Der Sprachstammbaum der Ureinwohner Amerikas
Auf die alte Frage, wie Amerika besiedelt wurde, gibt es neuerdings eine linguistische Antwort. Die vielen Indianersprachen lassen sich zu nur drei Familien zusammenfassen; aus dieser Klassifizierung ist auf drei Einwanderungswellen aus Asien zu schließen.
Vor etwas mehr als 200 Jahren bemerkte Sir William Jones, ein in Indien dienender englischer Jurist, erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Sanskrit, Altgriechisch und Latein. Er äußerte 1786 die Vermutung, diese Sprachen und wahrscheinlich auch das Gotische und das Keltische seien "einer gemeinsamen Wurzel entsprungen, die vielleicht nicht mehr existiert". Im folgenden Jahrhundert gaben die Linguisten dieser hypothetischen Ursprache den Namen "Ur-Indogermanisch" (im englischen Sprachraum "Proto-Indo-European") und bemühten sich um ihre Rekonstruktion (vergleiche "Der Ursprung der indoeuropäischen Sprachfamilie" von Colin Renfrew, Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1989, Seite 114, "Die Frühgeschichte der indoeuropäischen Sprachen" von Thomas W. Gamkrelidse und Wjatscheslaw I. Iwanow, Mai 1990, Seite 130, und "Streit um Wörter" von Philip E. Ross, Juni 1991, Seite 92).
Jones selbst hat nie eine Silbe rekonstruiert. Seine Theorie beruhte auf der Beobachtung "größerer Ähnlichkeit sowohl in den Wurzeln der Verben als auch in den grammatischen Formen, als durch den bloßen Zufall hätte zustande kommen können" (Bild 2).
Diese Hypothese von der Evolution der Sprachen blieb auch den Forschern nicht verborgen, die sich für die Sprachen der Neuen Welt interessierten. Nur drei Jahre nach Jones' vieldiskutierten Äußerungen schrieb Thomas Jefferson (1743 bis 1826), der dritte Präsident der USA, Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und vielseitiger Gelehrter: "Ich bin bemüht, den Wortschatz aller amerikanischen Indianer wie auch den der Asiaten zu sammeln, in der Überzeugung, daß ihre gemeinsamen Vorfahren, wenn es sie je gab, in ihren Sprachen zu erkennen sein werden."
Doch obwohl die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts Hunderte von amerikanischen Sprachen identifizierten und sie in Familien einordneten, wagte keiner von ihnen eine alles umfassende Klassifikation, wie sie Jefferson vorschwebte. Vielmehr wuchs unter der traditionellen Beschreibungsweise die Anzahl der Familien bis auf 60 in Nord- und 100 in Südamerika, also auf weit mehr als in der Alten Welt; in Afrika beispielsweise gibt es nur vier Familien.
Das ist irritierend, denn normalerweise nimmt die taxonomische Vielfalt mit der Zeit zu. Demnach müßten die Sprachen Amerikas eine viel geringere Variation aufweisen, denn nach der weit überwiegenden Auffassung der Archäologen und anderer Wissenschaftler trat der anatomisch moderne Mensch vor mindestens 100000 Jahren in Erscheinung, wahrscheinlich in Afrika, und erreichte den amerikanischen Kontinent erst vor 20000 bis 12000 Jahren.
Anfang dieses Jahrhunderts versuchten die amerikanischen Anthropologen Alfred L. Kroeber (1876 bis 1960) und Edward Sapir (1884 bis 1939) als erste, diesen Widerspruch aufzulösen, indem sie die vielen amerikanischen Sprachen zu einer Handvoll großer Familien zusammenfaßten. Ihr Ansatz stieß auf heftige Kritik von Fachkollegen wie Franz Boas (1858 bis 1942), der mehr als vierzig Jahre lang an der Columbia-Universität in New York lehrte. Diese bezweifelten nicht ernsthaft die Ähnlichkeiten zwischen den amerikanischen Sprachgruppen, führten sie jedoch – im Gegensatz zu Kroeber und Sapir – nicht auf ein gemeinsames Erbe, sondern auf Diffusion, die Übernahme von Wörtern aus fremden Sprachfamilien, zurück.
