Das Geheimnis von Nabada
Jahrzehntelang behandelten Orientalisten die Ruinenhügel in Nordsyrien als zweitrangig gegenüber den Stätten im Irak. Die Ausgrabung von Tell Beydar lieferte eine Überraschung: Im Norden Mesopotamiens existierte vor mehr als 4500 Jahren die Metropole Nabada, mit hochentwickelter Verwaltung und repräsentativer Kultur.
Mesopotamien, fruchtbares Land zwischen Euphrat und Tigris. Land der Sumerer, Babylonier, Assyrer und vieler anderer Völker, die Menschheitsgeschichte geschrieben haben. Land der frühen Hochkulturen, der Keilschrift, des Alten Testaments, dem Alten Ägypten mehr als ebenbürtig. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts suchen Archäologen die Geschichte des Alten Orients systematisch zu entschlüsseln und die Wurzeln der biblischen Erzählungen aufzuspüren. Und sie gruben vor allem im heutigen Irak die Ruinen einstiger Stadtstaaten aus dem Sand – Assur, Babylon, Ur, Uruk.
Mauerreste, Schrifttafeln und andere Artefakte legen Zeugnis ab von einer wechselvollen Geschichte, die vor mehr als 5000 Jahren begann. Dort, wo einst Hochwasser und ausgeklügelte Kanalsysteme die Felder bewässerten, dort, wo reiche Ernten Handel mit fernen Völkern ermöglichten, dort allein – dies war die Überzeugung – lagen einst die Zentren der Macht und die Ursprünge der Zivilisation.
Wenig Beachtung bei den Archäologen fanden bislang die Steppen des heutigen Nordsyriens. Doch der Krieg zwischen Irak und Iran ab 1980 verschloß den Zugang zu den südlicheren Hochkulturen und erzwang ein Umdenken. Um Licht in das Dunkel der Geschichte zu bringen, gräbt seit 1992 unser europäisch-syrisches Forschungsteam unter der Gesamtleitung des belgischen Archäologen Marc Lebeau sowie Antoine Suleimans vom staatlichen syrischen Antikendienst am Tell Beydar, etwa 35 Kilometer nordwestlich der Provinzhauptstadt Al Hasake.
Die Sonne diktiert den Rhythmus des 14stündigen Arbeitstages: Mit ihrem Aufgang um 5 Uhr, nach einem kurzen Frühstück, beginnt die harte Arbeit. Es erinnert an die romantischen Erzählungen früherer Archäologen, wenn etwa hundert einheimische Helfer aus dem Dorf Tell Beydar und Nachbarorten in der landestypischen Tracht den Hügel hinanziehen. Doch dieser Eindruck schwindet rasch in der brennenden Sonne, und um 13 Uhr treibt die Glut die Menschen in den Schatten. Dort beginnt nun das Aufbereiten, Dokumentieren und Analysieren der Funde. Was mit Hacke, Spaten, Spachtel und Zahnbürste in oft wochenlanger Arbeit aus einem mittels Eisenpflöcken und Nylonschnur exakt abgesteckten Feld der Erde entrissen wurde, beeindruckt, enttäuscht oder ist einfach "nur" ein Puzzlestein im großen Rätsel vergangener Zeiten.
Abends, gegen 18 Uhr, geht die Sonne dort schnell unter. Einige Schreibtischarbeiten lassen sich bei elektrischem Licht oder Kerzenschein fortführen. Manchmal aber findet sich auch Zeit, bei Sonnenuntergang die ruhige Stimmung an den Grabungsstätten zu genießen.
