hierfür am restlichen Fußskelett, aber es fanden sich auch keine Anhaltspunkte für sonstige Anlässe eines solch drastischen Eingriffs wie Durchblutungsstörungen oder eine nicht verheilende Entzündung.
Eine vergleichbare, obwohl nicht ganz so ausgedehnte Operation überstand eine Frau, die im Alter von etwa fünfzig Jahren verstarb. Ihre Mumie ist zwar stark zerstört, wohl das Werk von Grabräubern, aber beide Füße, der rechte Unterschenkel und beide Oberschenkel waren noch mit harzigem Balsam überzogen und auch mit Leinenbinden umwickelt. Uns fiel der rechte Vorfuß auf, denn zwischen den Stoffstreifen stak ein Fremdkörper. Es handelte sich um einen sorgsam geschnitzten hölzernen Ersatz der offensichtlich schon vor längerer Zeit abgetrennten großen Zehe.
Den Stumpf des ehemaligen Zehengrundgelenks überzog unversehrte Haut und unauffälliges Weichteilgewebe, Hinweise auf Wundheilungsstörungen fehlen ganz. Auf Röntgenaufnahmen ist zudem ein wulstiger Umbau am verbliebenen Mittelfußknochen des ersten Zehenstrahls zu sehen. Dies und die Abnutzungsspuren an der Unterseite der Prothese belegen, dass die Operation Jahre vor dem Tode stattgefunden hatte. Mithin war den altägyptischen Chirurgen auch in diesem Falle eine Amputation gelungen, und sie hatten es ebenso geschafft, dass die Wunde komplikationslos abheilte.
Das war eigentlich gar nicht zu erwarten gewesen. Denn bei unserer weiteren Untersuchung erkannten wir auf Röntgen- und CT-Aufnahmen Verkalkungen nicht nur der Aorta, von der ein rund zwölf Zentimeter langes Segment über der Brustwirbelsäule erhalten ist, sondern auch der kleinen Arterien im behandelten Fuß. Vermutlich hatte Arteriosklerose die Durchblutung der großen Zehe dermaßen gestört, dass sie nekrotisch wurde und entfernt werden musste, um das Leben der Patientin zu retten. Ein hohes Risiko bestand insofern, als eine Arteriosklerose meistens die Wundheilung stört. Der erfolgreiche Eingriff und die geschickte Anpassung der Prothese zeigen, wie umsichtig der behandelnde Arzt die Operation geplant und ausgeführt hat.
Weihrauch gegen die Schmerzen
Nicht anders als heute dürften auch Kieferchirurgen in Altägypten Arbeit gefunden haben. Das Gebiss der Völker des Altertums litt durch mineralische Körnchen im Mehl – Abrieb der steinernen Getreidemühlen. Hinzu kamen in Ägypten Staub und feiner Sand, den der Westwind aus der Libyschen oder der Ostwind aus der Arabischen Wüste in den schmalen bewohnbaren Landstreifen am Nil wehte. Die harten Partikel schliffen Zahnschmelz und Zahnbein oft so stark ab, dass schließlich der Wurzelkanal offen lag, in den dann Bakterien eindringen konnten. Auch Pharaonen und hohe Würdenträger litten an schmerzhaften Wurzelabszessen und anderen Problemen mit dem Kauapparat, wie die erste dentalmedizinische Röntgenuntersuchung der Mumien im Ägyptischen Museum von Kairo Ende der 1960er Jahre ergab. Über die zahnärztliche Versorgung in der frühen Hochkultur ist denn auch ausgiebig diskutiert worden, ohne dass bislang eine klare Meinung obsiegte.
Wir selbst haben keinen Beleg für einen kieferchirurgischen Eingriff gefunden, doch sei nicht unerwähnt, dass an einem Unterkiefer aus Sakkara aus der Zeit des Neuen Reiches (1554 oder 1551 -1080 vor Christus) zwei parallele, scharf begrenzte Löcher über einem Wurzelabszess gefunden wurden, die aussehen, als seien sie absichtlich gebohrt worden. Skeptiker glauben indes, es handele sich um einen spontan gebildeten, lediglich ungewöhnlichen Defekt. Denn die ausführliche Analyse von mittlerweile Tausenden von Mumienschädeln mit zahllosen Wurzelabszessen ergab keinen weiteren derartigen Befund.
