Medizin: Das Risiko der Sicherheit
Hirzel, Stuttgart 2002. 167 Seiten, € 18,–
Die Menschen sind verwöhnt durch die Segnungen der Wohlstandsgesellschaft, sie sind dumm und weder fähig noch willens, diesem Zustand abzuhelfen. Insbesondere überschätzen sie maßlos das Risiko des Medikamentengebrauchs oder setzen dieses zumindest mit den Risiken des Nichtgebrauchs nicht ins richtige Verhältnis. Die Medien mit ihrer auf einzelne Opfer zentrierten Berichterstattung, ohne den Blick aufs Ganze, tun alles, diese Fehleinschätzung zu verstärken. Und deswegen leben wir schlechter und vor allem kürzer, als es unter anderen Umständen möglich wäre.
Das kann ja alles stimmen. Es macht die Lektüre nur etwas mühsam, dass der Autor einem diese Überzeugung eher unterschwellig, aber penetrant und weinerlich aufdrückt. Wer jedoch darüber hinwegliest, wird mit einer Fülle interessanter Fakten belohnt.
Klaus Heilmann, Professor der Medizin sowie "Risikomanager, Kommunikationsexperte, Publizist und TV-Pro-duzent" (Klappentext), rechnet uns vor, dass eine fünfjährige Verzögerung der Zulassung eines neuen Medikaments schätzungsweise 75000 Menschen das Leben gekostet hat. Die 1975 getroffene Entscheidung offizieller Stellen, die Schutzimpfung gegen Keuchhusten nicht mehr allgemein zu empfehlen, musste 1991 widerrufen werden, weil die Risiken der Impfung weit überschätzt worden waren. Die Antibabypille wäre wegen vermehrter Herzattacken und Schlaganfälle fast verboten worden; erst langjährige Erfahrung gestattete eine realistischere Einschätzung der Risiken.
Der Autor bringt auch Daten, die seine Position nicht unbedingt unterstützen. So gelang es einer einzelnen Frau in der amerikanischen Arzneimittel-Zulassungsbehörde FDA, die Zulassung von Thalidomid, dem Wirkstoff von Contergan, so lange hinauszuzögern, dass den USA eine Contergan-Katastrophe erspart blieb.
Und die letzte, spärlich erläuterte Tabelle des Buches ("Verlorene Lebenserwartung durch Einzelentscheidungen") zeigt, dass statistische Daten doch etwas sorgfältigerer Interpretation bedürfen. So kostet einen die Entscheidung, eine Flugreise anzutreten, wegen der damit einhergehenden Unfallgefahr statistisch gemittelt knapp zwei Lebensstunden; für Anschaffung und Nutzung eines Kleinwagens muss man knapp fünf Tage opfern. Aber die gefährlichste von allen aufgeführten "Entscheidungen" ist "männlich und unverheiratet sein". Sie kostet einen, im statistischen Durchschnitt wohlge-merkt, neuneinhalb Lebensjahre. Dagegen sind Zigarettenrauchen (sechs Jahre bei Männern) und dreißig Prozent Übergewicht (3,6 Jahre) geradezu harmlos.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2002, Seite 116
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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