Die Belastung für das Team ist äußerst hart. Da die Grabung nur teilweise aus Forschungsmitteln, teilweise durch private Spenden eines Fördervereins finanziert wird, arbeiten wir alle – Wissenschaftler und Studenten – weitgehend ehrenamtlich. Somit geben die Semesterferien die Zeit des Aufenthaltes vor: Von Ende August bis Ende Oktober sind wir jeweils vor Ort. Und das bedeutet: grelle Sonne, Sandstürme, Skorpione. Mein Kollege, Volker Tschannerl, beschrieb Mühsal und Lohn einmal so:
"Die Hitze des Tages heizt die Wohnräume auf. Wir stellen unsere Aluminiumbetten ins Freie, breiten unsere Schlafsäcke darauf aus. Noch glauben wir an unsere Moskitonetze, die sorgfältigst aufgespannt werden. Wir werden ernüchtert: Es gibt hier keine gewöhnlichen Stechfliegen, dafür noch kleinere, nahezu unsichtbare, fliegende Tierchen, die in der Dunkelheit durch jedes Maschennetz schlüpfen. Wir alle verbringen kurze, unruhige Nächte, und werden dafür entschädigt: Ein roter Ball versinkt jeden Abend am Scheitelpunkt einer unendlich weiten Scheibe, Lehm wird zu Sand, Sand zu Lehm. Schatten werden überdeutlich, Farben vergehen. Ein weiter, schwarzer Mantel ist über uns gehängt, bis ein dahinterliegendes Licht sich unzählige Löcher sucht. Das Firmament leuchtet, ein großer Lichtteppich blinzelt uns tausendfach zu."
Plagen auf der einen Seite, große persönliche Momente auf der anderen. Und manchmal auch eine zermürbende Zeit des Suchens im Boden nach Artefakten, dann wieder überraschende Entdeckungen. Heute können wir sagen: Entbehrung und Mühen haben sich gelohnt. Ganz offensichtlich war die bisherige Sicht von der Vorrangstellung des südlichen Mesopotamiens einseitig: Was unter dem fast 30 Meter hohen Hügel von Tell Beydar noch größtenteils verborgen liegt, entpuppt sich als gewaltige Anlage von den Ausmaßen des alten Trojas. Dieser Vergleich scheint nicht zu weit hergeholt: Beide Städte erlebten in der frühen Bronzezeit Aufstieg und erste Blüte, beide waren wirtschaftlich und kulturell von großer Bedeutung. Nach acht Jahren intensiver Forschung sind wir sicher, daß Städte wie die unter dem Tell Beydar den Fernhandel der Stadtstaaten Südmesopotamiens mit den Wirtschaftszentren des Nordens erst ermöglichten.
Wir sind freilich nicht die ersten, die hier dem Geheimnis des kaum beachteten Nordmesopotamiens auf der Spur sind. Der bedeutende Archäologe Max Freiherr von Oppenheim erkundete zu Beginn unseres Jahrhunderts als einer der ersten das damals fast menschenleere Nordsyrien. In der Antike war dieser Lebensraum offensichtlich dicht besiedelt. Denn noch heute erheben sich dort etwa dreihundert Hügel (Tells) über die flache Landschaft, unter denen die Reste einstiger Siedlungen liegen. An einem solchen Hügel, dem Tell Halaf bei Ras el-Ain im Quellgebiet des Habur, unternahm von Oppenheim Ausgrabungen in großem Umfang. Er stieß dort unter anderem auf bemerkenswerte Keramiken, die seitdem als Kennzeichen einer ganzen Periode der Entwicklung in Mesopotamien genutzt werden – der Halaf-Zeit im 5. Jahrtausend vor Christus. Zudem vermaß von Oppenheim einige auffallend kreisförmige Tells, die er aufgrund ihrer kranzartigen Umwallungen als "Kranzhügel" bezeichnete.
