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Das Timing der Geburt

Die Uhr in der Placenta

Ganz unerwartet sind Endokrinologen in der Plazenta auf ein Hirnhormon gestoßen, das den Zeitpunkt der Niederkunft regelt. Noch läßt sich dieses Wissen nicht therapeutisch nutzen, doch zeigt es zusammen mit weiteren Erkenntnissen Wege auf, Frühgeburten künftig vorzubeugen.



Vom Wunder der Geburt zu sprechen ist für Eltern und Ärzte mehr als nur eine Redewendung – es ist Realität. Rund neun Monate dauert es, bis aus einer simplen befruchteten Eizelle ein geburtsreifes Kind heranwächst. Doch sechs bis acht Prozent aller Neugeborenen kommen um mehr als drei Wochen zu früh auf die Welt, etwa jedes zweite von ihnen aufgrund vorzeitiger Wehen. In den vergangenen 30 Jahren haben die Ärzte immer besser gelernt, solche Frühchen zu retten. Doch die fehlende Entwicklungszeit im Mutterleib hat Folgen. Da Atmung und Kreislauf unzureichend arbeiten, drohen Hirnschäden, so daß beispielsweise oft körperliche und geistige Behinderungen zurückbleiben.

Ließen sich die Wehen hinreichend hinauszögern, würden zahlreiche Kinder vor dem Tod oder vor lebenslanger Behinderung bewahrt. Erkenntnisse der letzten Jahre, die an verschiedenen medizinischen Zentren, unter anderem in meinem Labor an der Universität Newcastle (Australien) gewonnen wurden, geben uns ein sehr viel genaueres Verständnis des komplexen Ablaufs ineinandergreifender Vorgänge, die letztlich bestimmen, wann ein Baby das Licht der Welt erblickt. An der praktischen Umsetzung dieses Wissens für medizinische Zwecke arbeiten wir bereits.

Der erst kürzlich enträtselte Mechanismus steuert sogar die gesamte Geburtsvorbereitung, die sich gewöhnlich über die letzten beiden Wochen der Schwangerschaft erstreckt. Dazu gehören Veränderungen beispielsweise der Gebärmutter, die Wehen erst ermöglichen. Während der meisten Zeit der Schwangerschaft ist das Organ im Prinzip ein in sich schlaffer Beutel aus ungekoppelten glatten Muskelzellen, den ein Ring nach unten abschließt – der Gebärmutterhals mit dem Muttermund als Öffnung. Zugfeste Bindegewebsfasern aus Kollagen machen ihn hart und unnachgiebig. In diesem Zustand bleibt die Gebärmutter (der Uterus), solange ausreichend Progesteron im mütterlichen Blut zirkuliert. Schon während der frühen Schwangerschaft wird dieses Steroidhormon vom Mutterkuchen, der Plazenta, abgegeben. Gleichzeitig produziert er auch in geringerem Maße Östrogen; als gegenspielendes Steroidhormon fördert es das Zusammenziehen der Gebärmutter. Zu Beginn der Schwangerschaft ist sein Spiegel freilich relativ niedrig, er steigt jedoch mit der Zeit an. Gewöhnlich steht die Niederkunft bevor, wenn die kontraktionsbegünstigenden Einflüsse von Östrogen und anderen Faktoren die Hemmeffekte überwiegen.

Zu diesen Faktoren gehört auch das Protein Connexin (Spektrum der Wissenschaft, April 1984, S. 60); es wird von Zellen der Uterusmuskulatur mit steigendem Östrogenspiegel gebildet. Die Moleküle bewegen sich zur äußeren Membran der Zellen, bilden dort spezielle Kontaktstellen aus und koppeln darüber die Muskelzellen elektrisch miteinander, so daß eine koordinierte Kontraktion möglich wird (siehe obere Hälfte des Bildes auf Seite 50). Zugleich veranlaßt Östrogen die Zellen, zahlreiche Andockstellen (Rezeptoren) für Oxytocin auf ihrer Oberfläche zu präsentieren. Dieses vom Gehirn ausgesandte Hormon kann die Kontraktionskraft der Gebärmutter verstärken und in einem dafür empfänglichen Uterus schließlich Wehen auslösen.

