Das Gesetz der ersten Ziffer
Zerfledderte Logarithmentafeln, ein fauler Kirmestrick, Wechselkurse, der Zerfall von Atomkernen und die fraktale Geometrie der Natur – alles hängt über ein merkwürdiges Gesetz für die Verteilung der ersten Ziffer zusammen.
Der Rummelplatz war voller Lärm, aufblitzender Lichter und durcheinanderrennender Kinder. Ich war soeben der Achterbahn entstiegen und bereute bitterlich, daß ich vorher eine Currywurst mit Pommes frites verspeist hatte. Etwas benommen schlich ich abseits des Getöses zu den Buden, wo ein Wahrsager seine Weisheiten und ein Schreihals indische Seidentücher feilbot. Hier waren die Farben blasser, der Anstrich blätterte ab, alles sah etwas heruntergekommen aus, und es war kaum Kundschaft zu sehen.
Nur um einen Stand drängten sich etwa fünfzig Leute. Ich schob mich nach vorne, bis ich das schäbige, handgemalte Reklameschild lesen konnte: "Numbo, der numerische Schwarzkünstler".
Der Schausteller plapperte mit der üblichen Heiserkeit: "Die Bevölkerung der Hauptorte der Verwaltungsbezirke auf den Malediven? Aber sicher doch, Sie haben einen Sinn für das Ausgefallene, nicht wahr? Aber denken Sie an die Regeln! Wir sind hier nicht beim Pferderennen. Ich wette auf die Anfangsziffer 1 oder 2. Sie wetten auf alle anderen Anfangsziffern. Ich werfe mein Geld hier in einem Anfall von Freigiebigkeit zum Fenster hinaus, denn tief im Herzen bin ich ein glühender Menschenfreund. Für 10 Mark Einsatz biete ich Ihnen 15 Mark, wenn Sie gewinnen. Und das, obwohl meine Chancen nur eins zu fünf stehen!"
"Zwei zu neun," wandte eine junge Frau ein. "Die Anfangsziffer kann nie null sein."
"Sie haben recht, Verehrteste, ich muß mich korrigieren", sagte Numbo. "Aber Sie müssen zugeben, daß Ihre Chancen auch dann noch sehr gut stehen. Befragen wir das Orakel." Hinter ihm war ein riesiger Computerbildschirm aufgebaut. Der Schausteller mußte über eine Tastatur etwas eingetippt haben, denn auf dem Bildschirm erschienen die Worte: AUF DEN MALEDIVEN GIBT ES NEUNZEHN VERWALTUNGSBEZIRKE. Es folgte eine lange Liste der Namen, von 1. HAA-ALIFU bis 19. SEENU. Darunter stand: WÄHLEN SIE EINE ZAHL.
Der Spieler wählte die Fünf. Nach einigem Flimmern erschien auf dem Bildschirm: VERWALTUNGSBEZIRK 5: RAA, HAUPTSTADT: UGOOFAARU, BEVÖLKERUNG: 11303.
Numbo grinste. "Anfangsziffer 1, ich habe gewonnen! Danke für Ihr Spiel, mein Herr! Wer ist der nächste? Der große Herr dort mit dem Ring im Ohr? Nein? Wie wär's mit Ihnen, verehrte Dame?" Eine grell geschminkte Frau mit einem ausladenden blauen Hut wettete 10 Mark auf den jährlichen Energieverbrauch von Bangladesch in Kilowattstunden. Sie gewann, denn das Orakel zeigte 7,44 Milliarden an. Sie versuchte es erneut mit der entsprechenden Zahl für Italien und verlor, als 241 Milliarden angezeigt wurden.
Langsam verstand ich das Prinzip. Die Spieler wählten eine Zahl aus irgendeinem Datenvorrat, im wesentlichen per Zufall, denn wer hat schon den Energieverbrauch von Bangladesch im Kopf? Das einzige, worauf es ankam, war die erste Ziffer, die offensichtlich nicht 0 sein konnte. Wenn die Anfangsziffer 1 oder 2 war, steckte Numbo die 10 Mark Einsatz ein. Im anderen Fall erhielt der Spieler seine 10 Mark zurück und noch 5 Mark dazu. (Numbo hatte seine Bedingungen etwas irreführend formuliert.) Unter der Annahme, daß diese Ziffern alle gleich wahrscheinlich sind, hätte der Spieler ein Risiko von 2/9, 10 Mark zu verlieren, und eine Chance von 7/9, 5 Mark zu gewinnen. Das heißt, der erwartete Gewinn wäre 5×7/9-10×2/9 =15/9, immerhin 1,66 Mark pro Spiel.