Unsere Forschungen stützen die erste, die sogenannte genetische Hypothese. Einer von uns (Greenberg) fand, daß Hunderte amerikanischer Sprachen sich in nur drei Familien gruppieren, indem er die konservativsten Elemente in deren Wortschatz verglich. Jede dieser drei Familien ist einer asiatischen Sprachgruppe näher als den beiden anderen amerikanischen; daraus folgt, daß es zumindest drei voneinander unabhängige Einwanderungswellen von Asien her gegeben hat. Diese Hypothese wird durch anthropologische Forschungen bestätigt.
Die Traditionalisten, die unserer Klassifikation ablehnend gegenüberstehen, können keine bessere anbieten. Statt dessen sind sie überzeugt, durch einen in die Tiefe gehenden Vergleich von jeweils zwei Sprachen irgendwann zum wirklichen System vordringen zu können. Wir halten dieses binäre Verfahren für einen Irrweg. Um eine verwirrende Vielfalt von Sprachen – oder auch von Gesteinen oder Tieren – systematisieren zu können, muß man sie nicht paarweise, sondern in ihrer Gesamtheit vergleichen.
Zudem hat unser multilateraler Zugang bereits Erfolge aufzuweisen. Als ich (Greenberg) vor etwa 40 Jahren auf diese Weise die afrikanischen Sprachen klassifizierte, begegnete ich ebenfalls der Opposition der Traditionalisten, die mittlerweile jedoch allgemeiner Zustimmung gewichen ist.
Wer Sprachen paarweise vergleicht, läßt dabei unvermeidlich relevante Fakten außer acht. Die Verwandtschaft zwischen Englisch und Albanisch ist nicht erwiesen worden, indem man – was eher unergiebig gewesen wäre – die Gemeinsamkeiten der beiden Sprachen systematisch untersuchte, sondern indem man sie in das große System der indoeuropäischen Sprachen einordnete. Die Erforscher dieser Sprachfamilie haben denn auch den binären Ansatz nie verwendet.
Massenvergleich von Sprachen
Unser System der multilateralen Analyse deckt gerade die Beziehungen auf, die bei einem Paarvergleich der Aufmerksamkeit zu entgehen pflegen. Es geht eher in die Breite als in die Tiefe. Für Hunderte von Sprachen untersuchen wir eine Liste von einigen hundert Allerweltswörtern: Personalpronomina, Körperteile und Begriffe aus der Natur wie Wasser und Feuer. Weil eine Sprachgemeinschaft derartige Begriffe – im Gegensatz etwa zu solchen für exotische Früchte oder Artefakte – in aller Regel nicht von anderen lernt, wird sie selten die zugehörigen Wörter entlehnen. Das Englische zum Beispiel bestätigt diese Regel. Obwohl es viele Wörter aus vielen Sprachen entlehnt hat, stammt der größte Teil seines Grundwortschatzes aus dem Urgermanischen. Die Ähnlichkeit von "one, two, three, I, mine, father, water" mit "eins, zwei, drei, ich, mein, Vater, Wasser" ist offensichtlich (siehe je-doch das Gegenbeispiel "head"/"Kopf" und weitere Einwände, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1993, Seite 112).
Das Ergebnis des Massenvergleichs veranlaßte mich dazu, die vielen amerikanischen Sprachfamilien zu nur dreien zusammenzufassen: Eskimo-Aleutisch, Na-Dené und Amerindisch (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1988, Seite 40). Die beiden ersten – Eskimo-Aleutisch in der Arktis und Na-Dené in Kanada und im Südwesten der USA – waren vorher schon länger akzeptiert; neu war die Gruppierung aller anderen amerikanischen Sprachen unter der Bezeichnung "Amerindisch". Diese Familie enthält elf Unterfamilien, die über einen großen Teil Nordamerikas und ganz Südamerika verbreitet sind (Bild 1).