Freilich reicht es nicht aus, daß sich die Muskulatur auf die Wehen vorbereitet – der Muttermund muß sich, wenn es soweit ist, auch öffnen können. Deshalb fördert Östrogen zugleich die Produktion von Prostaglandinen; diese Gewebshormone initiieren wiederum die Synthese von kollagen-abbauenden Enzymen im Gebärmutterhals. Das Bindegewebe des Ringes wird weich, er weitet sich und geht schließlich auf, sobald die Wehen den Kopf des Kindes dagegen drücken (siehe untere Hälfte des Bildes auf Seite 50).

Während all dieser Veränderungen wird auch der Fetus auf die Geburt vorbereitet. Das von seinen Nebennieren hergestellte Stresshormon Cortisol sorgt dafür, daß die Lungen noch letzte Reifungsprozesse durchlaufen. Und zwar regt ein hoher Gehalt die Produktion von Substanzen an, welche die Lunge vom Fruchtwasser befreien – nun kann sie sich nach der Geburt entfalten und mit Luft füllen (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1986, S. 96).

Doch trotz all dieser Erkenntnisse blieb rätselhaft, welcher molekulare Schalter im Fetus oder in der werdenden Mutter die Ausschüttung von Östrogen durch den Mutterkuchen und damit letztlich die Einleitung der Geburt anregt. Aus praktischen wie ethischen Gründen lassen sich biochemische Veränderungen im menschlichen Fetus, in der Plazenta und der Schwangeren nur schwer direkt erforschen. Nach möglichen Faktoren, die das Gebären steuern, suchten Biologen daher erst einmal bei anderen großen Säuger-Arten, vor allem beim Schaf.

Bis Mitte der achtziger Jahre hatten sie dessen grundlegenden Steuermechanismus ermittelt, und wie sich zeigte, ließ er sich auf die meisten anderen Säugetiere übertragen. (Ein Pionier auf diesem Gebiet war in den sechziger Jahren Graham C. Liggins von der Nationalen Frauenklinik im neuseeländischen Auckland.)

Demnach kommt ab einem gewissen Zeitpunkt – bei Schafen etwa zur Mitte der Trächtigkeit – eine regelrechte Hormonkaskade in Gang, bei der vom Feten gebildete Botenstoffe letztlich über den gemeinsamen Blutkreislauf auf den mütterlichen Organismus wirken (siehe Bild auf der nächsten Seite). Zunächst beginnt der Hypothalamus (ein Teil des Zwischenhirns) des sich entwickelnden Fetus, das Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) auszuschütten. Es sorgt dafür, daß die weiter darunterliegende Hirnanhangdrüse das adrenocorticotrope Hormon (ACTH) in den Blutkreislauf des Feten entläßt. Dessen Nebennierenrinde beginnt daraufhin Cortisol herzustellen; und dieses aktiviert schließlich Enzyme in der Plazenta, die Progeste-ron in Östrogen verwandeln. Dadurch gelangt weniger Progesteron, dafür aber mehr Östrogen in den Blutkreislauf des Muttertieres.

Bei nichtträchtigen Schafen – übrigens genauso wie bei nichtschwangeren Frauen – ist Cortisol Teil einer negativen Rückkopplungsschleife: Es wirkt auf den Hypothalamus und die Hirnanhangdrüse zurück, um die Ausschüttung von ACTH und damit letztlich seine eigene Produktion zu drosseln beziehungsweise den Cortisolspiegel im Blut stabil zu halten. Gegen Ende einer Trächtigkeit jedoch verliert das Stresshormon diesen bremsenden Effekt. Die Gründe hierfür sind nach wie vor unklar, das Ergebnis aber ist offensichtlich: Die Konzentrationen an fetalem ACTH und Cortisol – und somit an Östrogen im Mutterschaf – steigen im letzten Teil der Trächtigkeit an, bis schließlich das Junge geboren wird. Ein ziemlich hoher Cortisolspiegel erleichtert, wie bereits erwähnt, zudem die Reifung der Lungen.

Ein schönes und einleuchtendes Schema, nur leider funktioniert eines seiner Kernelemente beim Menschen so nicht, wie sich noch während seiner Ausarbeitung am Tier zeigte. Denn wenn eine Frau mit zu frühen Wehen cortisol-ähnliche Medikamente erhielt, förderte das zwar offensichtlich die Reifung der kindlichen Lungen (Atembeschwerden solcher Frühchen treten dann nämlich seltener auf): doch weder beeinflußte das Hormon bei Schwangeren die Vorbereitung der Niederkunft, noch induzierte es Wehen.

