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Der automatische Postbote

An der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich ist ein mobiler Roboter im Einsatz, der verschiedene Institute mit Hauspost beliefert. Er kann frei navigieren, Fahrstuhl fahren, unvorhergesehenen Hindernissen ausweichen und ist lernfähig. Außer technischen Aspekten steht die Integration in die Arbeitswelt im Vordergrund der Entwicklung.

Mobile Roboter in der industriellen Anwendung vermögen derzeit lediglich induktiven oder optischen Leitlinien – also vorgegebenen Wegen – zu folgen. Dadurch sind sie in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt und können weder Hindernissen ausweichen noch sich auf Änderungen in ihrer Umgebung einstellen. Diese Flexibilität ist aber eine wesentliche Voraussetzung für ihren Einsatz auf neuen Feldern – etwa im Bauwesen, in der Land- und Forstwirtschaft, zur automatisierten Reinigung von Bahnhöfen und Eisenbahnwagen oder zur Inspektion und zum Arbeiten in menschenfeindlicher Umgebung.

In der Mobilrobotik sucht man darum unter anderem Navigationssysteme zu entwickeln, die ein Fahren nach Karten und künstlichen oder natürlichen Wegzeichen ermöglichen. Auch die Europäische Union fördert in den EUREKA-Projekten FIRST und AMR-DEF die Entwicklung von Krankenhaus-Servicerobotern beziehungsweise von Interventions-Automaten für kerntechnische Anlagen.


Das MOPS-Konzept

An der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich haben meine Mitarbeiter und ich als Modellsystem die Technologie- und Forschungsplattform MOPS (Mobiles Postverteilungs-System) entwickelt: einen Roboter, der Post zwischen einer zentralen Stelle im Erdgeschoß des neuen Laborgebäudes für Mechatronik und Produktion und einzelnen Instituten im Hause befördert. Dazu entnimmt er Kisten, in welche die Sendungen für ein bestimmtes Institut jeweils von Hand einsortiert wurden, und verteilt sie auf bislang fünf der zehn Stockwerke. Zugleich sammelt er die Behälter mit abgehender Post ein und stellt sie am Ende an der Zentralstelle ab.

Der Tourenplan ist vorgegeben, kann aber bei Bedarf zentral oder sogar vor Ort geändert werden. Pro Fahrt vermag der Roboter zwei Institute zu bedienen. Um in die oberen Stockwerke zu gelangen, holt er sich den Lastenaufzug, fährt hinein und wählt das Ziel – alles per Infrarot- oder Druckschaltersteuerung, die auch zum Öffnen geschlossener Türen dient.

Welche Kiste wohin gehört, entscheidet MOPS vorerst nur danach, in welchem Fach sie abgestellt wurde. Es wäre allerdings kein Problem, ein Erkennungssystem wie einen Barcode-Leser einzurichten. Das Lesen von Beschriftungen etwa an den Behältern, Postfächern, Türen oder am Lift ist bereits Gegenstand von Studienarbeiten.


Gerätetechnik

Das Fahrzeug ist etwa 60 Zentimeter breit, 90 Zentimeter lang und 60 Zentimeter hoch, wiegt 90 Kilogramm und kann eine Nutzlast von 50 Kilogramm befördern. Zwei unabhängig voneinander elektrisch angetriebene Räder und ein passives Schlepprad geben ihm die erforderliche Wendigkeit. Es fährt normalerweise etwa 0,6 und aus Sicherheitsgründen nie schneller als einen Meter pro Sekunde. Die Batterien reichen für einen Betrieb von etwa vier Stunden. Bei Bedarf fährt MOPS selbständig seine Ladestation an, an der er auch nachts steht.

Ein aufgebauter Manipulator kann zwei handelsübliche Plastikkisten mit Postmaterial bis zum B4-Format aufnehmen und handhaben. Der zugehörige Greifer schiebt die maximal 15 Kilogramm schweren Container auf höhenverstellbaren Schienen in eine Station ein oder holt sie dort ab. Dazu wurden die Postfächer als Einschübe in Schränke auf den Gängen eingebaut, die Platz für mindestens zwei Kisten haben; sie sind mit Rolläden verschlossen, die MOPS wiederum per Infrarotsteuerung öffnet und schließt (Bild 1). Der Roboter erkennt, ob ein Postfach belegt ist oder die Behälter schief stehen und wie er sie dementsprechend zu greifen hat.