Zur Unterstützung meiner These konstruierte ich 300 Etymologien, Gruppen von Wörtern, die ich auf je ein Urwort zurückführte. Die Mitglieder einer solchen Gruppe heißen Kognate. Einer von uns (Ruhlen) hat inzwischen durch weitere Forschungen die Zahl der Etymologien auf rund 500 erhöht. Einige dieser Wurzelwörter haben so viele Spuren hinterlassen, daß heute schwer verständlich ist, warum sie so lange übersehen worden sind. Die Ursache ist zweifellos, daß die Spezialisten sich auf jeweils eine Sprachfamilie zu konzentrieren pflegten und über der sorgfältigen Untersuchung dieses einzelnen Baumes den Wald nicht gesehen haben.
Ein gutes Beispiel einer solchen Etymologie ist eine amerindische Wurzel, die ungefähr wie TANA, TINA oder TUNA geklungen haben muß (die Großbuchstaben deuten an, daß die Lautgestalt näherungsweise zu verstehen ist) und deren Bedeutung in den Umkreis von "Kind, Sohn, Tochter" fiel. Wer sorgfältig den Grundwortschatz dieser Sprachen vergleicht, kann nicht umhin, die außerordentlich hohe Häufigkeit zugehöriger Wörter zu bemerken.
Wie ist das zu erklären? Es könnte kulturunabhängige, biologische Gründe geben; beispielsweise sind Wörter wie "Mama" oder "Papa" – in dieser Bedeutung – auf der ganzen Welt zu hören, ohne daß daraus auf Sprachverwandtschaft zu schließen wäre. Aber diese Erklärung paßt hier nicht; denn Formen wie TANA und TUNA in der Bedeutung "Sohn" oder "Tochter" sind außerhalb des Amerindischen selten, innerhalb der Gruppe jedoch massenhaft zu finden. Diese Wurzel hält also gewissermaßen nicht nur das Amerindische zusammen, sondern grenzt es auch von anderen Sprachfamilien ab (Kasten auf dieser Doppelseite). Sie ist, wie Linguisten sich ausdrücken, eine exklusive Innovation des Amerindischen.
Neuere Forschungen von Ruhlen erklären, warum der erste Vokal der Wurzel variiert und warum man sie sowohl in geschlechtsspezifischen Wörtern (für Sohn/Bruder und Tochter/Schwester) als auch in neutralen (für Kind/Geschwister) so häufig wiederfindet: Im Ur-Amerindischen, dem gemeinsamen Vorfahren aller modernen amerindischen Sprachen, gab es drei Formen (sogenannte Grade) der Wurzel, wobei der erste Vokal das (natürliche) Geschlecht bezeichnete: T'ANA "Kind, Geschwister", T'INA "Sohn, Bruder, Knabe" und T'UNA "Tochter, Schwester, Mädchen". (Das Apostroph steht für einen glottalen Verschlußlaut nach dem T, wie er beispielsweise in der Dortmunder Aussprache von "Dortmund" zu hören ist.)
Während das Amerindische in den letzten 12000 oder mehr Jahren in Unterfamilien zerfiel, ging – was naheliegen mag – die Korrelation zwischen erstem Vokal und Geschlecht häufig verloren. Im Endergebnis weisen darum viele Formen, die eindeutig Kognate sind, den falschen Vokal auf. Ein Beispiel ist *t-ana aus dem Proto-Algonkin; es bedeutet "Tochter", obgleich der erste Vokal nicht *-u, sondern *-a ist. (Der Stern zeigt an, daß die Form rekonstruiert wurde.) Wahrscheinlich entstand diese Abweichung, indem der erste Vokal dem zweiten angeglichen oder indem die Grundform auf a auf Kosten der i- und u-Formen durch Analogiebildung ausgeweitet wurde. Ausweitungen dieser Art sind sehr geläufig in der Sprachgeschichte: Das unregelmäßige Präteritum "frug" ist durch "fragte" (in Analogie zu "sagte") ersetzt worden. Kinder bilden häufig Formen regelmäßiger, als korrekt ist, in Analogie zu anderen: "am vielsten", "Älte" statt "Alter" in Analogie zu "Größe", "gezangt" analog zu "gehämmert".