Er war nicht der einzige Besucher Nordsyriens. "Überall erheben sich Hügel", notierte etwa die Krimi-Autorin Agatha Christie (1890 bis 1976), "ich komme beim Zählen auf ungefähr sechzig – sechzig alte Siedlungen heißt das. Heute ziehen nur Nomaden mit ihren braunen Zelten vorüber, aber früher, vor gut 5000 Jahren, herrschte hier ein reges Leben. Hier begann Kultur." Während in Europa der Zweite Weltkrieg heraufzog, grub Agatha Christies zweiter Gatte, der Archäologe Sir Max Edgar Mallowan (1904 bis 1978), im Haburgebiet am Tell Brak und Tell Chagar Bazar. Die Berührung mit dem Alten Orient blieb nicht ohne Folgen für die Belletristik: 1937 veröffentlichte Agatha Christie ihren Bestseller "Tod auf dem Nil".
Erst 1958 begann eine kleine Forschungsgruppe der Freien Universität Berlin unter Leitung von Anton Moortgat und nach seinem Tod unter der seiner Frau Ursula Moortgat-Correns systematische Ausgrabungen an einem der Kranzhügel. Es war der schon durch von Oppenheim 1913 beschriebene Tell Chuera zwischen Habur und Balich (ebenfalls ein Nebenfluß des Euphrat), fast einen Kilometer im Durchmesser und 18 Meter hoch.
Diese später von Winfried Orthmann, heute an der Universität Halle, und Jan Waalke-Meyer, von der Universität Frankfurt, weitergeführte Grabung enthüllte eine Stadtanlage mit monumentalen Kultbauten aus der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends. Wie in den Metropolen Südmesopotamiens hatten die Erbauer ihre Stadt aus luftgetrockneten Lehmziegeln errichtet. Doch anders als im Süden gründeten monumentale Kultbauten auf mächtigen Steinblöcken und -terrassen. Wer sie waren, woher sie kamen und wie sie lebten, ließ sich noch nicht umfassend klären, denn es fehlen Schriftfunde aus dieser frühen Phase der Stadt. Die Kultur "Chueras" unterschied sich aber vermutlich, so weit Architektur und Bildfunde belegen, von der der sumerischen Stadtstaaten im Süden.
Der Tell Chuera ist nur eine von rund einem Dutzend größerer und zahlreicher kleiner, umkränzter Ruinenstädte am Oberlauf des Haburs. Es ist zu vermuten, daß diese Siedlungen eine kulturelle und vielleicht sogar eine politische Einheit bildeten – die sogenannte Kranzhügelkultur.
Heute wissen wir, daß zu Beginn des 3. Jahrtausends vor Christus ein weitreichender Prozeß in Gang kam, politische und wirtschaftliche Kräfte in großen Stadtzentren zu bündeln: So entstanden im Süden Mesopotamiens, dem heutigen Irak, Stadtstaaten wie Kisch, Lagasch, Umma, Ur und Uruk, im heute syrischen Norden die Siedlungen von Chuera, Ebla, Mari, Nabada und Tuttul. In jene Zeit datieren zudem beispielsweise die alten Fundschichten I und II von Troja an der nordwestlichen Spitze Kleinasiens sowie das phönikische Byblos an der Küste des heutigen Libanon. Auch aus Ägypten gibt es mittlerweile Funde solcher Urbanisierung in jener Zeit des Umbruchs, beispielsweise aus Elephantine (auf einer Nilinsel beim ersten Nilkatarakt).
Trutzmauern, Paläste, Verwaltungsbauten und Tempelanlagen dominierten jeweils das Stadtbild. Für Südmesopotamien kennen wir die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe recht gut, doch hatte diese Entwicklung im Norden ähnliche Ursachen? Gelang es auch dort, die Produktion in der Landwirtschaft drastisch zu steigern, so daß eine gemeinschaftliche Vorratshaltung perfektioniert wurde? Erlaubte ein Überschuß an Nahrungsmitteln die Entwicklung spezialisierter Tätigkeiten wie Handwerk oder Verwaltung? Förderte der blühende Handel mit Rohstoffen wie Bronze zentralistische Behörden- und Machtstrukturen?
