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Diabetes und Superantigene

Bei der schon im Jugendalter auftretenden Form der Zuckerkrankheit werden die Insulin produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse von der körpereigenen Immunabwehr angegriffen und zerstört. Nach neuesten Erkenntnissen könnte ein von Retroviren gebildetes Superantigen diese Selbstattacke auslösen.

Insulin ist ein wichtiges Stoffwechselhormon, das in der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) gebildet wird und durch Bindung an Rezeptoren auf den Zel- len im Muskel- und Fettgewebe eine erhöhte Aufnahme von Traubenzucker (Glucose) aus dem Blut bewirkt. Zugleich unterdrückt es die Freisetzung von Zuckerreserven in der Leber. Patienten, die an Diabetes mellitus – umgangssprachlich Zuckerkrankheit – leiden, können wegen einer Fehlregulation dieses Prozesses Glucose nicht mehr verwerten und scheiden sie mit dem Harn aus.

Es gibt zwei Hauptarten von Diabetes. Die jugendliche oder Typ-1-Form setzt oft bereits in der Kindheit ein und ist primär durch einen Mangel an Insulin gekennzeichnet. Beim Altersdiabetes oder Typ 2, der besonders häufig bei über 40 Jahre alten sowie bei übergewichtigen Menschen auftritt, wird das Hormon dagegen in ausreichender Menge gebildet, aber die Zielzellen reagieren nicht mehr angemessen darauf (Spektrum der Wissenschaft, März 1992, Seiten 48 bis 54).

Nach heutigem Kenntnisstand beruht der Typ-1-Diabetes auf einer Autoimmunreaktion, bei der das Abwehrsystem die Insulin produzierenden Beta-Zellen der Langerhans-Inseln im Pankreas fälschlich als körperfremd einstuft, sie angreift und schließlich zerstört (Spektrum der Wissenschaft, September 1990, Seiten 102 bis 110). Zwar lassen sich die Symptome der Krankheit durch tägliche Insulin-Injektionen weitgehend beheben. Da jedoch der Blutzuckerspiegel auch bei sorgfältig dosierter Hormongabe oft stärker schwankt, als für die betroffenen Gewebe verträglich ist, drohen langfristig Komplikationen – vor allem Gefäßschäden, die Schlaganfall, Nierenversagen, Blindheit und Herzkrankheiten nach sich ziehen können. Deshalb arbeitet man derzeit an der Entwicklung sich selbst automatisch steuernder Dosiersysteme (sogenannter closedloop-Systeme), bei denen Insulinpumpen an einen Glucose-Sensor gekoppelt sind.

Ein anderer, gleichfalls intensiv erforschter Therapieansatz ist, eingekapselte Inselzellen zu verpflanzen, deren künstliche, biologisch verträgliche Hüllen nur für kleine Moleküle wie Insulin und Glucose, nicht aber für Lymphocyten und Antikörper durchlässig sind. Mit dieser Einkapselungstechnik sollten sich sogar artfremde Gewebe – zum Beispiel von Schweinen – dauerhaft und ohne immunsupprimierende Maßnahmen transplantieren lassen.

Beide neuen Therapieverfahren befinden sich aber noch im Erprobungsstadium und werden nicht so bald praktisch anwendbar sein. Dies und beunruhigende epidemiologische Daten aus den Niederlanden, Skandinavien und Deutschland, wonach die Häufigkeit des Typ-1-Diabetes stetig zunimmt, lassen es geboten erscheinen, nach den genetischen, immunologischen und möglicherweise virologischen Ursachen der Störung zu fahnden und so Therapieansätze zu ermöglichen, welche die Krankheit kausal bekämpfen.


Fehlgeleitete Immunabwehr

Typ-1-Diabetes ließe sich nur durch eine frühzeitige Therapie verhindern, die der Zerstörung der Beta-Inselzellen durch das Immunsystem entgegenwirkt. Dazu müßte jedoch zunächst auf molekularer Ebene geklärt werden, wodurch die immunologische Fehlreaktion verursacht wird. Man nimmt heute an, daß sie, gefördert von einer ererbten Prädisposition, letztlich auf einer molekularen Verwechslung basiert (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1988, Seiten 84 bis 93).