Andererseits ist bemerkenswert, daß die Vokale i und u, die in diesem Beispiel das Maskulinum beziehungsweise Femininum bezeichnen, in zwei größeren amerindischen Unterfamilien Südamerikas und auch im Chinook, das im US-Bundesstaat Oregon beheimatet ist, generell diese Funktion haben. Diese Übereinstimmungen sind für einen Zufall zu zahlreich und für eine Entlehnung zu weit verbreitet. Insbesondere findet man viele von ihnen beiderseits schwer überwindbarer geographischer Hindernisse.
Ebenso wie Jones in der indoeuropäischen Familie finden wir im Amerindischen eine beeindruckend gut überlieferte Verbindung einer Wurzel mit verschiedenen grammatischen Affixen. Die pronominalen Präfixe na- ("mein") und ma- ("dein") zu der Wurzel T'ANA finden sich in allen elf amerindischen Unterfamilien. Im Proto-Algonkin heißt *ne- t-ana "meine Tochter", im Kiowa *n-o-t-on "mein Bruder", im Paez ne-tson "mein Schwager" und im Manao no-tany "mein Sohn".
Pronominale Affixe dieser Art gehören zu den stabilsten Elementen der Sprache; sie werden fast nie entlehnt. Daß ganze Systeme von einer Sprache in die andere übertragen worden sein könnten, und das auch noch von British Columbia im Nordwesten Kanadas bis nach Feuerland an der Südspitze Chiles, ist abwegig.
Zu den amerindischen Suffixen gehören Verkleinerungsformen, die – was naheliegt – auch zur Bezeichnung von Kindern verwendet werden. Das proto-amerindische Diminutiv *-i'sa findet sich wieder im Proto-Algonkin *ne-t-an-ehsa ("meine Tochter"), im Mixtekischen tá'nù i'sá ("die jüngere Schwester"), im Esmeralda tini-usa ("Tochter") und im Suhin tino-ice ("junge Frau"). Das proto-amerindische Diminutiv *-mai ist erkennbar im Luiseño tu'mai ("Tochterkind", von der Frau aus gesehen), im Masaca tani-mai ("jüngere Schwester") und im Chapacura tana-muy ("Tochter").
Das Proto-Amerindische hatte ein komplexes System von Suffixen. Eines, *-ki, zeigte eine Verwandtschaftsbeziehung in beiden Richtungen an, so daß ein und dasselbe Wort sowohl "Sohn der Schwester" eines Mannes als auch "Bruder der Mutter" eines Knaben bedeuten konnte. Dieses Suffix wurde in Verbindung mit verschiedenen Wurzeln, an die es angehängt wird, für das Proto-Sioux rekonstruiert, wie in *-thã-ki für "Schwester" eines Mannes, und findet sich in modernen Sprachen der Sioux-Gruppe wie im Pawnee t'i-'i für "Knabe, Sohn", im südlichen Zweig des Pomo t'i-ki für "jüngere Schwester" oder "jüngerer Bruder", im Maza-hua t'i-'i für "Knabe", im Amaguaje tsen-ke für "Sohn" und im Aponegrikanischen thon-ghi für "Schwester".
Historische Folgerungen
Aus der beschriebenen Dreiteilung folgt, daß höchstens drei asiatische Einwanderungswellen ihre sprachlichen Spuren hinterlassen haben können. Es wäre auch denkbar, daß eine Sprachgemeinschaft sich erst östlich der Landbrücke, die an der Stelle der heutigen Beringstraße lag, aufspaltete und entsprechend weniger Einwanderungen stattgefunden haben. Um deren genaue Zahl zu ermitteln, muß man die Sprachfamilien Amerikas und Asiens vergleichen.
