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Dendrimere

Dicht verzweigt wie Baumkronen sind die Mitglieder einer neuen Klasse selbstähnlicher Supermoleküle. Als Polymere mit genau einstellbarer Größe und Struktur lassen sie vielfältige Einsatzmöglichkeiten in Gentechnik, Pharmazie, chemischer Verfahrenstechnik und Umweltschutz erwarten.

In der Nähe meiner Heimat – an den Ufern des Chippewa-Flusses mitten im Bundesstaat Michigan – hat sich noch ein natürliches Waldgebiet erhalten, weil der Boden für herkömmliche Landwirtschaft nicht ertragreich genug ist. Dort stehen Tausende von Bäumen aller Art in jeder erdenklichen Form. Jahr für Jahr sprießen frische Keimlinge aus dem Boden, die zunächst nur aus einem Stämmchen bestehen. Dieses teilt sich jedoch später in einige Hauptäste, von denen dann Seitenäste abgehen; aus ihnen treiben schließlich die Zweige aus.

Als ich dieses Wachstum vor etwa 20 Jahren mit den Augen eines Chemikers betrachtete, fragte ich mich, ob man nicht vielleicht auch große, genau definierte Moleküle entwerfen könnte, indem man an eine Ausgangsverbindung nacheinander Äste, Seitenäste und Zweige anfügt. Diese Vorstellung reizte mich sofort in theoretischer wie praktischer Hinsicht; doch erst Ende der siebziger Jahre fand ich einen Weg, sie zu verwirklichen. Heute sind mit meinem und anderen, ähnlichen Verfahren vielfach verzweigte Moleküle in Proteingröße herstellbar, die eine Fülle biologischer Strukturen nachbilden; sie werden allgemein als Dendrimere bezeichnet – eine Verschmelzung aus dem griechischen Wort für Baum (dendron) und dem Begriff Polymer, der sich seinerseits von griechisch poly (viel) und meros (Teil) ableitet, also vielteilig bedeutet. Es gibt gute Gründe für die Vermutung, daß diese synthetischen Konstrukte auf zahlreichen Gebieten von der Medizin bis zum Umweltschutz von Nutzen sein werden.

Als Ergebnis der Evolution verfügt die Natur seit langem über ausgefeilte Methoden, für die unübersehbar vielfältigen Lebensprozesse jeweils Moleküle geeigneter Struktur und Funktion herzustellen. Auch in der Chemie sucht man seit vielen Jahren nach immer neuen, noch wirksameren Verfahren, molekulare Gebilde mit speziellen Eigenschaften gezielt zu erzeugen. Organische Chemiker sind inzwischen Meister darin, die Synthese kleiner komplizierter Moleküle zu steuern; definierte große Moleküle zu konstruieren hat sich dagegen als wesentlich schwieriger erwiesen.

Die Idee, durch kontrolliertes molekulares Wachstum extrem große Verbindungen herzustellen, geht zurück auf Hermann Staudinger (1881 bis 1965, Nobelpreis 1953). Ihm gelang es in den dreißiger Jahren an der Universität Freiburg, identische Untereinheiten (Monomere) zu langen, spaghettiartig verknäulten Strängen zu verketten, die er Polymere nannte. Dies war der erste erfolgreiche Versuch, Riesenmoleküle aus wohldefinierten kleineren Bausteinen zusammenzusetzen. Allerdings ließ sich die Länge der Polymere kaum beeinflussen: Sie überdeckte die gesamte Spanne von millionstel Millimetern bis zu einigen Zentimetern, also vom mikroskopischen bis zum makroskopischen Bereich. Dennoch haben solche Zufallsknäuel-Polymere interessante und wertvolle Eigenschaften; viele alltägliche Gebrauchsgüter sind daraus gemacht, etwa der Styropor-Schaumstoff von Isolierungen, das Polyethylen der Plastiktüten oder Plexiglas.

Rund zehn Jahre später ermöglichten Paul J. Flory (1910 bis 1985, Nobelpreis 1974) an der Cornell-Universität in Ithaca (US-Bundesstaat New York) und Walter H. Stockmayer am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge die Herstellung noch größerer Moleküle mit einer genauer festgelegten Geometrie.

Dazu koppelten sie die linearen Zufallsknäuel-Polymere an verschiedenen Stellen entlang der Kette mit molekularen Brücken aneinander. Diese Quervernetzung liefert starre dreidimensionale Strukturen, die sich nicht mehr entwir-ren lassen und in den meisten Flüssigkeiten unlöslich sind; deshalb werden sie beispielsweise als Beschichtungsmaterial auf Bootsrümpfen aus Fiberglas, in Urethan-Schäumen und in Epoxidharz-Lacken eingesetzt.