Heute läßt die Gesamtheit der Indizien vielmehr auf eine besondere Rolle von CRH schließen. Offenbar treibt das Hormon zwar wie beim Schaf sowohl die Produktion von fetalem Cortisol als auch von plazentalem Östrogen voran – überraschenderweise stammt es aber selbst größtenteils nicht aus dem Gehirn des Ungeborenen, sondern aus der mütterlichen Plazenta. Mehr noch: CRH löst die Östrogen-Sekretion durch den Mutterkuchen auf ganz anderem Wege aus als bei Schafen und bei den meisten anderen Säugern.

Die Geschichte dieser Erkenntnisse beginnt bereits in den frühen Achtzigern. Damals entdeckte Tamotsu Shibasaki vom Frauenmedizinischen College in Tokio gemeinsam mit Kollegen anderer Institutionen in der menschlichen Plazenta CRH – bis dahin hatte das Gehirn als einziger Produzent gegolten. Noch in jenen Jahren wiesen mehrere Arbeitsgruppen nach, daß plazentales CRH gegen Ende der Schwangerschaft auch im Blut der Mutter auftaucht, wobei sein Spiegel steil ansteigt und dann wieder abfällt. Kliniker aus England und den Vereinigten Staaten stellten in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre außerdem fest, daß zu früh in die Wehen kommende Frauen bei der Entbindung mehr von diesem Hormon im Blut aufwiesen als "normale" Frauen in derselben Schwangerschaftswoche.

Etwa zu der Zeit kam Mark McLean als medizinischer Doktorand in meine Arbeitsgruppe und begann, sich diesem Thema zu widmen. Beinahe 500 Frauen war immer wieder während ihrer Schwangerschaft Blut abgenommen worden: McLean bestimmte die CRH-Spiegel und suchte nach einem Zusammenhang zwischen ihrer Höhe und dem jeweiligen Zeitpunkt der Entbindung. Ein sehr zeitaufwendiges Unterfangen, aber Mitte der neunziger Jahre waren die Analysen abgeschlossen.

Auf den ersten Blick schienen die Ergebnisse nicht sonderlich überraschend. Sie bestätigten die Beobachtungen, daß die CRH-Konzentrationen im Blut der Mutter mit fortschreitender Dauer der Schwangerschaft ansteigen, und zwar den neuen Daten nach exponentiell. Bei genauerer Betrachtung jedoch zeigte sich etwas Faszinierenderes: Mit Hilfe der CRH-Werte, die zwischen der 16. und der 20. Schwangerschaftswoche nach der letzten Monatsblutung gemessen worden waren (früher ließ sich mit unseren Laborgeräten das Hormon nicht erfassen), konnten wir den Zeitpunkt der Niederkunft grob vorhersagen. Bei den höchsten CRH-Werten drohte eine Frühgeburt, bei den niedrigsten ein Übertragen des Kindes (siehe Diagramm auf Seite 46).

Mit anderen Worten: McLean hatte eine "Uhr" entdeckt, die früh in der Schwangerschaft gestellt wird und die Geschwindigkeit des Ablaufs bestimmt. Diese Uhr ließ sich ablesen, wenn auch nur recht grob – ihr Zeiger war die Konzentration an CRH im Blut der Mutter. Heute erscheint es als wahrscheinlich, daß die Produktionsrate des Hormons selbst die Dauer der Schwangerschaft kontrolliert. Damals mußten wir aber auch erwägen, daß seine Herstellung in der Plazenta nur ein – immerhin als Marker geeignetes – Nebenprodukt eines anderen Prozesses sein könnte, der das Zusammenspiel der Geburtsvorgänge letztlich dirigiert.

Gleichwohl deuteten diese Forschungsergebnisse bereits eine Möglichkeit an, Frauen mit einem hohen Risiko verfrühter Wehen zeitig in der Schwangerschaft auszumachen – einfach anhand des CRH-Spiegels. Die Betroffenen könnten dann genauer beobachtet werden und in Einrichtungen entbinden, die über Intensivstationen für Neugeborene verfügen. Überdies würde eine solche diagnostische Möglichkeit die systematische Erprobung neuer Therapien erleichtern: Indem innerhalb einer klinischen Studie Frauen mit erkanntem erhöhtem Frühgeburtsrisiko das zu testende Medikament erhalten, eine Vergleichsgruppe nicht, läßt sich dessen Wirksamkeit analysieren.