Der verhängnisvolle Irrtum kommt zustande, wenn irgendein Protein (Antigen) eines Krankheitserregers, der die betreffende Person infiziert, zufällig einen Abschnitt aufweist, der einer Eiweißkomponente der Beta-Zellen sehr ähnlich ist. Bestimmte Abwehrzellen wie Makrophagen verschlingen das fremde Protein, zerlegen es in Bruchstücke und präsentieren diese zusammen mit einem MHC-Molekül der Klasse II auf ihrer Oberfläche. (MHC steht für englisch major histocompatibility complex, Haupthistokompatibilitätskomplex; die Bezeichnung rührt daher, daß die MHC-Moleküle für die Verträglichkeit transplantierten Gewebes entscheidend sind.) T-Helferzellen mit passenden Rezeptoren erkennen die präsentierten Antigenfragmente als fremd und veranlassen die

Generalmobilmachung weiterer T-Helferzellen, Antikörper produzierender B-Zellen und cytotoxischer T-Lymphocyten (Killerzellen).

Die aktivierten Killerzellen halten jedoch die sehr ähnliche Eiweißkomponente, die auf der Oberfläche der Beta-Zellen sitzt (diesmal in Verbindung mit einem MHC-Molekül der Klasse I) fälschlich ebenfalls für einen Fremdkörper und attackieren deshalb auch die Inselzellen. Auf deren beschädigter Oberfläche erscheinen daraufhin Proinsulin und andere Proteine, die normalerweise im Zellinnern eingekapselt bleiben. Dies löst kaskadenartig weitere Angriffswellen des Immunsystems aus, denen die Beta-Zellen schließlich zum Opfer fallen.

Als Erreger, welche die fehlgeleitete Immunreaktion beim jugendlichen Diabetes auslösen, werden schon seit langem bestimmte Vertreter der Coxsackie-Viren verdächtigt. Tatsächlich hat eines ihrer Proteine, PC2 genannt, große Ähnlichkeit mit einer Komponente des in Beta-Zellen produzierten Enzyms Glutaminsäuredecarboxylase (GAD 65), und dagegen gerichtete Autoantikörper finden sich im Blut von immerhin 70 bis 80 Prozent neu diagnostizierter Typ-1-Diabetes-Patienten (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1980, Seiten 36 bis 47). Allerdings wird fast die Hälfte aller erwachsenen Amerikaner irgendwann im Leben von Coxsackie-Viren befallen, und die überwältigende Mehrzahl trägt weder einen Diabetes noch eine erkennbare Schädigung des Pankreas davon. Andererseits weisen viele Typ-1-Diabetiker keine Antikörper gegen Coxsackie-Viren auf.


Hinweis auf endogene Retroviren

Auf einen möglichen Mechanismus ganz anderer Art stieß dagegen ein Team um Bernard Conrad an der Kinderklinik in Pittsburgh (Pennsylvania) im Jahre 1994. Bei zwei jungen Diabetes-Patienten fanden die Wissenschaftler in der Bauchspeicheldrüse eine bestimmte Subpopulation von T-Lymphocyten in ungewöhnlich hoher Konzentration. Dieselben Immunzellen vermehrten sich auch sehr stark, wenn Membranen entzündeter Beta-Zellen von Diabetikern im Reagenzglas zu T-Lymphocyten gesunder Spender gegeben wurden. Da in diesem Falle kein externer infektiöser Erreger als Auslöser vorhanden ist (oder sich zumindest nicht nachweisen läßt), mutmaßten Conrad und seine Mitarbeiter, daß ein endogenes Retrovirus die Vermehrung ausgelöst haben könnte – ein Krankheitserreger, der sich schon vor langer Zeit in das menschliche Erbgut integriert hat und seither als eine Art blinder Passagier darin mitgeschleppt wird.

Ein weiteres interessantes Detail lieferte die genauere Charakterisierung der sich vermehrenden T-Zellen: Sie wiesen durchweg eine bestimmte variable Region (Vb7) in der sogenannten Beta-Kette ihres Antigenrezeptors auf, während der variable Abschnitt der Alpha-Kette in allen möglichen Varianten vorkam. Genau dies ist aber das Kennzeichen sogenannter Superantigene. Während normale Antigene nur von solchen T-Zellen gebunden werden, deren Antigenrezeptor im variablen Abschnitt sowohl der Alpha- als auch der Beta-Kette zu ihnen paßt, genügt bei Superantigenen eine passende Beta-Kette. Diese Bedingung ist ziemlich oft erfüllt, da jeder Mensch nur über gut 25 verschiedene Vb7-Typen verfügt. Infolgedessen aktivieren Superantigene ein viel breiteres Spektrum von T-Zellen – bis zu 20 Prozent des gesamten Inventars eines Individuums gegenüber höchstens 0,01 Prozent im Falle normaler Antigene (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1992, Seiten 96 bis 106).