Aber auch in quervernetzten Polymeren sind die Monomere zu mäanderartigen Molekülketten unterschiedlicher Länge verbunden, deren genaue Anordnung Chemiker unmöglich vorherbestimmen können. Meine Idee Mitte der siebziger Jahre war, eben das zu ändern. Wie sich Größe und Struktur eines synthetischen Makromoleküls festlegen lassen, fand ich jedoch erst heraus, nachdem ich 1979 eine überraschende Entdeckung gemacht hatte.


Die magische Wirkung von Methanol

Eines Tages wandelten meine Mitarbeiter und ich unser Standardverfahren zur Herstellung bestimmter Zufallsknäuel-Polymere, die als Polyamidoamine bezeichnet werden, geringfügig ab. Normalerweise gossen wir einfach die beiden flüssigen Monomere Methacrylsäure (CH2=C(CH3)-COOH) und Ethylendiamin (NH2-CH2-CH2-NH2) zusammen und rührten das Gemisch. An diesem Tag jedoch fügten wir Methanol (CH3OH) als Lösungsmittel hinzu, um das Rühren zu erleichtern. Nach unserem chemischen Verständnis sollte der Alkohol weder mit den Monomeren reagieren noch die Reaktion sonstwie beeinflussen.

Zu unserem großen Erstaunen erhielten wir jedoch nicht dasselbe Zufallsknäuel-Polymer wie sonst. Normalerweise verbanden sich Methacrylsäure und Ethylendiamin im Verhältnis eins zu eins zu einem langen zusammenhängenden Strang, in dem sich die beiden Bausteine regelmäßig abwechseln. Als wir jedoch das in Methanol erzeugte Produkt analysierten, fanden wir nur kurze, getrennte Einheiten aus Ethylendiamin mit je zwei Methacrylsäuregruppen an jedem Ende. Das vermeintlich harmlose Lösungsmittel hatte die Reaktion also sehr wohl beeinflußt. Offenbar erleichterte es die Abspaltung der Wasserstoffatome am Stickstoff, so daß nicht nur eines, sondern gleich alle beide durch Methacrylsäure ersetzt wurden.

Um diesen seltsamen Effekt genauer zu erforschen, gaben wir in einem weiteren Versuch zu dem ungewöhnlichen Reaktionsprodukt zunächst wiederum Ethylendiamin und dann Methacrylsäure. Dabei entstand eine kompliziertere Substanz, die zwölf Methacrylsäure- und fünf Ethylendiamin-Einheiten enthielt. Mir ging schnell auf, daß diese Methode möglicherweise dazu dienen könne, sich verzweigende Moleküle zusammenzusetzen, wie ich sie mir seinerzeit in den Wäldern Michigans ausgemalt hatte. Sie wären ganz anders aufgebaut als die langen Ketten aus Monomeren in den klassischen Zufallsknäuel- und quervernetzten Polymeren.

Als ich die Verzweigungsmuster jener Bäume betrachtete, dachte ich an ein Molekülwachstum, bei dem stufenweise immer größere, symmetrische Strukturen entstünden – ähnlich wie sich in jungen Kronen durch das alljährliche Austreiben schrittweise neue Verzweigungen entwickeln (Bild 2). Auf die reaktive Stelle einer Ausgangsverbindung könnte ein zweites, lineares Molekül aufgesetzt werden, das den Stamm bildet. Wenn man an dessen Ende zwei weitere ähnliche Moleküle befestigte, entstünde ein Y-förmiges Gebilde. Durch mehrfache Wiederholung dieses Vorgangs, wobei jeweils zwei Moleküle an die Gabelspitzen eines jeden Y angehängt würden, ergäbe sich rasch eine vielarmige Struktur mit wohldefinierter Größe und genau festgelegter Anordnung der Monomere.

Dieses Bauprinzip erzeugt eine völlig neue Polymerarchitektur, in der konzentrische Schichten von Monomeren – ähnlich den Häuten der Zwiebel – um ein einzelnes zentrales Molekül (den "Initiator-Kern") herum angeordnet sind. Während sich von innen nach außen weitere Schalen anlagern, bildet sich eine selbstähnliche, fraktale Struktur, in der die kleinen Ys aus Monomer-Tripletts jeweils in größeren Einheiten wiederkehren. Ingesamt entstehen sternförmige Gebilde (siehe Titelbild), die wir deshalb anschaulich Weihnachtsstern-Den-drimere (englisch starburst dendrimers) genannt haben.