Ich sehe berechtigte Chancen, daß CRH-Analysen einmal diagnostische Routine werden. Bislang sind sie es noch nicht, unter anderem, weil die besten Meßmethoden und der günstigste Zeitpunkt für diese Tests derzeit noch geprüft werden. Ich sollte auch betonen, daß der CRH-Spiegel von Frau zu Frau deutlich variiert, und daß normale oder niedrige Werte frühe Wehen nicht mit Sicherheit ausschließen – Infektionen des Feten und andere Komplikationen beispielsweise können eine Frühgeburt auch bei anfänglich geringen CRH-Konzentrationen auslösen.

Zurück zu unserer Frage, ob das von der Plazenta abgegebene Hormon eine Schlüsselrolle beim Timing der menschlichen Geburt spielt oder nur ein Marker eines übergeordneten regulatorischen Prozesses ist. Molekulare Untersuchungen in den vergangenen zehn Jahren sprechen für ersteres, wie ich im folgenden zeigen will.

Als sich abzeichnete, daß die Niederkunft beim Menschen etwas anders als bei Schafen reguliert wird, begannen viele Forschergruppen Tier- und Menschenaffen zu studieren. Experimente mit diesen uns am nächsten verwandten Tieren sind zwar komplizierter, aber Primaten – ob Mensch oder Affe – stellen als einzige in ihrer Plazenta während der Schwangerschaft CRH her.

Gegen Ende der achtziger Jahre konzentrierten sich die Gruppe um Robin S. Goland von der Columbia-Universität in New York und meine unabhängig voneinander auf Paviane als Versuchstiere. Wie beide Teams feststellten, verhielt sich hier der CRH-Spiegel anders: Während er bei schwangeren Frauen ständig stieg, schnellte er bei trächtigen Weibchen schon früh steil in die Höhe und fiel dann wieder auf nur mäßig erhöhte Werte, die bis zum Ende der Tragzeit konstant blieben. Diese Erkenntnis führte zunächst zu nichts – bis ich 1996 auf dem Internationalen Kongreß für Endokrinologie einer Präsentation lauschte: Eugene D. Albrecht von der Universität von Maryland und Gerald J. Pepe von der Eastern Virginia Medical School in Norfolk, zwei Experten ihres Fachs, berichteten über die Entwicklung der Nebenniere des Pavian-Fetus.

Es war schon bekannt, daß dieses paarige Organ bei fetalen Primaten anders gebaut ist als bei Schaf-Feten oder bei erwachsenen Schafen und Primaten. Ihm fehlt noch das zentrale Mark, und die Rinde ist zweigeteilt. Ihr schmaler äußerer Bereich stellt Cortisol her; ihr viel größerer innerer dagegen – die "fetale Nebennierenzone" produziert ein Steroidhormon mit einem zungenbrecherischen Namen: Dehydro-epiandrosteronsulfat, kurz DHEA-S.

Auch die Primaten-Plazenta verhält sich anders. Ihr fehlen diejenigen Enzyme, die auf Cortisol reagieren und Progesteron in Östrogen umwandeln; statt dessen erzeugt sie Östrogen aus DHEA-S. (Das erklärt übrigens, warum der Gehalt an Progesteron beim Menschen am Ende der Schwangerschaft nicht wie bei Schafen abfällt; das Hormon wird nicht von der Plazenta verbraucht und gelangt deshalb weiterhin in den mütterlichen Kreislauf.)

Albrecht und Pepe verglichen nun in ihrem Vortrag die relative Größe der fetalen Nebennierenzone verschiedener Spezies, bezogen auf die momentane Körpergröße des wachsenden Fetus: Dieser Wert erreichte bei Mensch und Rhesusaffe gegen Ende der Schwangerschaft seinen Gipfel, beim Pavian hingegen bereits in der Mitte der Trächtigkeit. Später wuchs die Fetalzone dort langsamer und verschwand schließlich nach der Geburt.