Das sah todsicher aus, und es juckte mich, selbst zu spielen. Aber ich glaubte nicht an das menschenfreundliche Geschwätz, also mußte ein Haken dabei sein. Vielleicht war der Computer manipuliert? Unwahrscheinlich. Eine Bescheinigung der örtlichen Universität, beglaubigt von einem Notar, versicherte, daß der Rechner direkt mit dem Hochschul-Rechenzentrum verbunden war.
So beschloß ich, mein Glück zu versuchen. Ich drängelte mich nach vorne durch und wettete 100 Mark auf die Einwohnerzahlen der Verwaltungsbezirke von Lettland. Numbo blickte zunächst etwas unschlüssig drein, aber nach ein paar Sekunden nickte er. Der Bildschirm zeigte an: IN LETTLAND GIBT ES SECHSUNDZWANZIG VERWALTUNGSBEZIRKE. 1. AIZKRAUKLE, ... 26. VENTSPILS. WÄHLEN SIE EINE ZAHL.
Ich entschied mich für 23 und erhielt:
23. TURKUMS. EINWOHNERZAHL: 59200.
Zufrieden griff ich nach meinen 150 Mark. Als ich das Geld aus Numbos Händen entgegennahm, kam mir seine Art, sich zu bewegen, irgendwie bekannt vor... Nur dieser gigantische Schnauzbart paßte nicht zu meiner Erinnerung, ebensowenig wie Straßenanzug und Turnschuhe. Ich hatte mehr einen schwarzen, wehenden Mantel im Sinn.
Natürlich! Es war Matthew Morrison Maddox, der Mathemagier. Das letzte Mal hatte ich ihn auf einer Bühne gesehen. Wie kam er bloß hierher? Die Überraschung mußte sich in meinem Gesicht gezeigt haben, und offenbar hatte er mich auch wiedererkannt. Er blickte mich scharf an und zischte: "Bar in der Prinzenstraße, zum scharfen Eck." Dann wandte er sich schnell seinem nächsten Opfer zu, und ich bahnte mir einen Weg durch die Menge.
In der Kneipe war es sehr ruhig. Ich setzte mich mit einem Glas Bier in eine Ecke und versuchte – vergeblich – so auszusehen, als ob ich auf niemanden warten würde. Nach einer halben Stunde schlenderte Maddox herein, bestellte einen Rotwein und schob sich auf einen Stuhl neben mich.
"Hallo, Matt", begrüßte ich ihn. "Wie kommst du auf den Rummelplatz?"
Er ließ den Kopf hängen. "Ein schrecklicher Unfall", murmelte er. "Du kennst doch den alten Trick, bei dem eine Dame zersägt wird. Nun, ich habe es mit einem Laserstrahl versucht, und irgend etwas ist schiefgegangen."
"Oh nein. Das kann doch nicht wahr sein? Nicht die arme Veronique?"
Er schüttelte seinen Kopf. "Keine Sorge. Ihr geht es gut. Ich treffe für meine Assistentinnen immer ausreichende Sicherheitsvorkehrungen. Nein, der Laserstrahl traf zufällig auf einen versteckten Spiegel, der sich aus anderen Gründen auf der Bühne befand, wurde zu einem Kronleuchter reflektiert und von dort in die Privatloge des Bürgermeisters, wo er ein Stück aus dem Boden herausschnitt. Es endete damit, daß der Bürgermeister höchst gefährlich in der Luft hing, angstvoll umschlungen von einer jungen Dame, mit der er nicht verheiratet war. Nun ja... Es war alles höchst peinlich. Jedenfalls wurde meine Bühnenlizenz für zwölf Monate gesperrt."
"Und warum machst du als Schausteller nicht Profit mit deinem bekannten Namen?"
"Es ist besser, wenn ich nicht allzusehr auftrumpfe, du verstehst? Ich will nicht, daß die Leute unangenehme Fragen stellen. Apropos: Hast du das lettische Beispiel mit Absicht gewählt?"
"Meine Güte, nein! Warum auch? Ist das etwas Besonderes?"
Benfords Gesetz
"Allerdings. Die Letten haben ein besonderes Grenzziehungsverfahren. Ihre Verwaltungsbezirke sind so gewählt, daß die Einwohnerzahlen immer um die 50000 liegen, außer Riga, das dreimal so groß ist. Solche Beeinflussungen machen meine Chancen zunichte."
Ich verstand ihn nicht. "Beeinflussungen? Welche Chancen?"
Er zuckte die Schultern. "Sie fügen sich nicht in Benfords Gesetz."
"Wie bitte?"