Die im Fahrzeug untergebrachte Steuerung besteht aus derzeit zwei verschalteten Motorola-68040-Prozessoren (wie sie standardmäßig in Macintosh-PCs eingebaut sind) sowie einem Betriebssystem, das auf der objektorientierten Hochsprache OBERON aufbaut, einer Weiterentwicklung der Programmiersprache PASCAL. Dieses früher bereits entwickelte Steuerungssystem wird inzwischen von einer Spin-off-Firma der Hochschule kommerziell vertrieben.


Signalgewinnung und -verarbeitung

Um sich in seiner Umwelt zurechtzufinden, verfügt MOPS über eine Reihe von Sensoren. Beispielsweise befinden sich auf den Antriebsachsen Tachometer, die den zurückgelegten Weg abschnittsweise feststellen. Allerdings summieren sich bei dieser Odometrie genannten Positionsbestimmung Fehler mit der Zeit; bei komplizierten Manövern können beispielsweise die Räder, vom Sensor unbemerkt, durchrutschen. Um die Position regelmäßig zu korrigieren, werden deshalb Abstände zu den Wänden vermessen und mit den Angaben einer gespeicherten Karte verglichen (Bild 2).

Zum groben Abschätzen dieser Distanzen dienen zwölf Ultraschallsensoren, die rund um das Fahrzeug angebracht sind und auch Hindernisse anzeigen. Genauere Daten liefern zwei Laserscanner. Diese senden infrarote Lichtblitze aus und ermitteln aus der Laufzeit der an Objekten im Meßbereich reflektierten Strahlen deren Entfernung. Sie sind jeweils nach vorne und hinten gerichtet und tasten fächerförmig die Umgebung ab. Um auch kleine Hindernisse am Boden sowie Treppenabsätze und Schwellen zu erfassen, sind sie leicht nach unten geneigt. Der Sehwinkel beträgt insgesamt 180 Grad, wobei ein Schwenk ungefähr 0,05 Sekunden dauert; bis zu etwa fünf Metern Entfernung werden Gegenstände auf rund fünf Millimeter und auf ein halbes Grad genau festgestellt. Derzeit wird ein LIDAR-System (nach englisch light detection and ranging) entwickelt, das in allen drei Raumdimensionen zu scannen vermag.

Schwieriger als das Messen ist allerdings die anschließende Verarbeitung der Daten – etwa 20 Studienarbeiten und zwei Dissertationen wurden dazu bislang angefertigt – und das Einleiten der richtigen Aktionen. Um aus dem zurückgelegten Weg und den Meßwerten der Laserscanner die aktuelle Position zu ermitteln, vergleicht ein Programm die Daten mit den Ortsangaben charakteristischer geometrischer Konturen wie Wänden, Ecken und Säulen, wie sie aufgrund eines vorher eingegebenen einfachen Gebäudegrundrisses zu erwarten wären. Das geschieht während des Fahrens mit einer Taktzeit von weniger als 0,5 Sekunden.

Dieses Ortswissen dient einerseits im Rahmen der längerfristigen Routenplanung zur Entscheidung, welche Station als nächstes anzufahren ist. Andererseits ermöglicht es dem Roboter ein situationsgerechtes Verhalten – beispielsweise beim Andocken oder Ausweichen. Dazu beurteilt der Verhaltens-Selektor eines lokalen Planers anhand der Sensorsignale oder deren Kombination, ob die vorliegende Situation ein reguläres Manöver erfordert oder ein Ausnahmefall ist (Bild 3). Dann sucht er aus einem Repertoire an vorgegebenen Verhaltensweisen eine angemessene Aktion aus.

Der Selektor ist ein lernfähiges neuronales Netz, das auch unscharfe Regeln (fuzzy logic) verarbeiten kann (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Juni 1995, Seite 34; März 1993, Seite 90, und März 1992, Seite 31). Auf ein Hindernis schließt er etwa, wenn die Meßwerte nicht zu den Kartenangaben passen. Er bewertet die Situation dann nach pragmatischen Regeln; entsprechend dem Ergebnis kann der Roboter entweder stehenbleiben und kurz warten oder Signal geben und langsam weiterfahren, wobei er je nach Platz rechts oder links ausweicht. Löst keine vorprogrammierte Reaktion das Problem, fordert er Hilfe an.