Als ich die Diagramme betrachtete, fielen mir die Parallelen zum Verlauf des plazentalen CRH-Spiegels bei trächtigen Weibchen auf. Höchstwahrscheinlich kontrollierte das Hormon sogar direkt oder indirekt die Sekretion von DHEA-S aus der fetalen Nebennierenzone. Könnte es beim Menschen ebenso wirken und dadurch den späten Anstieg der Östrogen-Ausschüttung durch den Mutterkuchen auslösen?

Ich konnte es kaum erwarten, meine Idee zu testen. Zurück in Newcastle zeigte ich gemeinsam mit meinen Kollegen, daß Gewebe aus der Nebenniere menschlicher Feten zumindest Rezeptoren für CRH enthält – ein Indiz dafür, daß die Zellen darauf ansprechen können. Dann bewiesen wir gemeinsam mit Robert B. Jaffe und Sam Mesiano von der Universität von Kalifornien in San Francisco, daß die Zellen der Fetal-Zone auf das hormonelle Signal hin tatsäch-lich DHEA-S statt Cortisol herstellen. (DHEA-S produzieren sie übrigens auch, wenn ACTH aus der Hirnanhangdrüse auf sie einwirkt.)

Damit wären die Voraussetzungen für einen hohen Östrogenspiegel zur Niederkunft zwar gegeben, doch sollten die Wehen erst dann beginnen, wenn der Fetus auch für das Leben außerhalb des Mutterleibs gewappnet ist. Deshalb müßte ein "Oberaufseher des Gebärens" andererseits auch dafür Sorge tragen, daß genug Cortisol für die Lungenreife vorhanden ist. Plazentales CRH erfüllt offenbar auch diese Anforderung: Wie Joseph A. Majzoub von der Medizinischen Fakultät der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) vorgeschlagen hat, könnte es im Fetus durchaus über den Blutkreislauf die Ausschüttung von ACTH aus der Hirnanhangdrüse anregen und so die Nebennierenrinde zur Produktion von Cortisol veranlassen. Mit anderen Worten: Plazentales CRH ist sehr wohl geeignet, die Entwicklung des Fetus mit der Niederkunft zu koordinieren.

Andere Arbeiten lassen vermuten, daß das Hormon auch direkt auf Gebärmutter und Muttermund wirkt und so vielleicht Veränderungen, die das Östrogen auslöst, verstärkt beziehungsweise zu geringe Konzentrationen dieses Hormons ausgleicht. Eine britische Arbeitsgruppe fand zum Beispiel gewisse Indizien dafür, daß im mütterlichen Kreislauf zirkulierendes CRH – genauso wie Östrogen – den Prostaglandingehalt im Bereich des Muttermunds erhöht und somit zum Erweichen des Gewebes beiträgt. Zudem haben Forscher in England und Italien an Gewebeproben der menschlichen Uterusmuskulatur gezeigt, daß CRH imstande ist, die von anderen Substanzen wie etwa dem Hormon Oxytocin ausgelösten Kontraktionen zu potenzieren.

CRH wirkt außerdem differenziert. Denn Edward W. Hillhouse und Dimitri Grammatopoulos von der Universität Warwick (England) entdeckten auf Zellen der Gebärmuttermuskulatur gleich mehrere verschiedene Formen des zugehörigen Rezeptors. Dieser Mix verändert sich während der Schwangerschaft. Zu Beginn werfen besetzte molekulare Andockstellen im Zellinnern Reaktionen an, die normalerweise für die Entspannung der Muskelzellen sorgen. Später jedoch, während der Wehen, fördern die dann vorhandenen Rezeptoren im Uterus Kontraktionen.

Was aber bewegt die Plazenta dazu, CRH herzustellen? Und welcher Mechanismus kontrolliert die Menge? Diese wichtigen Fragen bleiben bislang unbeantwortet. Immerhin aber haben Majzoub sowie Bruce G. Robinson von der Medizinischen Fakulät der Universität Sydney (Australien) eines schon nachgewiesen: Sobald die Plazenta damit beginnt, CRH auszuschütten, kann Cortisol eine kontinuierliche Abgabe unterstützen. Zu den denkbaren Faktoren, welche die individuelle Produktionsmenge von Anfang an beeinflussen, zählen die Ernährungsgewohnheiten der Mutter, aber auch feine Variationen im genetischen Make-up, die sich auf die CRH-abgebenden Zellen auswirken.