Als Initiator-Kern kann man zum Beispiel ein Ammoniak-Molekül verwenden, das aus einem zentralen Stickstoffatom und drei daran gebundenen Wasserstoffatomen besteht. Diese werden zunächst in genügend Methanol als Lösungsmittel vollständig durch Methacrylsäure ersetzt. Danach fügt man als zweites Monomer Ethylendiamin zu, das sich an die Spitze der drei Methacrylsäure-Einheiten heftet. Da Ethylendiamin eine Amino-Gruppe (-NH2) an seinem ungebundenen Ende trägt, münden nun alle drei von der zentralen Ammoniak-Struktur ausgehenden Zweige in ein Stickstoffatom, von dem zwei Wasserstoffatome abstehen. Die drei äußersten Spitzen ähneln also dem Ammoniak-Molekül, das als Ausgangsverbindung diente, außer daß nach Abschluß der ersten Reaktionsrunde insgesamt sechs und nicht nur drei Wasserstoffatome für die Umsetzung mit weiteren Methacrylsäure-Monomeren zur Verfügung stehen.

Die nächste Runde verläuft völlig analog. Nachdem die sechs Wasserstoffatome der drei Amino-Gruppen durch Methacrylsäure-Moleküle ersetzt sind, bindet man wiederum Ethylendiamin an jedes dieser Monomere und vervollständigt so die zweite Schale des Dendrimers. An den Enden der sechs Ethylendiamin-Gruppen stehen nun zwölf Wasserstoffatome für den Aufbau der dritten Schale bereit. In jeder Reaktionsrunde verdoppelt sich also die Zahl der Anknüpfungspunkte, was einem exponentiellen Wachstum entspricht.

Dagegen nimmt der verfügbare Raum nur mit der dritten Potenz des Dendrimer-Radius zu. Deshalb wird es irgendwann zu eng für weitere Verzweigungen, so daß sich – wie wir bald herausfanden – insgesamt nur neun bis zehn vollständige Schalen anbringen lassen.


Einstellbare Eigenschaften

Dennoch entstehen nach diesem Verfahren außerordentlich große Makromoleküle; einige sind fast eine Million mal so schwer wie ein Wasserstoffatom (dessen Atommasse ungefähr eins beträgt) und haben mehr als den 300fachen Durchmesser (Bild 3). Zugleich enthält die äußerste Schicht Hunderte bis Tausende reaktiver Molekülteile. Diese funktionellen Gruppen leiten sich normalerweise von den Monomeren ab, die zum Aufbau des Dendrimers verwendet wurden; man kann aber auch nachträglich andere anfügen, wenn die beabsichtigte Anwendung dies erfordert.

Da Dendrimere sehr regelmäßige und vorhersagbare Wachstumsmuster aufweisen, lassen sich also nicht nur ihre Größe, Form und innere Struktur, sondern auch die Eigenschaften ihrer Oberfläche steuern. Damit kann man zugleich beeinflussen, wie sie mit anderen Molekülen reagieren. Insgesamt hat man ein Ausmaß an Kontrolle, das bei herkömmlichen Makromolekülen undenkbar scheint. Dies ist einer der größten Vorzüge der baumartigen Verbindungen.

Hauptsächlich hängen die physikalischen und chemischen Eigenschaften eines Dendrimers davon ab, welche Bausteine man zu seiner Herstellung verwendet. So wird die Größe von der Anzahl der Schalen bestimmt sowie von der Länge der Äste in jeder Schale und dem Gabelungswinkel. All diese Merkmale ergeben sich aus der chemischen Zusammensetzung der Monomere.

Maßgeblich für die endgültige Struktur ist aber auch der Initiator-Kern. Während die ersten Dendrimere von Ammoniak ausgingen, haben wir seither nicht nur Ammoniak-Derivate, sondern auch ganz andere Substanzklassen erprobt – darunter Phosphor- oder Siliciumverbindungen, Benzolringe und Kohlenstoffketten mit Ein- oder Mehrfachbindungen, an denen gegebenenfalls Wasserstoff- oder teils auch Sauerstoffatome hingen. Jede Kombination von Kernmolekül und Monomer liefert eine einzigartige Dendrimerstruktur mit charakteristischen Eigenschaften. Wenn der Initiator zum Beispiel ein Ammoniak-Derivat ist, das nur ein freies Wasserstoffatom enthält, dann ähnelt das resultierende Dendrimer einem Pilzhut statt einem kugelförmigen Weihnachtsstern; bei zwei freien Wasserstoffen wiederum ergibt sich ein nierenförmiges Gebilde.