Waren dies zunächst nur plausible Schlußfolgerungen, so konnte Conrad, der inzwischen zur Universität Genf gewechselt ist, kürzlich weitere Belege dafür vorlegen („Cell“, Band 90, Seiten 303 bis 313, 25. Juli 1997). So entdeckte er im Bauchspeicheldrüsengewebe sowie in Milzzellen der beiden Diabetes-Patienten das für Retroviren charakteristische Enzym Reverse Transkriptase; mit ihm schreiben die Erreger ihr eigenes Erbgut, das aus Ribonucleinsäure (RNA) besteht, in Desoxyribonucleinsäure (DNA) um, die dann in das Genom ihres Wirtes eingefügt wird. In Nicht-Diabetikern ließ sich das Enzym nicht nachweisen.

Mit Hilfe einer ausgeklügelten Strategie gelang es Conrad und seinen Mitarbeitern schließlich, auch das Retrovirus selbst zu identifizieren – sie gaben ihm den vertrackten Namen IDDMK1,222 – und seine genetische Buchstabenfolge (Nucleotidsequenz) zu entschlüsseln. Wie sich herausstellte, gehört es zu einer Gruppe von humanen endogenen Retroviren des Typs K, von denen meine Arbeitsgruppe am Paul-Ehrlich-Institut in Langen zeigen konnte, daß sie in Hodentumorzellen des Menschen infektiöse Viruspartikel entstehen lassen, die eine Reverse Transkriptase enthalten. Ein verwandtes Retrovirus der Maus, das bei Aktivierung Brustkrebs hervorruft, vermag nachgewiesenermaßen ein Superantigen zu produzieren.

Nachdem die Genfer Forscher IDDMK1,222 identifiziert und genetisch charakterisiert hatten, spürten sie es auch im Blut von zehn Diabetes-Patienten auf, wogegen es bei zehn gesunden Kontrollpersonen nicht auffindbar war. In einem Modellexperiment führten sie schließlich den Nachweis, daß ein Protein dieses Erregers als Superantigen wirken und T-Lymphocyten, deren Antigenrezeptor die Vb7-Region enthält, zu massenhafter Vermehrung anregen kann. Interessanterweise stellt dieser Eiweißstoff nur den mittleren Teil des Hüllproteins endogener Retroviren vom Typ K dar, deren komplette Zusammensetzung meine Arbeitsgruppe kürzlich aufgeklärt hat („Journal of Virology“, Band 71, Seiten 2747 bis 2756, April 1997).

So plausibel das vorgestellte Erklärungsmodell auch ist, läßt es doch einige wichtige Fragen unbeantwortet – insbesondere die, warum und wie das im Erbgut schlummernde Virus erwacht. Allgemein können endogene Retroviren durch Hormone, Streß oder auch andere infektiöse Erreger aktiviert werden. Andererseits ist nicht auszuschließen, daß die Aktivierung gar nicht die Ursache, sondern die Folge der Zuckerkrankheit ist.

Auch spielt die genetische Prädisposition eine entscheidende Rolle. Bei Typ-1-Diabetikern kommen die Allele für einige MHC-Klasse-II-Proteine (DR1, DR3 und DR4) besonders häufig, andere (DR2 und DR5) jedoch selten vor. Demgemäß spricht man von risikobehafteten beziehungsweise schützenden Allelen. Nun liegen bei Typ-1-Diabetikern, wie wir kürzlich herausfanden, auf dem Chromosom 6 dicht bei den Risikoallelen häufig Steuerelemente endogener Retroviren des Typs K. Sie könnten bewirken, daß beim Erwachen des Virus zusammen mit neuen Viruspartikeln auch MHC-

Moleküle mit den gefahrträchtigen Abschnitten in großen Mengen gebildet werden („Human Immunology“, Band 50, Seiten 103 bis 110, 1996).



Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1998, Seite 28
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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