Maddox erklärte: "Du weißt doch noch. In den finsteren alten Zeiten, als es noch keine Taschenrechner gab, konnte man sich lange Ketten von Multiplikationen und Divisionen mit Logarithmentabellen erleichtern."
"Sicher. Ich mußte auch lernen, wie man das macht. In meiner Schule wurde darauf großer Wert gelegt. Und auf Rechenschieber. Ach, die alten Zeiten! Man schlug die Zahlen nach, suchte die Logarithmen, addierte oder subtrahierte sie voneinander und schlug dann den Antilogarithmus des Resultats nach."
"Eben. Nun, die Geschichte beginnt damit, daß jemand – ich weiß nicht, wer – die folgenschwere Entdeckung machte, daß die ersten Seiten der Logarithmentafeln in den Bibliotheken weit schmutziger waren als die hinteren."
"Was? Das ist doch lächerlich!"
"Ich weiß."
"Bei einem Buch würde ich das ja noch verstehen – sagen wir, ,Eine kurze Geschichte der Zeit' von Stephen Hawking. Das käme dann einfach daher, daß die meisten Leute die ersten Seiten lesen und es dann aufgeben."
"So ist das wohl. Für einen Roman würde das gleiche gelten. Manche Leute langweilen sich bald und legen ihn weg. Aber normalerweise liest man Logarithmentafeln nicht wie Prosa, oder?"
"Kaum."
"Trotzdem waren die ersten Seiten abgegriffener. Kannst du dir vorstellen, warum?"
"Keine Ahnung", erwiderte ich. "Aber ich werde noch ein Bier trinken. Danke für die Einladung." Maddox ging, holte es mir und erzählte weiter.
"Der Physiker Frank Benford hat 1938 den Grund gefunden. Aber die Erklärung gibt eher noch mehr Rätsel auf. Benford behauptete, daß die Zahlen, auf die Physiker und Ingenieure im Verlauf ihrer Rechnungen stoßen, am wahrscheinlichsten mit 1 und am unwahrscheinlichsten mit 9 beginnen."
"Aber wieso?"
"Benford fand heraus, daß die relative Häufigkeit, mit der eine gegebene Ziffer als Anfangsziffer auftaucht, in gesetzmäßiger Weise von 1 bis 9 abnimmt."
Ich mußte lachen. "So ein Quatsch! Jede Ziffer muß doch gleich wahrscheinlich sein."
Er schnitt eine Grimasse. "Nicht so voreilig. Benford hat 20 verschiedene Mengen numerischer Daten untersucht, darunter die Oberflächen von Seen und die Molekulargewichte chemischer Verbindungen. Er fand empirisch heraus, daß für die Wahrscheinlichkeit, daß die erste Ziffer gleich n ist, die Formel log(n+1)-log(n) gilt. Dabei ist der Logarithmus zur Basis 10 zu nehmen und der Wert n=0 auszuschließen, weil die Anfangsziffer per Definition immer die erste von 0 verschiedene Ziffer ist. Benford nannte dies das Gesetz der anomalen Zahlen, aber heute heißt es einfach Benfords Gesetz. Inzwischen ist es an Tausenden verschiedener Datenmengen bestätigt worden – Stromrechnungen auf den Kanarischen Inseln und derartigen Daten" (Bild 1).
Ich fand das alles ziemlich unglaubwürdig.
Er nahm einen tiefen Zug aus demRotweinglas und hub an: "Deine Vorstellung von der Gleichverteilung ist offensichtlich falsch. Ich werde dich gleich davon überzeugen. Benfords logarithmische Verteilung ist allerdings nicht so leicht einzusehen." Er überlegte einen Moment und fuhr dann fort: "Nimm einfach mal an, sie stimme. Siehst du dann, warum meine kleine Rummelplatzveranstaltung funktioniert?"
"Nun... dann wäre die Wahrscheinlichkeit für die Eins als erste Ziffer" – ich kramte meinen Taschenrechner hervor – "gleich log2-log1=0,301. Und die Wahrscheinlichkeit für eine Zwei wäre log3-log2, also 0,477-0,301 =0,176. Deine Gewinnchance wäre die Summe dieser beiden, also 0,477. Knapp unter 50 Prozent. Dein erwarteter Gewinn beträgt dann 10×0,477-5×0,523 =2,155..."
Jetzt verstand ich alles. "Du raffinierter Hund! Du gewinnst im Mittel mehr als 2 Mark pro Spiel!"
"Sieh an. Anscheinend glaubst du langsam an Benfords Gesetz", erwiderte Maddox grinsend.
"Allerdings! Ich kenne dich, alter Gauner. Du führst keinen Trick vor, den du nicht bis zum letzten durchprobiert hast. Ich gestehe, du hast mich überzeugt."