Die bis heute stärksten – allerdings auch umstrittenen – Indizien für zahnchirurgische Maßnahmen sind recht alt. Ebenfalls bei einer Mumie aus Sakkara entdeckte der österreichische Forscher Hermann Junker 1914 zwei mit Golddraht befestigte Backenzähne. Ein ganz ähnlicher Fund von Shafik Farid im Jahre 1952 erhärtete schließlich die Meinung, altägyptische Zahnärzte hätten auf diese Weise Lücken im Gebiss durch Prothesen überbrückt. Dagegen wurde eingewandt, dass die fremden Zähne keinerlei Abnutzungsspuren aufweisen, also möglicherweise erst nach dem Tode eingefügt wurden, um den Leichnam wieder zu vervollständigen.
Das Operieren selbst ist nur eine Seite chirurgischer Kunst. Hinzu kommen Verfahren, die Schmerzen des Eingriffs selbst lindern und die Heilung fördern. Bis vor rund 150 Jahren erfolgten schwere Operationen wie Amputationen oder das Entfernen von Blasensteinen ohne Betäubung und zumeist ohne wesentliche Schmerzbehandlung; den guten Chirurgen zeichneten dementsprechend vor allem Geschicklichkeit und Geschwindigkeit aus. Doch manches Opfer starb auf Grund der Kreislaufkomplikationen, die wiederum als Folge unerträglicher Pein auftraten.
Altägyptische Ärzte hatten schon sehr früh die schmerzmildernde Wirkung von bestimmten Pflanzen und pflanzlichen Inhaltsstoffe entdeckt. Besonders scheint sich Weihrauch bewährt zu haben, der – wie Haschisch – erhebliche Mengen von Tetrahydrocannabinol enthält; sein euphorisierender Effekt hilft auch bei der Verarbeitung von Schmerz. Bereits im dritten vorchristlichen Jahrtausend holten Handelsschiffe große Mengen des im Tempelkult gebrauchten Harzes aus dem Lande Punt, einer in vielen Inschriften erwähnten Region, wahrscheinlich am südlichen Roten Meer hinter der Küste des heutigen Eritrea gelegen. Die Königin Hatschepsut (Regierungszeit 1490-1468 vor Christus) und König Ramses III. (1193-1162 vor Christus) importierten sogar Weihrauchsträucher, aber der Anbau misslang.
Die Anwendung des Harzes ist zum einen aus der Beschreibung von Räucherszenen bei zahlreichen Krankheiten bekannt, zum anderen durch biochemische Untersuchungen von Mumien in jüngster Zeit belegt, wie auch wir sie angestellt haben. So fanden wir Tetrahydrocannabinol in der Lunge einer Mumie – es muss zu Lebzeiten eingeatmet worden sein. Unklar ist hingegen, ob weitere Schmerzmittel wie Morphin eingesetzt wurden, obgleich Mohnpflanzen und ihre Früchte als Grabbeigaben zu Tage kamen. Jedenfalls scheint es durchaus plausibel, dass die antiken Ärzte psychoaktive Substanzen kannten, die Schmerzen zu lindern vermögen und somit chirurgische Eingriffe erleichtert hätten.
Über die Wundbehandlung berichtet der erwähnte Papyrus Smith. Außer dem achsengerechten Einrichten von Brüchen sind darin verschiedene Verbände angeführt; die Bruchfixierung mit hölzernen Schienen wurde bereits erwähnt. Rohes Fleisch diente als anfängliche Wundauflage. Eine häufige und wichtige Komponente von Wundsalben war Honig, dessen adhäsive, reinigende und leicht antibiotische Wirkung sehr nutzbringend gewesen sein dürfte. Beispielsweise heißt es unter Fall 27 in diesem Papyrus: "Wenn du einen Mann mit einer Klaffwunde an seinem Kinn untersuchst, die bis zum Knochen reicht, dann sollst du seine Wunde abtasten. Wenn du seinen Knochen heil findest, dann sollst du sagen: Einer mit einer Klaffwunde an seinem Kinn, die bis zum Knochen reicht, hat eine Krankheit, die ich behandeln werde. Dann sollst du ihm zwei Binden auf jene Klaffen legen; du sollst ihn verbinden mit frischem Fleisch am ersten Tage, danach behandle sie mit Fett, Honig, Fasern an jedem Tage, sodass es ihm besser geht." Mit solchen Verfahren und Mitteln ist auch ein Abheilen von Operationswunden zu erreichen, wie insbesondere die von uns entdeckten Fälle von Amputationen zeigen.