Derzeit arbeiten wir an einem Sensorsystem, das Menschen von unbelebten Objekten zu unterscheiden vermag; dazu werden Videobilder nach charakteristischen Bewegungen analysiert und zusammen mit den Daten von Infrarotdetektoren oder gegebenenfalls auch Geruchssensoren ausgewertet.

Die Ausführung der vorgeschlagenen Handlungen übernehmen klassische oder Fuzzy-Logic-Regler. Sie steuern beide Antriebsräder so, daß Manöver wie Andocken an eine Post- oder Batteriestation, Wenden, Einfahren in den Fahrstuhl, Umfahren eines Hindernisses oder Durchfahren einer Türöffnung problemlos ablaufen.


Integration in die Arbeitsumgebung

Etwa 40 Prozent des gesamten Entwicklungsaufwands gelten der Integration des MOPS in seine Umgebung. Dazu gehört, den Roboter in die Logistik der Postverteilung an der ETH einzubeziehen und ihn mit Peripheriegeräten wie Poststationen, Türen und Fahrstuhl abzustimmen. Außerdem müssen Ausfall-Szenarien und Sicherheitsmaßnahmen erarbeitet sowie Vorrichtungen zur Kommunikation des Geräts mit einer Notrufstelle, zur Interaktion mit Menschen, zur Bedienung und zur einfachen Wartung entwickelt werden. Schließlich ist die paradoxe Frage zu lösen, ob und wie sich das Verhalten in Ausnahmesituationen systematisieren läßt.

Zur Klassifikation solcher Situationen nutzen wir gängige Methoden der Maschinendiagnostik (failure modes, effects and criticality analysis, FMECA), die auf dem Auffinden aller denkbaren Fehlerfälle und deren Bewertung hinsichtlich ihrer Konsequenzen beruht. Die Kommunikation erfolgt derzeit drahtlos via Internet: Bei Bedarf schickt der Roboter eine Statusmeldung als E-Mail auf den Arbeitsplatzrechner seines Betreuers. Setzt die Maschine zu einem besonderen Manöver an, gibt sie vorher Signale und tut ihre Absichten über eine Sprachausgabe kund.

Trotz all dieser Fähigkeiten ist MOPS kein autonomer Roboter; absolute Selbständigkeit hatten wir aber auch nie angestrebt. Damit die Maschine ein nützliches Werkzeug des Menschen ist, muß sie Aufträge entgegennehmen und mit ihrem Benutzer kommunizieren können. Diese Unterordnung unter menschliche Befehle erlaubt nur eine Teilautonomie bei eng umgrenzten Aufgaben. Das Verhältnis zwischen dem Menschen und einer quasi intelligenten Maschine zu untersuchen und zu gestalten ist darum eines unserer primären Forschungsziele.

Unter diesem Aspekt interessiert uns denn auch die Akzeptanz eines solchen Geräts bei den Betroffenen. Deshalb führten wir gemeinsam mit dem Institut für Arbeitspsychologie der ETH entsprechende Befragungen bei Sekretariaten, Hausmeistern und Studenten durch. Sie erbrachten ein breites Spektrum von Ansichten, das von Begeisterung über unrealistisch hohe Erwartungen bis zu genereller Ablehnung reichte; insgesamt war das Ergebnis jedoch ernüchternd. Offenbar wird das Postverteilen durchaus als sinnvolle menschliche Tätigkeit empfunden, deren Übernahme durch einen seelenlosen Automaten Unbehagen weckt. Beim Einsatz von Mobilrobotern für gefährliche oder unangenehme Arbeiten fiele das Urteil aber sicherlich anders aus.

Das MOPS wird derzeit stufenweise erprobt und soll bis Ende dieses Jahres den vollen Betrieb erreichen. Erweiterungen auf ein direkt anschließendes Nachbargebäude sind vorgesehen. Wir erhoffen uns davon weitere grundlegende Einsichten in die Funktion eines soziotechnischen Systems aus einem mobilen Dienstleistungs-Automaten und seiner belebten Umgebung – eine Konstellation, die künftig unsere Lebens- und Arbeitswelt prägen dürfte.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1996, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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