Wie es in der Wissenschaft oft geschieht, waren wir nicht die einzigen, die das neuartige Prinzip entdeckten. Fritz Vögtle und seine Gruppe an der Universität Bonn arbeiteten ungefähr zur selben Zeit an der Konstruktion ähnlicher Substanzen. (Vögtles Gruppe hatte bereits 1978 über eine erfolgreiche Synthese berichtet, die auf der Idee einer schrittweisen Verästelung beruhte; Tomalia beantragte sein Patent ein Jahr später. Die Redaktion) Nach der Herstellung unserer ersten Dendrimere erfuhren wir, daß die deutschen Forscher mit einer Vervielfältigungschemie, die der unseren ähnelte, kleine verzweigte Strukturen erzeugt hatten, die sie Kaskadenmoleküle nannten. Dabei waren sie von einem Derivat des Ammoniaks (einem Amin) ausgegangen, an das sie zwei Acrylnitril-Moleküle hängten; deren freie Enden wurden dann zu Amin-Gruppen hydriert, an die jeweils erneut zwei Acrylnitril-Moleküle geknüpft werden konnten. Andere deutsche und niederländische Wissenschaftler zeigten später auf, daß sich mit dieser Methode auch große Dendrimere gewinnen lassen, sofern man einen anderen Katalysator verwendet.

Seit 1979 haben viele Wissenschaftler mit Verfahren, die denen von uns und Vögtles Gruppe ähneln, dendritische Supermoleküle synthetisiert. Im Jahre 1985 führte George R. Newkome von der Universität von Südflorida in Tampa eine alternative Art der Vervielfältigungschemie ein, um verästelte Moleküle mit einem reinen Kohlenwasserstoff-Skelett herzustellen, die er Arborole nannte (nach lateinisch arbor, Baum).

Einen weiteren interessanten Ansatz zur Dendrimer-Synthese haben 1989 Jean M. J. Fréchet und Craig J. Hawker von der Cornell-Universität sowie unabhängig davon ein Jahr später Timothy M. Miller und Thomas X. Neenan von den AT&T-Bell-Laboratorien in Murray Hill (New Jersey) vorgeschlagen. Anstatt die Moleküle von innen nach außen aufzubauen, konstruierten diese Chemiker zunächst die Zweige, setzten daraus kleinere und aus diesen dann größere Äste zusammen und so weiter, bis sie die kompletten Subeinheiten mit dem Kernmolekül verbinden konnten. Diese konvergente Synthese hat gegenüber der divergenten den Vorteil, daß sich auf jeder Stufe unvollständige Produkte leichter abtrennen lassen, weil sie sich in Größe und Molekulargewicht wesentlich stärker von den korrekt gebildeten Molekülen unterscheiden.

Wurden zwischen 1980 und 1990 noch weniger als ein Dutzend Arbeiten über Dendrimere veröffentlicht, hat das Interesse an ihnen in den letzten Jahren immens zugenommen. Gut 20 Arten von Dendrimer-Familien mit mehr als 100 verschiedenen Oberflächen sind inzwischen beschrieben worden. Offenbar eignen sich die unterschiedlichsten Monomere – darunter sogar Metalle – zur Herstellung baumartiger Verbindungen. Des weiteren scheint sich jede erdenkliche funktionelle Gruppe, die für eine bestimmte Eigenschaft oder Aufgabe gebraucht wird, an die Oberfläche eines Dendrimer-Moleküls binden zu lassen.

Parallelen in der Natur

Wenngleich die Chemie primär vom Verbinden und Umordnen von Atomen handelt, sind ihre Ergebnisse doch auch ein Abbild grundlegender hierarchischer Strukturen in unserer Welt. Ordnungsprinzipien, denen Atome und Moleküle unterliegen, finden sich überall in der Natur – angefangen von den Verzweigungsmustern von Bäumen oder Korallen bis zu den Verästelungen der Bronchien oder Blutgefäße im menschlichen Körper. Die Bedeutung dieser allgegenwärtigen Muster ist nicht völlig klar, doch bieten sie faszinierenden Stoff zum Nachdenken.