Unseres Erachtens waren die altägyptischen Ärzte also sehr wohl zu erfolgreichen chirurgischen Eingriffen im Stande. Wenn es bisher nur wenige sichere Belege dafür gibt, mag das mit daran liegen, dass man Mumien und andere menschliche Relikte früher nicht sorgfältig genug paläopathologisch untersucht hat. Das ist allerdings auch wegen des unzureichenden Erhalts weicher Körperstrukturen schwierig, denn die zum Einbalsamieren verwendeten Substanzen haben die Haut und andere Gewebe erheblich verändert. Zudem dürften Wunden vielfach so gut verheilt sein, dass lediglich feine Narben zurückblieben, die – wie bei den beiden beschriebenen Amputationsstümpfen – nur sehr schwer zu erkennen sind.
Literaturhinweise
Ägypten zur Pharaonenzeit. Alltag und gesellschaftliches Leben. Von Eugen Strouhal. Wasmuth Verlag, Tübingen, Berlin, 1994.
Erwachen der Heilkunst. Die Medizin im Alten Ägypten. Von W. Westendorf. Artemis und Winkler, Zürich 1992.
Ancient Egyptian prosthesis of the big toe. Von A. G. Nerlich et al. In: Lancet, Band 356, S. 2176, 2000.
Ancient Egyptian medicine. Von J. F. Nunn. In: British Museum Press, S. 163, London 1996.
Medizinische Papyri
Aus den rund drei Jahrtausenden vor Christus von der Reichseinigung Ägyptens und der Entwicklung der Hieroglyphen bis zur Herrschaft Octavians, des späteren römischen Kaisers Augustus, sind nur etwa ein Dutzend Dokumente medizinischen Inhalts bekannt. Zusätzlich nehmen zahlreiche kleinere Zaubertexte mehr oder weniger deutlich Bezug auf Krankheiten. Die ärztlichen Werke wurden in Alltagssprache verfasst und in der Hieratisch genannten kursiven Gebrauchsschrift geschrieben. Wichtige Stellen wie Überschriften, Drogenquanten und die Gliederung der Diagnosen hat man mit roter Tinte hervorgehoben.
Das bedeutendste Fachbuch, hauptsächlich der Wundbehandlung gewidmet, ist der Papyrus Smith. Benannt ist es nach dem amerikanischen Abenteurer und Antiquitätenhändler Edwin Smith, der es 1862 von Mustafa Agha, dem britischen Konsul in Luxor, erwarb. Es umfasst 377 Zeilen auf der Vorder- und 92 Zeilen auf der Rückseite; entstanden ist es um 1700 vor Christus, basiert aber großenteils auf rund 900 Jahre älteren Texten. James Henry Breasted, Direktor des Orientalischen Instituts der Universität Chicago, publizierte 1930 ein Faksimile mit Umschrift, Einleitung, englischer Übersetzung und Kommentar sowie medizinischen Anmerkungen von Arno B. Luckhardt. Der Papyrus wird von der New Yorker Akademie der Wissenschaften aufbewahrt.
Die mit mehr als 20 Metern Länge umfangreichste medizinische Sammelhandschrift ist der Papyrus Ebers (unten), der ebenfalls 1862 in den Besitz von Smith kam. Der Ägyptologe Georg Ebers erwarb das Dokument 1872 für die Leipziger Universitätsbibliothek und publizierte drei Jahre später ein Faksimile mit einer Einleitung sowie einem englischen und einem lateinischen Vokabular. Darin sind in ziemlich willkürlich anmutender Anordnung Krankheiten und Verletzungen verschiedener Körperregionen, Diagnosen, Prognosen und Heilmittel – auch von Göttern verwandte – aufgeführt. Einer Notiz auf der Rückseite zufolge wurde der Papyrus in der Regierungszeit des Pharaos Amenophis I. geschrieben, mithin im späten 16. Jahrhundert vor Christus; auch in diesem Falle scheinen aber zumindest Teile des Inhalts sehr viel früher entstanden zu sein.