Wie es aussieht, beginnt in der menschlichen Plazenta die Produktion von CRH nur langsam – und zwar etwa von der zwölften Schwangerschaftswoche an. Zunächst regt das Hormon die wachsende fetale Nebennierenzone dazu an, kleine Mengen an DHEA-S zu sezernieren, die in der Plazenta in Östrogen umgewandelt werden. Unterdessen signalisiert das CRH aus dem Mutterkuchen und wahrscheinlich auch aus dem Gehirn des Fetus einem anderen Teil der Nebennieren, Cortisol in den Blutkreislauf des Ungeborenen zu entlassen. Das hält vermutlich den Ausstoß von CRH durch die Plazenta aufrecht. Diese positive Rückkopplung läßt die CRH-Produktion nie sinken. Doch erst wenn CRH, Östrogen, Prostaglandine und vermutlich weitere Faktoren ihre kritischen Schwellen überschritten haben, beginnen in der Gebärmutter und im Muttermund mannigfaltige Veränderungen, und die Wehen setzen ein.

Selbst dieses Szenario ist noch nicht vollständig: Auch Faktoren außerhalb dieses sich selbst laufend ankurbelnden Kreislaufs können die Vorgänge beeinflussen, die schließlich die Geburt einleiten. So hat vermutlich die Größe des Fetus einen Effekt, denn ein reifes Baby dehnt die Uterusmuskulatur, was sie für kontraktionsfördernde Stimuli empfänglicher machen kann.

Ferner mag die Versorgungslage des Fetus eine Rolle spielen. Sie wird unter Umständen prekär, wenn er besonders groß gewachsen ist oder wenn der Mutterkuchen altert. Beim Schaf kann – so I. Caroline McMillen von der Universität Adelaide (Australien) – Hungern die Geburt herbeiführen. Für diese Hypothese sprechen auch Beobachtungen am Menschen. So entbinden mehr jüdische Frauen zur Zeit des Versöhnungsfestes Yom Kippur, wenn sie ihrer Religion entsprechend fasten und dadurch ihren Feten weniger Nahrung zuführen; dagegen gebären nichtfastende Beduinenfrauen aus derselben Gegend zu Yom Kippur nicht häufiger als sonst. Denkbar ist, daß eine unzureichende Versorgung mit Nährstoffen den Fetus so belastet, daß sein physiologisches "Stress-System" anspringt. Als ein Bestandteil dieses Systems würde der Hypothalamus im Gehirn des Neugeborenen CRH ausschütten. Das Hormon sollte dann den ACTH- und Cortisol-Spiegel erhöhen und so die Aktivität des gesamten geburtsinduzierenden Regelkreises verstärken.

Der Befund, daß Östrogen und CRH beide die Kontraktionsfähigkeit der Gebärmuttermuskulatur steigern, läßt eine noch größere Komplexität erwarten. Wir haben hier bloß eine mögliche Folge von Ereignissen präsentiert, welche das Gebären zu regulieren scheinen. Aber manche Aspekte in diesem Kontrollmechanismus könnten auch redundant sein. Beispielsweise mag die direkte Wirkung von CRH auf die Uterusmuskulatur normalerweise nur eine geringe Rolle spielen – aber eine große, wenn die Östrogenproduktion aus irgendeinem Grund beeinträchtigt ist. Solche Redundanz kann als Sicherheitsnetz dienen – aber auch als Spielmaterial für die Evolution, wie Stuart A. Kauffman vom Santa Fe Institute in New Mexico dargelegt hat. Denn wenn eine zufällige Veränderung in einer Signalkette ein mehrgleisiges System besser funktionieren läßt, kann es sie beibehalten; ist sie hingegen schädlich, verhindert die andere Kette die unter Umständen tödlichen Folgen.

An der Frage, wie das System entstand, das die menschliche Entbindung reguliert, arbeiten meine Kollegen und ich in Newcastle gemeinsam mit E. Jean Wickings und anderen Forschern am Internationalen Zentrum für klinische Forschung in Franceville (Gabun). Wir wollen herausfinden, wann und warum Primaten ausgefeiltere Kontrollmechanismen für das Timing der Geburt entwickelt haben als andere Säugetiere.