Wie im Süden kontrollierten die größeren Städte vermutlich weitreichende Gebiete mit lebenswichtigen Handelswegen. Wie im Süden regierten Herrscherfamilien und Ältestenräte, wurde lokalen wie auch überregionalen Gottheiten geopfert. Und wie im Süden verbanden vielfältige wirtschaftliche und religiöse Verflechtungen die Zentren der Macht. Die wachsende Zahl der Siedlungen förderte aber auch bewaffnete Auseinandersetzungen um Wasserrechte, Acker- und Weideland sowie um die Kontrolle der Handelswege.
Um 2400 vor Christus dominierte das am Euphrat gelegene Mari die Region, ein Bindeglied süd- und nordmesopotamischer Kultur. Als weiteres bedeutendes Zentrum ist das etwa 65 Kilometer südlich von Aleppo gelegene Ebla zu nennen; dort entdeckte in den siebziger Jahren ein italienisches Team unter der Leitung von Paolo Matthiae ein sehr umfangreiches Palastarchiv mit Keilschrifttafeln. Diese weisen auf rege Handelsverbindungen zu den damals bedeutenden Städten Nagar und Assur hin. Nagar wiederum lag an den Fernhandelsrouten zwischen den erzreichen Bergländern und Südmesopotamien mit seinem bedeutenden Zentrum Kisch.
Nagars Herrschaftsgebiet reichte damals auch bis zu jener Metropole, die heutzutage unter dem Tell Beydar begraben liegt. Ihren antiken Namen hat Walther Sallaberger von der Universität Leipzig erst kürzlich anhand dort gefundener Keilschrifttexte entschlüsselt: "Nabada" die "aufleuchtende, aufstrahlende" Stadt. "Nabada im Land von Nagar" erwähnte auch ein gewissenhafter Schreiber in Ebla; damals erhielt "der aus Nabada" wertvolles Silber.
Aber welche Bedeutung mögen die Kranzhügelstädte im Kulturraum des Haburgebietes gehabt haben? Was veranlaßte deren Erbauer, einen kreisförmigen Grundriß zu wählen? War es ein Reflex auf die Zelt- und Pferchformen ihrer nomadisch lebenden Vorfahren? Die Ausgrabung am Tell Beydar soll helfen, auch solche Fragen zu beantworten.
Drei Phasen der Besiedlung lassen sich grob unterscheiden: die erste von der Gründung bis zum Untergang Nabadas (2800 bis 2350 vor Christus), die zweite mit der Neugründung einer Stadt durch die Hurriter (um 1400 vor Christus, Mitanni-Zeit genannt) sowie, drittens, eine Besiedlung durch die Assyrer (im 8. und 7. Jahrhundert vor Christus). Der Schwerpunkt der Forschung liegt bislang auf der ersten Phase.
Nach einem festgelegten Muster hatten die Erbauer eine kreisrunde Anlage mit einem Durchmesser von 600 Metern angelegt. Eine bis zu fünf Meter starke Stadtmauer schützte einst die Siedlung; heute liegt diese unter einem Erdwall verborgen. An ihrer Innenseite klebten kleine Wohnhäuser und Werkstätten, nicht anders, als es in den mittelalterlichen Städten Europas üblich war.
Gräber unter den Wohnhäusern und in der Wallanschüttung – auf der die Mauer einst errichtet worden war – geben uns einige Hinweise auf die religiösen Vorstellungen der Stadtgründer. Ein Schacht führte jeweils zur eigentlichen Grabkammer, die mit Ziegeln ausgemauert und abgedeckt war. Den in Seitenlage und mit angezogenen Beinen gebetteten Toten rüsteten reiche Beigaben wie Waffen, Schmuck und Keramikgefäße für ein Leben im Jenseits. Welche Vorstellungen die damaligen Bewohner mit dem Reich der Toten verbanden, entzieht sich noch weitgehend unserem Wissen, doch spätere babylonische Quellen beschreiben das Grab als Eingang zur Unterwelt, zu einem Ort der Verdammnis, von dem es keine Wiederkehr gibt. Speise- und Trankopfer der Angehörigen versorgten den Geist des Toten in dieser düsteren und staubigen Region – blieb der Nachschub aus, bestrafte er seine Nachfahren mit Krankheit und Tod.