Neuere Forschungen russischer und amerikanischer Linguisten deuten auf genau drei Einwanderungswellen hin. Das Eskimo-Aleutische ist das östlichste Glied einer großen Familie, die wir Eurasiatisch und die russischen Wissenschaftler Nostratisch nennen. (Die beiden Klassifikationen unterscheiden sich geringfügig. Zum Eurasiatischen gehören Indoeuropäisch, Uralisch-Jukagirisch, Türkisch, Mongolisch, Tungusisch, Koreanisch, Japanisch, Ainu, Giljakisch, Tschuktscho-Kamtschatkisch und Eskimo-Aleutisch; das Nostratische umfaßt außerdem noch das Drawidische in Südindien, die kartwelische Familie einschließlich Georgisch im Kaukasus und die afro-asiatische Familie in Nordafrika und dem Mittleren Osten).
Die Verwandten des Na-Dené haben unlängst Sergej Starostin vom Institut für Orientalische Studien und Sergej Nikolajew vom Institut für Slawische Studien (beide in Moskau) sowie John Bengtson, ein freischaffender Linguist aus Minneapolis (Minnesota), identifiziert. Starostin brachte zunächst drei Sprachfamilien der Alten Welt zusammen, die man bisher für unabhängig voneinander gehalten hatte: Kaukasisch, Sino-Tibetisch und Jenisseisch (auch Ketisch genannt), eine Familie aus Zentralsibirien mit einer einzigen überlebenden Sprache. Nikolajew zeigte dann, daß das Na-Dené zweifelsfrei mit dem Kaukasischen (das er und Starostin zusammen rekonstruiert hatten) und auf diesem Wege mit dem Sino-Tibetischen und dem Jenisseischen verwandt ist.
In einem noch umfassenderen Vergleich aller relevanten Familien fügte Bengtson das Baskische (eine isolierte Sprache aus Nordspanien) und das Buruschaski (eine isolierte Sprache aus Nordpakistan) zu dieser Familie hinzu, die nun als Dené-Kaukasisch bezeichnet wird. Na-Dené selbst erweist sich als deren östlichster Zweig. Weil es sich deutlich vom Eurasiatischen unterscheidet, kann sich das Na-Dené nicht auf dem amerikanischen Kontinent vom Eskimo-Aleutischen abgespalten, sondern muß ihn in einer eigenen Einwanderungswelle erreicht haben.
In den letzten Jahren haben wir das Amerindische mit den anderen Sprachfamilien der Welt verglichen und herausgefunden, daß es dem Eurasiatischen am nächsten steht. Doch ist der taxonomische Abstand immer noch groß: Während das Eskimo-Aleutische als Mitglied der eurasiatischen Familie gelten kann, ist das Amerindische bestenfalls mit dem Eurasiatischen als Ganzem verwandt. Das bedeutet, daß die genetische Beziehung entsprechend weit in der Zeit zurückliegt.
Aus der ersten Einwanderungswelle, die aufgrund archäologischer Daten spätestens vor etwa 12000 Jahren stattgefunden haben dürfte, ging die amerindische Sprachfamilie hervor, die den größten Teil der Neuen Welt einnahm, als Christoph Kolumbus 1492 dort ankam. Die zweite, etwas spätere Welle ließ die Na-Dené-Familie entstehen. Schließlich gelangten vor vielleicht 5000 oder 4000 Jahren bei der letzten Einwanderung die Ahnen der heutigen Eskimos und der Aleuten zuerst nach Alaska und später entlang des nördlichen Polarkreises nach Nordkanada und Grönland.
*MALIQ'A: ein Leitfossil der Linguistik
Ein einziges Beispiel möge sowohl die Einheit des Amerindischen als auch dessen Beziehungen zum Eurasiatischen/Nostratischen illustrieren.