Eines zumindest ist bereits klar: Daß Lebewesen auf CRH als einen wichtigen Choreographen der Entwicklung setzen, hat eine lange evolutionäre Geschichte. Vermutlich reicht sie in eine Zeit zurück, bevor Säugetiere entstanden. Zum Beispiel hat Robert J. Denver von der Universität Michigan in Ann Arbor Indizien dafür gefunden, daß CRH bereits die Metamorphose von Kaulquappen in Amphibien beeinflußt (siehe Kasten nächste Seite).

So faszinierend die evolutionären Fragen allerdings auch sind – der triftigste Grund für die Erforschung des Gebärens ist, Wege zu finden, mit denen sich vorzeitige Wehen und damit viele Frühgeburten verhindern lassen. Ein besseres Verständnis der Mechanismen, welche beim Menschen das Timing der Geburt regeln, hat schon heute so manche therapeutische Möglichkeit eröffnet.

Einige Beispiele: In Zusammenarbeit mit einem Team unter George P. Chrousos an den US-amerikanischen Nationalen Gesundheitsinstituten in Bethesda (Maryland) haben wir kürzlich gezeigt, daß ein Gegenspieler (Antagonist) von CRH namens Antalarmin das Lammen bei Schafen hinauszögern kann. Wenn solche Hormon-Antagonisten sich bei Affen als unschädlich und wirksam erweisen, werden sie sicherlich am Menschen erprobt. Studien mit Gegenspielern des Hormons Oxytocin sind an Schwangeren bereits angelaufen. Außerdem weisen vorläufige Ergebnisse darauf hin, daß sogenannte Prostaglandin-Blocker bei Schwangeren mit einem erhöhten Risiko für vorzeitige Wehen wohl ebenfalls hilfreich sind.

Voran kommen auch Forschungsarbeiten, die dazu dienen, solche Frauen rechtzeitig zu identifizieren. So erkunden Wissenschaftler derzeit den Nutzen der CRH-Messung im mütterlichen Blut; darüber hinaus fahnden sie nach weiteren möglichen Warnzeichen. In meinem Labor etwa versuchen wir einzuschätzen, ob ein unzeitgemäßer Anstieg von kollagen-abbauenden Enzymen im Muttermundgewebe darauf hinweist, daß sich gerade zu frühe Wehen anbahnen.

Als einen interessanten Nebenaspekt hat mein Team bereits gezeigt, daß der Gehalt an mütterlichem CRH im Blutkreislauf zugleich ein nützlicher Indikator dafür sein könnte, ob bei einer "überfälligen" Schwangeren das künstliche Einleiten von Wehen Erfolg verspricht oder nicht. So reagieren werdende Mütter bei hohem CRH-Spiegel gewöhnlich besser auf entsprechende Mittel als bei niedrigem.

Der Weg scheint nun frei:

‰ für die Entwicklung diagnostischer Tests, die ein hohes Risiko für vorzeitige Wehen erkennen helfen, und

‰ für die Entwicklung therapeutischer Wirkstoffe, welche die Produktion von CRH beeinflussen oder auf andere Weise jene "Plazenta-Uhr" bremsen, die den Zeitpunkt der Geburt bestimmt.

Solche anwendungsorientierten Bemühungen werden von zahlreichen Ergebnissen aus der Grundlagenforschung getragen. Nur gemeinsam bringen diese beiden Arten des Erkenntnisgewinns das hochgesteckte Ziel näher: mehr Babys die kostbare Chance zu geben, ihr volles Potential entfalten zu können – frei von den körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, die allzuoft im Gefolge einer vorzeitigen Geburt auftreten. n

Literaturhinweise


A Placental Clock Controlling the Length of Human Pregnancy. Von Mark McLean et al. in: Nature Medicine, Bd. 1, Nr. 5, S. 460 (1995).

Production of Premature Delivery in Pregnant Rhesus Monkeys by Androstenedione Infusion. Von C. A. Mecenas et al. in: Nature Medicine, Bd. 2, Nr. 4, S. 443 (1996).

Corticotropin-Releasing Hormone Directly and Preferentially Stimulates Dehydroepiandrosterone Sulfate Secretion by Human Fetal Adrenal Cortical Cells. Von R. Smith et al. in: Journal of Clinical Endocrinology and Metabolism, Bd. 83, Nr. 8, S. 2916 (1998).

Informationen über Frühchen und ihre Behandlung auf speziellen Intensivstationen gibt es unter http://www.heidelberg.de/uni/presse/rc5/3.htm


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1999, Seite 46
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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