Mindestens vier Tore in der Stadtmauer gewährten Zugang; heute erkennt man sie noch an Mulden im Ringwall. Einstmals dürfte dort ein reges Treiben geherrscht haben. Karawanen zogen hindurch, die Waren vom nördlichen Anatolien und den südlichen Nachbarn brachten. Ein zweiter, innerer Ring schützte den Kern der Siedlung. Die Händler werden wohl zwischen beiden Mauern die Nacht verbracht haben; damit immerhin sicher vor räuberischen Banden und widerum selbst keine Gefahr für die schlafenden Stadtbewohner.
Sternförmig führten Straßen auf eine zentrale Erhebung, die spätestens seit 2500 vor Christus von einem Palast dominiert wurde. Zwischen ihm und der inneren Stadtmauer lagen Wohnviertel; Abwasserleitungen führten von Häusern und Höfen in ein zentrales Kanalisationssystem unter den Straßen und Gassen.
Als äußerst aufschlußreich erwies sich ein 27 Meter langes Gebäude im östlichen Stadtbezirk. Alles deutet darauf hin, daß es als zentraler Speicher gedient hatte (siehe Titelbild). Vier hintereinander liegende Räume nahmen sehr wahrscheinlich Getreide oder zum Beispiel Schafwolle auf; die Mauern sind noch bis in eine Höhe von drei Metern erhalten. Türdurchgänge, einst von Mauerbögen überwölbt, verbanden die Räume. Das Besondere: Ein wahrscheinlich hölzerner Lagerboden ruhte auf Mauersockeln, das Speichergut wurde somit belüftet und blieb trocken. Derartige Speichergroßbauten legen komplexe Wirtschaftsprozesse nahe. War eine Vorratshaltung erforderlich, um Überschüsse in der Landwirtschaft aufzunehmen? – Oder war sie notwendig, um eine wichtige Dienstleistung anzubieten: wie etwa die Versorgung der Handelskarawanen mit Tierfutter und Nahrung? Alles spricht dafür, daß hier, im Schnittpunkt der uralten Karawanenstraßen, die Anatolien und Babylonien, Ägypten und Mesopotamien verbanden, Nabada und die anderen Kranzhügelstädte den Händlern Zwischenstation boten.
Erst ein Bruchteil der Stadt ist der Vergessenheit entrissen worden, die Überreste der eigentlichen Stadtgründung liegen noch unter meterhohem Schutt verborgen. Vom Glanz Nabadas berichten uns die späteren Siedlungsschichten aus der Mitte des 3. Jahrtausends vor Christus. Besonders gut erforscht ist der große Palast jener Zeit, der sich auf der zentralen, 20 Meter hohen Akropolis über der Stadt wie eine Burganlage erhob. Insgesamt nahm das Gebäude wohl eine Fläche von 50 mal 60 Quadratmetern ein und umfaßte 40 bis 50 Räume. Seine bis zu vier Meter hohen Lehmziegelmauern weisen noch heute vollständig erhaltene Türdurchgänge auf, die häufig von einem gemauerten Gewölbe überspannt sind. Sie führen zu einer Vielzahl von teilweise schon ausgegrabenen Räumen, an deren Wänden sich weißer Kalkverputz bestens erhalten hat. Der funktionelle Aufbau des Komplexes spiegelt die vielschichtigen Strukturen des damaligen Gemeinwesens. Von einem großen, innenliegenden Hofareal im Zentrum der Akropolis aus waren die verschiedenen Bereiche des Palastes rasch zugänglich. Bänder geschmückt mit tönernen Rosetten waren in die Wände eingelassen. Treppenanlagen führten zu einer weiteren, höher gelegenen Palastebene im Westen, auf der die repräsentativen Räumlichkeiten wie Thron- und Festsäle angelegt waren. Kleinere Räume mit bis zu 20 Metern in die Tiefe reichenden Abflußsystemen – wahrscheinlich Kulträume für rituelle Waschungen – waren daran angeschlossen. Vom großen Hof erreichte man einen kleineren im Südosten. Von dort aus führte eine Treppenanlage in erhöhte Palastbereiche, die vermutlich den Wohntrakt des Herrschers aufnahmen. Magazintrakte umgaben den gesamten Palast, in denen uns noch unbekannte Güter aufbewahrt wurden.