Zum Beispiel gibt es interessante Ähnlichkeiten im Aufbau von Dendrimeren und Atomen. Beide haben eine Schalenstruktur, und die Besetzung dieser Schalen gehorcht bestimmten arithmetischen Gesetzmäßigkeiten. So wächst die Anzahl der Monomere in einem Dendrimer mit Ammoniak-Kern strikt nach der Folge 3, 6, 12, 24, 48 und so weiter. Ähnliches gilt für die Anordnung der Elektronen um den Atomkern, die sich in den Regelmäßigkeiten des Periodensystems der Elemente widerspiegelt; hier erhält man für aufeinanderfolgende Schalen die Zahlenreihe 2, 8, 18, 32.

Parallelen bestehen desgleichen zu biologischen Entwicklungsmustern. So entspricht das Wachstum von Dendrimeren dem eines sich entwickelnden Embryos, dessen Zellzahl sich, ausgehend von der befruchteten Eizelle, in einer Reihe von Teilungsschritten jeweils verdoppelt. Und wie der Initiator-Kern des Dendrimers dessen endgültige Struktur bestimmt, legt die genetische Ausstattung der Keimzellen den Aufbau des gesamten Organismus fest.

Diese Ähnlichkeiten zwischen den fraktalen Makromolekülen und Atomen oder Lebewesen können sehr wohl auch von praktischer Bedeutung sein. So legen sie nahe, daß sich Dendrimere – einzeln oder auch in größeren Verbänden – als synthetische Nachbauten von biologischen Substanzen eignen. Hinzu kommt, daß sie ungefähr dieselbe Größe haben wie Enzyme, Antikörper, DNA, RNA und Viren.


Anwendungsmöglichkeiten

Immer wieder können wir Wissenschaftler nur staunend bewundern, wie lebende Systeme selbst unsere fortschrittlichsten Methoden, Atome zu hochkomplexen Verbindungen zusammenzusetzen, weit übertreffen. Zwar ist die Dendrimer-Synthese nur eine von mehreren Möglichkeiten, Moleküle im biologischen Größenbereich herzustellen; dennoch scheint sie eine ideale Grundlage für das zu sein, was ich gerne als eine neue, nanoskopische Chemie bezeichne – geeignet für den Aufbau komplizierter Strukturen, die es Substanzen der belebten Natur in Größe, Form und Funktion gleichtun.

Einen von zahlreichen Hinweisen auf vielversprechende praktische Anwendungsmöglichkeiten für Dendrimere ergaben kürzlich gemeinsame Arbeiten meiner Gruppe und der von James R. Baker jr. im Klinikum der Universität von Michigan in Ann Arbor. Ähnliche Ergebnisse erhielten unabhängig von uns Francis C. Szoka jr. und seine Kollegen an der Universität von Kalifornien in San Francisco. Danach könnten fraktale Moleküle eines Tages in der Gentherapie als Vehikel zum Einschleusen von DNA-Sequenzen in lebende Zellen dienen.

Die DNA-transportierenden Strukturen, die wir fabrizierten, ähneln den Nucleosomen, auf die im Zellkern die DNA aufgespult ist (Bild 4). Sie kommen diesen Proteinkügelchen in Form und Grö-ße so nahe, daß sich längere Stücke des Erbmoleküls auch um sie herumwickeln. Unsere Test-DNA enthielt die genetische Sequenz für das Enzym Luciferase, das Glühwürmchen leuchten läßt. Wird dieses Gen in eine beliebige Zelle transferiert und bleibt dort funktionstüchtig, beginnt sie bei Zugabe von Luciferin gleichfalls zu lumineszieren.

Wir kombinierten in Petrischalen-Experimenten nucleosom-ähnliche Dendrimere und das Luciferase-Gen mit nahe-zu 30 verschiedenen Zelltypen verschiedener Spezies, einschließlich des Menschen. In fast allen Fällen transportierte das Dendrimer das genetische Material in die Zelle, wo daraufhin Luciferase produziert wurde. Wie es zusammen mit der DNA die Zellmembran durchdringt, ist uns allerdings noch nicht ganz klar.

Auch aus anderen Gründen sehen wir ein großes Potential für Dendrimere in der Gentherapie. So können sie derart konstruiert werden, daß sie bevorzugt an bestimmten Zellen andocken. Wenn man etwa Zucker- oder Protein-Gruppen an ihrer Oberfläche befestigt, binden sie sich leichter an gewisse Zellmembranen als an andere. Durch geeignete Auswahl der Zusätze sollte sich eine Dendrimer-DNA-Kombination also zu Zellen eines gewünschten Typs dirigieren lassen. Viele Forschungsgruppen entwickeln auch Methoden zum Transport anderer Substanzen, etwa von Arzneistoffen, zu ausgewählten Zielorten im Körper.