Der Papyrus Kahun enthält 34 Paragrafen über Empfängnis, Kontrazeption, Schwangerschaft, Geburt und gynäkologische Probleme. Das Werk aus der Zeit um 1810 vor Christus wurde 1889 von dem englischen Archäologen Flinders Petrie im Oasengebiet Fayum gefunden; es liegt nun im Londoner University College.
Weitere medizinische Fachbücher sind der Papyrus Ramesseum V mit Rezepten gegen Versteifungen und Verkrümmungen und der Papyrus Beatty VI, der Einläufe gegen Erkrankungen des Leibes beschreibt. Andere Dokumente behandeln etwa die Bisse von Schlangen, Schwangerschaftstests und Geburtsprognosen, enthalten aber auch vie-le kosmetische Rezepte, etwa für Mittel gegen Ergrauen, Falten und Mundgeruch oder für die Haarentfernung. Sogar ein veterinärmedizinischer Text ist erhalten.
Die Heilkunde in der Pharaonenzeit
Die Medizin war ein weit entwickel-ter Zweig der ägyptischen Hochkultur. Viele Facetten der Behandlung von Kranken und Verletzten blieben jedoch bislang trotz intensiver Forschung im Dunkeln. Erschwert wird unser Verständnis vor allem durch eine uns fremde Denkweise der altägyptischen Ärzte. Einerseits verwandten sie eine Fülle von Heilpflanzen; in schriftlichen Quellen sind mehr als 700 Arzneien verzeichnet, deren Wirkstoffe erst zu einem geringen Teil identifiziert wurden. Andererseits hatten sie kaum Kenntnisse von der Anatomie und den Funktionen des menschlichen Körpers, obgleich Leichen zu Tausenden systematisch für die Mumifizierung geöffnet und die inneren Organe entnommen wurden. So galt das Herz als Sitz des Denkens und Fühlens und als Zentrum eines Gefäßsystems, das alle Körperteile mit Blut, Wasser und Luft versorgt sowie auch Tränen, Urin und Sperma transportiert; es wurde beim Mumifizieren selten entnommen. Charakteristisch war eine Verquickung von empirisch bewährten, teils geradezu naturwissenschaftlich sachgerechten mit mythisch-religiösen Handlungsweisen wie Traumdeutungen sowie der Anwendung von Zaubersprüchen, Amuletten und vielen Substanzen wie Kontrazeptionspillen aus Krokodilkot. Als Ursachen von Leiden, die wir als Infektion mit pathogenen Keimen kennen, wurden damals "übel gesinnte Männer und Frauen" angesehen, "lebende oder gar tote", wie es im Papyrus Smith heißt. "Fließ aus, du Schnupfen ..., der du die Knochen zerbrichst, den Schädel einreißt und im Gehirn herumhackst und die sieben Öffnungen des Kopfes krank machst", lautet eine Beschwörungsformel im Papyrus Ebers. Indes scheinen die magischen Praktiken erst im Neuen Reich, also ab etwa 1550 vor Christus, überhand genommen zu haben.
Allerdings sind in etlichen Papyri auch viele Diagnose- und Therapieverfahren aufgeführt, die neuzeitlichem Wissensstand entsprechen, so Rizinusöl als Abführmittel, Räuchern mit Weihrauch zur Schmerzlinderung oder die Wurzel des Granatapfelbaumes gegen parasitäre Würmer. Solche pflanzlichen Wirkstoffe werden noch immer angewandt. Sinnvollerweise wurde bei Nachtblindheit, die auf Mangel an Vitamin A beruhen kann, tierische Leber verordnet, bei Kopfweh ein feuchter Umschlag, bei Husten Milch und Honig, bei Verstopfung ein Klistier, bei einer Verrenkung eine Bandage und tägliche Massage. Herodot war über das allgemeine Reinlichkeitsbedürfnis erstaunt; ihm zufolge haben zumindest die Priester zweimal tags und zweimal nachts gebadet und sich jeden dritten Tag nicht nur den Kopf, sondern auch den Körper rasiert, "damit sich weder eine Laus noch irgendein anderes Ungeziefer an ihnen festsetze".
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2002, Seite 76
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