Im Süden der Akropolis dominiert der Kultbezirk des Palastes: Kultische Handlungen gehörten im Alten Orient zum Herrscheralltag. Aufwendig dekorierte Wandnischen und Opferstätten schmückten einstmals die Innenräume des Heiligtums. Die Herrschergrüfte dürften – altsyrischem Brauchtum folgend – unter seinen Fußböden zu finden sein (eine ähnliche Anlage wurde kürzlich im Palast von Tuttul entdeckt). Von den Kulträumen bis zu 20 Meter in die Tiefe des Hügels führende Tonröhren dienten vermutlich der Versorgung des in der Unterwelt verweilenden Totengeistes mit Speise- und Trankopfern.
Eine wirkliche Sensation für uns war aber der Fund von Keilschrifttafeln mit der minutiös geführten Buchhaltung des Palasthaushaltes; seit 1993 konnten wir mehr als 150 solcher Texttafeln bergen. Ein großer Teil davon fand sich im Fußboden eines nahegelegenen Wohnhauses – ob sie als tönerne Vorläufer des Altpapiers recycelt wurden? Diese schriftlichen Zeugnisse, um 2400 vor Christus entstanden, sind ein Schlüssel zum Verständnis der noch kaum erforschten Kultur im Norden des Zweistromlandes.
Tönerne Keilschrifttafeln aus dem Vorderen Orient stellen die frühesten erhaltenen Schriftdokumente überhaupt dar; denn die Erfindung der Schrift geht auf die Sumerer im Euphrat-Delta um 3000 vor Christus zurück (siehe Kasten Seite 50). Zunächst dienten diese Tafeln vermutlich dazu, administrative Vorgänge im Handelsverkehr und in den Tempel- und Palastverwaltungen aufzuzeichnen; erst mehrere hundert Jahre später ritzten die Schreiber auch Briefe, Gesetze, mythologische und religiöse Texte in den Ton.
Die Schrifttafeln – genauer die Tontafeln – von Tell Beydar datieren auf die Zeit um 2400 vor Christus. Zwar sind die Schriftzeichen sumerischer Herkunft, doch die verwendete Sprache ist altsemitisch. Die semitischen Völker wanderten, so vermuten es Altphilologen, gegen Ende des 4. Jahrtausends vor Christus in das Zweistromland ein, vermischten sich mit den Sumerern und dominierten schließlich die mesopotamische Hochkultur. Archive jener Zeit fand man bereits in den semitischen Königsstädten Ebla und Mari, doch in Tell Beydar sind wir auf den bislang größten Schatz altsemitischer Schriftdokumente im Haburgebiet gestoßen.
Ein größerer Teil konnte bereits entziffert werden. Die Beydar-Texte berichten unter anderem von den im Umland liegenden Siedlungen, die unter Nabadas Verwaltung standen. Eine andere Textgruppe beschäftigt sich mit der Versorgung Reisender; die Rationen für Mensch und Tier sind genauestens notiert. Bedeutungsvoll ist die Nennung des Herrschers von Nagar, dessen Einfluß um 2350 vor Christus bis nach Nabada reichte. Zu verschiedenen Anlässen, die Ratsversammlungen und kultische Feierlichkeiten einschlossen, besuchte dieser König der Nachbarmetropole die "Provinz". So verzeichnet ein Text die Versorgung seiner elf Gespanne für vier Tage mit 44 Onagern, einer heute noch unter anderm im Nordiran lebenden Halbeselart. Die Versorgung der wertvollen Zugtiere kostete die Stadt erhebliche Mengen an Getreide.