Schließlich verdient ein weiterer Aspekt Beachtung. Um Gene in Zellen einzuschleusen, benutzt man heute oft modifizierte Viren. Im Körper lösen diese allerdings normalerweise eine Immunreaktion aus, durch die sie abgefangen werden, bevor sie mit dem genetischen Material den Zielort erreicht haben. Eine Überreaktion des Abwehrsystems kann sogar den Patienten gefährden. Dendrimere haben bei keiner unserer Laborstudien eine derart heftige Immunattacke ausgelöst.

Im Dezember vergangenen Jahres entdeckten Gerard van Koten und seine Arbeitsgruppe an der Universität Utrecht (Niederlande) eine weitere Anwendungsmöglichkeit für Dendrimere, die große Bedeutung für die chemische Industrie haben könnte. Die meisten großchemischen Prozesse erfordern Katalysatoren, um effizient genug abzulaufen. Nun lassen sich auf einem Dendrimer viele katalytisch wirksame Stellen anbringen, so daß es zahlreichen Molekülen gleichzeitig zur Reaktion verhelfen kann. Dabei vereinigt es die Vorteile der löslichen (homogenen) und der unlöslichen (heterogenen) Katalysatoren in sich. Einerseits sind Dendrimere nämlich in der Regel klein genug, daß sie im Reaktionsgemisch in gelöster Form vorliegen, was die Katalyse vereinfacht. Andererseits aber sind sie wiederum so groß, daß sie sich anschließend leicht durch Filtration abtrennen und wiederverwerten lassen.

Die Möglichkeit, an die Oberflächen von Dendrimeren Substanzen zu binden, die als Katalysatoren oder Molekülsonden dienen können, hat auch das Interesse von Mitarbeitern der Forschungslaboratorien der US-Armee geweckt. So untersuchen H. Dupont Durst und sein Team zusammen mit uns, wie solche Verbundstrukturen zum Aufspüren gefährlicher biologischer oder chemischer Stoffe einzusetzen wären.

Ob in der chemischen Industrie, der Gentechnik, der medikamentösen Therapie oder im Umweltschutz – Dendrimere könnten sich als Supermoleküle von enormer Vielseitigkeit erweisen, deren Eigenschaften sich in bislang nicht gekanntem Maße auf den jeweiligen Anwendungszweck zuschneiden lassen. Noch haben wir kaum begonnen, das Potential dieser faszinierenden neuen Art von Polymeren zu erschließen.

Literaturhinweise

- Starburst-Dendrimere: Kontrolle von Größe, Gestalt, Oberflächenchemie, Topologie und Flexibilität beim Übergang von Atomen zu makroskopischer Materie. Von D. A. Tomalia, A. M. Naylor und W. A. Goddard in: Angewandte Chemie, Band 102, Heft 2, Seiten 119 bis 157; Februar 1990.

– Dendrimere, Arborole und Kaskadenmoleküle: Aufbruch zu neuen Materialien im Generationentakt. Von H.-B. Mekelburger, W. Jaborek und F. Vögtle in: Angewandte Chemie, Band 104, Heft 12, Seiten 1609 bis 1614; Dezember 1992.

– Dendrimere – neue Sterne am Himmel der Chemie? Von J. Breitenbach in: Spektrum der Wissenschaft, September 1993, Seiten 26 bis 30.

– Functional Polymers and Dendrimers: Reactivity, Molecular Architecture, and Interfacial Energy. Von Jean M. Fréchet in: Science, Band 263, Seiten 1710 bis 1715; 25. März 1994.

– Starburst/Cascade Dendrimers: Fundamental Building Blocks for a New Nanoscopic Chemistry Set. Von Donald A. Tomalia in: Advanced Materials, Band 6, Heft 7/8, Seiten 529 bis 539; Juli/August 1994.

– Dendrimere: von Generationen zu Funktionalitäten und Funktionen. Von J. Issberner, R. Moors und F. Vögtle in: Angewandte Chemie, Band 106, Seiten 2507 bis 2514; 19. Dezember 1994.

– Erste Anwendungen für Dendrimere – Kaskadenmoleküle als Katalysatoren und Käfige. Von Michael Groß in: Spektrum der Wissenschaft, Juni 1995, Seiten 30 bis 32.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1995, Seite 42
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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