"Nicht so hastig. Mach doch erst ein paar Experimente."
Empirische Bestätigung
"Na schön. Welche Daten soll ich nehmen?"
"Alles, was nicht von vornherein auf einen Bereich beschränkt ist, der die Möglichkeiten für die ersten Ziffern allzusehr einengt. Das Alter von Menschen wäre also keine so gute Idee. Auch nicht die Anzahl der Buchstaben in den Namen der Wochentage."
"Wie steht es mit den Wechselkursen in meiner Zeitung?"
"Das müßte gehen."
"Gut." Das Ergebnis war nicht sehr überzeugend (Bild 1).
"Laß uns noch einen Versuch machen", schlug ich vor. "Wie wäre es mit den Flächen der Bahama-Inseln?"
"Nur zu."
"In Quadratmeilen oder in Quadratkilometern?"
"Versuchen wir beides" (Bild 2).
"Sieht schon besser aus", stellte ich fest. "Aber es paßt immer noch nicht besonders."
"Stimmt; aber du benutzt sehr kleine Datenmengen. Und immerhin zeigt sich bereits eine große Vorliebe für die Ziffern 1 und 2."
"Na gut. Dann erkläre mir doch: Warum sind kleinere Anfangsziffern häufiger als große?"
Er lehnte sich vor und flüsterte verschwörerisch: "Denk an die Hausnummern einer Straße. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine Hausnummer mit einer gegebenen Ziffer beginnt, hängt stark von der Gesamtzahl der Häuser in der Straße ab. Wenn es nur neun Häuser gibt, kommt jede Ziffer gleich oft vor. Aber wenn es 19 sind, dann ist die Anfangsziffer 1 für die Hausnummern 1 und 10 bis 19. Also eine relative Häufigkeit von 11/19, das ist mehr als 50 Prozent. Wenn die Länge der Straße wächst, pendelt die relative Häufigkeit, mit der eine gegebene Ziffer als erste einer Hausnummer vorkommt, auf komplizierte, aber berechenbare Weise auf und ab" (Bild 3). "Und nur dann, wenn die Anzahl der Häuser 9, 99, 999 und so weiter beträgt, sind alle neun relativen Häufigkeiten gleich."
"Aha, das sehe ich ein."
"Deine anfängliche Vorstellung von gleichen Häufigkeiten muß also falsch sein."
"Ich geb's ja zu!"
"Du wirst bemerkt haben, daß der Graph der relativen Haufigkeiten sich fast periodisch wiederholt – wenn man für die waagerechte Achse einen logarithmischen Maßstab wählt. Das liegt daran, daß sich zwischen jeweils zwei aufeinanderfolgenden Zehnerpotenzen ungefähr das gleiche Verhalten einstellt. Wenn du die Schwankung der Häufigkeiten über die Straßenlänge mittelst, erhältst du die Formel von Benford."
"Nun, das glaube ich dir mal."
"Vorausgesetzt, du mittelst richtig. Statistische Mittelwerte hängen nämlich stark davon ab, welche Annahmen man macht. Es sind nicht alle Straßenlängen gleich wahrscheinlich."
"Stimmt. Kurze Straßen sind häufiger als lange. Hmm... Wenn Benfords Gesetz stimmt, muß es auch für die Anfangsziffern der Häuseranzahlen gelten."
"Ganz genau. Wenn man diesen Gedanken weiter verfolgt, kommt man auf eine sehr schöne Eigenschaft von Benfords Gesetz: Es ist skalierungsinvariant. Ob du die Flächen der Bahama-Inseln in Quadratmeilen oder in Quadratkilometern mißt, ob du alle Häuserzahlen mit sieben oder dreiundneunzig malnimmst, ob du die Halbwertszeiten radioaktiver Isotope in Sekunden oder Jahrhunderten mißt – wenn die Datenmenge nur groß genug ist, gilt stets dasselbe Gesetz. Ein gewisser Professor Pinkham von der Rutgers-Universität in New Brunswick (New Jersey) hat bewiesen, daß Benfords Gesetz sogar das einzige skalierungsinvariante Verteilungsgesetz ist."
Ich dachte darüber nach. "Soll das heißen, daß man Benfords Beobachtungen als Hinweis auf skalierungsinvariante Phänomene in der Natur nehmen sollte?"
Er nickte. Wir Menschen zählen in arithmetischer Folge: 1, 2, 3,... und wundern uns, ungleiche Wahrscheinlichkeiten für die Anfangsziffern zu finden. Aber das läßt sich dadurch erklären, daß die Natur mit gleichen Wahrscheinlichkeiten unter der Termen einer geometrischen Reihe wählt: x, x2, x3..."