Die Akribie der Buchhalter macht heute den Alten Orient wieder lebendig. Meine Kollegin Annemarie Dietrich, jetzt an der Universität Zürich, stellt sich folgende Szenerie vor: Der Herrscher von Nagar zog einst durch eines der Tore der äußeren Stadtmauer nach Nabada ein. Sein Troß aus elf Gespannen folgte. Staubig und erhitzt passierte die Karawane die innere Mauer und zog zur Akropolis hinauf. Der Herrscher stieg ab und betrat den Palast, schritt an den Wirtschaftsräumen vorbei, in denen tönerne Vorratsgefäße Nahrung für sein Gefolge bereithielten. Der Fürst erreichte den Herrschertrakt. Dessen dicke Mauern und der weiß verputzte Boden spendeten Kühle. Er war nicht der erste, der sich zur Ratsversammlung eingefunden hatte: Ein Minister der Königin von Mari wartete bereits im Säulenhof.
Daß die Verflechtungen Nabadas so weit reichten, dokumentiert ein erst vor kurzem im Palast gefundener Keilschrift-Text. Darin taucht eine Person namens Paba auf, die wohl mit der gleichnamigen Königin von Mari, der Gemahlin des Königs Iblu-lils, gleichzusetzen ist. Der Text benennt wahrscheinlich auch die "Tochter des Königs" von Mari. Aus anderen Tafeln ist nach jüngsten Untersuchungen von Sallaberger zu entnehmen, daß in der Region eine hochwertige Rasse von Onagern gezüchtet und über hunderte von Kilometern bis nach Ebla gehandelt wurde. Noch haben wir das eigentliche Palastarchiv nicht entdeckt – welche kulturhistorischen Schätze werden dort noch verborgen sein?
Zu den Erfindungen der Sumerer gehört auch das sogenannte Rollsiegel: Mit reliefverzierten Steinwalzen kennzeichneten hochrangige Personen tönerne Verschlußplomben. Davon fanden wir etliche an Gefäßen und Türen von Warenlagern, aber auch Zugänge zu Thronsaal und Tempeln waren auf diese Weise verschlossen – öffnete man sie nur zu bestimmten Anlässen? Wir wissen es nicht. Solche Funde beeindrucken oft durch ihre künstlerischen Darstellungen von Feierlichkeiten. Darin sind häufig Transport-, Reise- und Streitwagen zu sehen – Indiz für einen regen Verkehr auf den weitreichenden Handelswegen, Hinweis auch auf Kriege oder diplomatische Aktivität.
Trotz ihrer mächtigen Verteidigungsanlagen ging Nabada nach rund 500 Jahren der Blüte um 2350 vor Christus zugrunde. Was war der Anlaß? Es liegt nahe, an den aus Kisch stammenden Sargon von Akkad zu denken, der um diese Zeit die Territorialstaaten Mesopotamiens eroberte und sich zum ersten Herrscher der gesamten altorientalischen Welt emporschwang. Doch anders als in dem wahrscheinlich von ihm eroberten Ebla fehlen in Nabada Hinweise auf Brandverwüstungen innerhalb der Gebäude, die auf kriegerische Ereignisse hinweisen würden.