Die proto-amerindische Wurzel *MALIQ'A mit der Bedeutung "schlucken, Kehle" hat ihre Spuren in nicht weniger als acht der elf amerindischen Unterfamilien hinterlassen, von Kanada bis zur Südspitze Südamerikas (Bild 3). Im Selischen, einer kanadischen Unterfamilie, finden wir im Halkomelem m lqw für "Kehle". Im Tfalati, einer ausgestorbenen Sprache aus der Unterfamilie Penuti, die in Oregon gesprochen wurde, bedeutet milq "schlucken". Im Yuma, einem Mitglied der Unterfamilie Hoka, wurde diese Wurzel zum Wort für "Kehle". Im Mohave in Arizona heißt malyaqe "Kehle", während im Akwa'ala auf der Halbinsel Baja California milqi "Hals" bedeutet. Im Cuna in Panama heißt murki "schlucken"; die Lautverschiebung von l nach r kommt häufig vor und ist zum Beispiel im Portugiesischen gängig. In der andischen Unterfamilie gibt es im Quechua malq'a für "Kehle", in der äquatorialen Unterfamilie findet sich im Guamo mirko für "trinken".
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß diese sich ähnelnden Formen unabhängig voneinander entstanden sind? Konkreter, wie wahrscheinlich ist es, daß die Ähnlichkeiten zwischen den Formen des Halkomelem und des Tfalati auf Zufall beruhen? Man kann eine grobe Abschätzung vornehmen, indem man sich auf das Bedeutungsfeld "schlucken/Kehle" beschränkt und eine Reihe von phonologischen Annahmen macht. Vernachlässigen wir die Vokale, weil sie ohnehin leichter veränderlich sind als Konsonanten, und unterstellen wir zugunsten der Zufallshypothese, daß es in beiden Sprachen nur die dreizehn Konsonanten p, t, t', k, k', q, q', s, m, n, l, r, j und w gebe. Wie groß ist unter diesen Voraussetzungen die Wahrscheinlichkeit, durch eine Zufallsauswahl ein Wort zu erwürfeln, das m als ersten Konsonanten hat, l oder r als zweiten und k, k', q oder q' als dritten?
Es ergibt sich (1/13)×(2/13)×(4/13) =0,003641329, aufgerundet 0,004. Die Wahrscheinlichkeit, daß sich diese Kombination rein zufällig in sechs Familien wiederfindet, ist 0,0045 oder ungefähr 1 zu l0 Milliarden. Diese groben Schätzungen setzen voraus, daß alle Konsonanten gleich wahrscheinlich sind – was nicht der Fall ist. Die richtigen Werte liegen deshalb etwas höher, bleiben jedoch winzig klein. Soviel zu zufälligen Ähnlichkeiten.
Wenden wir uns nun der Frage zu, ob die Wurzel MALIQ'A auch in anderen Sprachfamilien anzutreffen sei. Das ist, wie wir am Beispiel T'ANA ("Kind") gesehen haben, nicht unbedingt zu erwarten. In diesem Falle jedoch sind kognate Formen dieser Wurzel über die Alte Welt verstreut. Die ersten Vertreter der Hypothese von der nostratischen Familie, der Russe Wladislaw Illitsch-Switytsch und Aaron Dolgopolsky, der jetzt an der Universität Haifa (Israel) lehrt, haben eine nostratische Wurzel *mälgi für "an der Brust saugen, stillen" rekonstruiert. Sie verbindet das proto-afroasiatische *mlq für "an der Brust saugen" (arabisch mlj), das proto-indoeuropäische *melg für "Milch geben", das deutsche Wort "Milch" und das proto-finno-ugrische *mälke für "Brust" (wie im Saamischen mielgâ). Wir haben kognate Formen im Eskimo-Aleutischen gefunden, so im Zentral-Yupic melug- für "saugen". Schließlich hat auch die drawidische Familie aus Indien offensichtlich kognate Formen, so im Kuruch melch-a- für "Kehle" und im Tamil melku für "kauen".
Diese Variation an Bedeutungen legt es nahe, dieser Wurzel die ursprüngliche Bedeutung "Milch geben" oder "an der Brust saugen" zuzuschreiben, die sich im Afroasiatischen erhalten hat. Im Indoeuropäischen gab es eine leichte semantische Verschiebung vom Stillen zum Melken, im Uralischen eine andere zu "Brust", im Drawidischen die zu "kauen" – naheliegend für jeden, der ein Baby an der Mutterbrust beobachtet –, im Eskimo die zu "saugen" – nicht unbedingt an der weiblichen Brust – und im Amerindischen schließlich zu "schlucken" und "Kehle".
Unabhängige Bestätigungen
Unterstützung für die Hypothese von der amerindischen Sprachfamilie kam 1988, kurz nachdem sie zum ersten Mal vertreten worden war, von unerwarteter Seite. Eine Gruppe von Genetikern an der Universität Stanford (Kalifornien) unter der Leitung von Luigi L. Cavalli-Sforza entdeckte, daß die Ureinwohner Amerikas sich in drei sauber abgegrenzte genetische Gruppen gliedern, deren geographische Grenzen im wesentlichen mit denen ihrer Sprachfamilien zusammenfallen (siehe "Stammbäume von Völkern und Sprachen" von Luigi L. Cavalli-Sforza, Spektrum der Wissenschaft, Januar 1992, Seite 90). Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß eine solche Koinzidenz zufällig wäre.
Der Anthropologe Christy G. Turner II von der Staatsuniversität von Arizona in Tempe fand in der Zahnstruktur der Bewohner Amerikas eine Aufgliederung in die gleichen drei Gruppen (siehe seinen Beitrag "Zähne als Zeugnisse für die Besiedlung des pazifischen Raums", Spektrum der Wissenschaft, April 1989, Seite 120). Schließlich veröffentlichte 1990 Douglas Wallace von der Medizinischen Fakultät der Emory-Universität in Atlanta (Georgia) vorläufige Ergebnisse über die mitochondriale DNA der Ureinwohner Amerikas; auch diese Analyse scheint unsere Hypothese zu stützen.
Die enge Korrespondenz von biologischen und linguistischen Klassifikationen – das sei zur Vermeidung von Mißverständnissen betont – bedeutet nicht, daß die Gene die Sprache eines Menschen bestimmen würden. Die hängt allein von der Gemeinschaft ab, in der man aufwächst. Es ist nicht eine Aufteilung Ursache der anderen, sondern beide haben eine gemeinsame Ursache. Wenn eine Gruppe von Menschen ihr Heimatland verläßt und zum Beispiel auf eine ferne Insel zieht, dann nimmt sie sowohl ihre Sprache als auch ihre Gene mit. Von dieser Zeit an werden beide Merkmale sich allmählich von denen der Daheimgebliebenen wegentwickeln.
Es bleiben noch zahlreiche ungelöste Probleme, etwa wie sich die amerindische Sprachfamilie am Anfang ihrer Verbreitung durch Nord- und Südamerika auffächerte. Aber die neueren Ergebnisse erfüllen, zumindest zum Teil, die Hoffnung Jeffersons, daß die Sprachen der Ureinwohner Amerikas eines Tages das Geheimnis ihrer Verwandtschaft und ihre asiatischen Wurzeln preisgeben würden.
Literaturhinweise
- The Settlement of the Americas: A Comparison of Linguistic, Dental, and Genetic Evidence. Von Joseph H. Greenberg, Christy G. Turner II und Stephen L. Zegura in: Current Anthropology, Band 27, Seiten 477 bis 497, 1986.
– Language in the Americas. Von Joseph H. Greenberg. Stanford University Press, 1987.
– The American Indian Language Controversy. Von Joseph H. Greenberg in: Review of Archeology, Band 11, Heft 2, Seiten 5 bis 14, Herbst 1990.
– A Guide to the World's Languages. Band 1: Classification. Von Merritt Ruhlen. Stanford University Press, 1991.
– Evolution of Human Languages. Herausgegeben von John Hawkins und Murray Gell-Mann. Addison-Wesley, 1992.
– Proto-Languages and Proto-Cultures. Materials from the First International Interdisciplinary Symposium on Language and Prehistory, Ann Arbor, 8 – 12 November, 1988. Herausgegeben von Vitaly Shevoroshkin. Universitätsver- lag Dr. Norbert Brockmeyer, Bochum 1990.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1994, Seite 58
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