Darüber dachte ich noch länger nach. "Ja, aber warum tut sie das?"
Er rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. "Schwer zu sagen. Aber daß sie es tut, scheint außer Zweifel. Probiere es aus, an Daten, die du dir selber aussuchst. Es ist wirklich erstaunlich, wie oft es funktioniert. Ich schätze, die Natur legt keinen großen Wert auf absolute Längenskalen."
"Ach was? Protonenradius, Elementarladung, Plancksches Wirkungsquantum?"
"Na ja, wenn du in diese Größenordnungen gehst, wird es wahrscheinlich schwierig. Aber es gab letztes Jahr eine neue Bestätigung – aus der Atomphysik. B. Buck und A.C. Merchant aus Oxford sowie S.M. Perez aus Kapstadt haben Halbwertszeiten beim Alpha-Zerfall zusammengetragen, also die Zeiten, in denen die Hälfte einer Anzahl Atome unter Aussenden von Alphateilchen zerfallen ist. Benfords Gesetz gilt sowohl für die beobachteten wie für die theoretisch berechneten Werte" (Bild 4).
Maddox fuhr fort: "Buck und seine Kollegen haben auch noch eine kompliziertere Formel bestätigt, die Benford für die Verteilung der zweiten Ziffern aufgestellt hat."
"Das ist ja richtig Physik."
"Das ist es ja. In diesem Falle gibt es sogar gute Gründe für das Skalierungsverhalten. Der Physiker George Gamow hat 1928 den Alpha-Zerfall mit der damals ganz neuen Quantenmechanik beschrieben. Danach existiert das Alphateilchen in einer Potentialmulde und entkommt ihr mit Hilfe des Tunneleffekts. Die Wahrscheinlichkeit, daß ihm das innerhalb einer gegebenen Zeit gelingt, ist gegeben durch ein sogenanntes Tunnelintegral hoch einer Zahl, die der Zeit proportional ist. Die Tunnelzeiten – und damit die Halbwertszeiten – entsprechen so auf natürliche Weise einer geometrischen Folge und nicht einer arithmetischen. Wenn die Natur das Tunnelintegral zufällig und gleichverteilt wählt, dann sind nach der Quantenmechanik die Halbwertszeiten beim Alpha-Zerfall skalierungsinvariant verteilt – also gilt Benfords Gesetz."
Ich dachte auch darüber nach. Alpha-Zerfall hin und her – aber was ist mit den Flächen der Bahama-Inseln, den Einwohnerzahlen auf den Malediven und den Wechselkursen? Da spielen Tunnelintegrale eigentlich keine Rolle.
Aber... Skaleninvarianz ist eine wesentliche Eigenschaft der Fraktale. Sie manifestiert sich als Selbstähnlichkeit, die Ähnlichkeit eines kleinen Teils zum Ganzen. Eine moderne Interpretation von Benfords Gesetz wäre also, daß die betreffenden Daten von einer fraktalen Struktur herrühren. Damit wird Benfords Gesetz zu einem Teil der Chaos-Theorie, denn Fraktale sind die natürliche Geometrie deterministischer, aber hochkomplexer dynamischer Systeme. Benfords Gesetz sagt uns also, daß Chaos und Fraktale in der Natur allgegenwärtig sind.
Das ist gar nicht allzu weit hergeholt. Es gilt als allgemein anerkannt, daß Fraktale gute Modelle für Inselgruppen und Küstenlinien abgeben; und die chaotischen Prozesse der natürlichen Erosion sind für die fraktale Struktur verantwortlich. Irgendwie hängt also alles miteinander zusammen...
Insgesamt ein weiter Weg für eine Theorie, die mit den Spuren von Schmutzfingern in Logarithmentafeln begonnen hat.
Literaturhinweise
- The Peculiar Distribution of First Digits. Von Ralph A. Raimi in: Scientfic American, Dezember 1969, Seiten 109 bis 120.
– The First Digit Problem. Von Ralph A. Raimi in: American Mathematical Monthly, Band 83, Seiten 521 bis 538, 1976.
– Die fraktale Geometrie der Natur. Von Benoît B. Mandelbrot. Birkhäuser, Basel 1987.
– A Number for Your Thoughts. Von Malcolm E. Lines. Adam Hilger, Bristol 1986.
– An Illustration of Benford's First Digit Law Using Alpha Decay Half Lives. Von B. Buck, A.C. Merchant und S.M. Perez in: European Journal of Physics, Band 14, Seiten 59 bis 63, 1993.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1994, Seite 16
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