Warum also haben die Bewohner ihre Stadt Nabada aufgegeben? Einige bauliche Veränderungen innerhalb des Palastes erscheinen gerade vor dem Hintergrund dieser Frage merkwürdig: Um 2400 vor Christus wurde dem Palast noch ein neues Heiligtum angegliedert, Kulträume hat man in jener Zeit renoviert oder gänzlich neu gestaltet. Lösten naturbedingte Ereignisse wie beispielsweise ausbleibende Niederschläge diese verstärkte, offenbar religiös motivierte Bautätigkeit aus? Tiefe Risse im Mauerwerk des Palastes deuten auf Erdbeben hin. Nach einer Theorie von Hartmut Kühne von der Freien Universität Berlin haben starkes Bevölkerungswachstum in der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends vor Christus schließlich das Ende der Stadtkulturen herbeigeführt. Denn damit wurden die natürlichen Ressourcen der Region über Gebühr ausgebeutet. Auch der Einschlag eines größeren Meteors in Vorderasien wird diskutiert (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1999, Seite 30). Noch wissen wir auch auf diese Fragen keine Antwort.
Um 2350 vor Christus wurde die Stadt von ihren Bewohnern verlassen, wenige Jahrzehnte später kurz wiederbesiedelt. Doch ab etwa 2250 vor Christus fiel Nabada Raub, Verfall und Erosion anheim. Noch während die akkadischen Könige Nordmesopotamien kontrollierten, wanderten indoeuropäische Völker aus den ostanatolischen Bergen und Transkaukasien ein, darunter auch die Hurriter. Neue Königsstädte wie Urkisch wurden von ihnen gegründet; jüngste Ausgrabungen berichten von der noch kaum erforschten hurritischen Kultur. Um 1600 vor Christus entstand ein hurritisches Großreich im Haburgebiet – in der Folgezeit Mitanni genannt. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht, um 1400 vor Christus, erstreckte sich das Mitanni-Reich vom Mittelmeer bis zum Zagrosgebirge. Unter anderem siedelten die Hurriter an den Ruinen des damals längst vergessenen Nabada, rund tausend Jahre nach dem Untergang der frühbronzezeitlichen Metropole.
Auch in dieser mitannischen Unterstadt von Tell Beydar, westlich des Ringwalls gelegen, läuft die Grabungstätigkeit der Forscher erst an. Noch verfügen die Archäologen kaum über Hinterlassenschaften jener Kultur. Um so bedeutender schätzen wir unsere Funde in einem durchaus repräsentativen Wohnhaus: ein mit Widderköpfen geschmücktes Opfergefäß, Elfenbeinreliefs mit Darstellungen von Löwen und Rindern – einst vermutlich Zierde von Möbelstücken (Bilder links).
Doch auch das Reich der Mitanni verging. Bald eroberten die Assyrer das Haburgebiet. Als Gegner waren sie für ihre Unbarmherzigkeit gefürchtet: Sie sollen ganze Völker deportiert und Widersacher ohne Ansehen von Geschlecht oder Alter umgebracht haben. Von Assur aus, nordwestlich von Babylon gelegen, gewannen die Assyrer ab etwa 1100 vor Christus mehr und mehr an Einfluß und drangen kurzzeitig sogar bis nach Ägypten vor.
Im ausgehenden 8. sowie im 7. Jahrhundert vor Christus erreichten Assyrer ein zweites Mal das Haburgebiet und siedelten in der früheren mittanischen Unterstadt am Tell Beydar. Doch sie sollten dort nicht lange bleiben. Babylonier und Meder vereinten ihre Kräfte. "Alle, die von dir (deinem Untergang) hören, klatschen über dich in die Hände", schrieb der alttestamentarische Prophet Nahum, als Ninive, die letzte und großartigste Hauptstadt des mächtigen assyrischen Reiches, 612 vor Christus in Schutt und Asche gelegt wurde. Innerhalb weniger Jahre hatten diese Völker ganz Assyrien erobert und unter sich aufgeteilt. Wie Nahum es prophezeit hatte, verfiel Ninive zur Wüste und wurde "eine Zuflucht der wilden Tiere".
Mit ihrem Untergang endete auch die Geschichte Nabadas, einer Stadt im heutigen Nordostsyrien, deren Wurzeln weit in das 3. Jahrtausend vor Christus zurückreichen
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1999, Seite 43
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben