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Die Macht der Gerüche. Eine Philosophie der Nase



Die magische Welt des Geruchs verhalf dem Schriftsteller Patrick Süskind 1985 zu einem Welterfolg. Der Held seines Romans "Das Parfüm" mordete für Düfte; er war – frei von Moral – nur seinem unglaublichen Geruchssinn verpflichtet.

Der Einfluß von Gerüchen ist groß. Was wir nicht mögen, "stinkt uns", und im Vampir-Film schützt Knoblauchgeruch vor den Blutsaugern. Andere Düfte sind bedrohlich: Am 11. Oktober 1632 nahm der Teufel die Ursuliner-Novizin Agnes in Besitz; sie hatte an einem Strauß Moschusrosen gerochen. Und der Teufel selbst? Der stank wie immer nach Pech und Schwefel, vermischt mit Schießpulver und faulendem Fleisch.

Dieses Beispiel stammt aus Annick Le Guérers Kulturgeschichte des Geruchs. Die französische Kulturwissenschaftlerin, die lange beim Parfümhaus Dior arbeitete, hat Aussagen über Geruch, Lust und Ekel, den Zusammenhang mit Krankheit und Medizin, magische, religiöse und rituelle Praktiken sowie "die Nase der Philosophen" (so der Titel des vierten Teils) gesammelt.

Ekel und Lust liegen beim Geruch dicht beieinander. Viele Kulturen schreiben dem Feind einen ekelhaften Gestank zu. Arabische Besprengungsrituale bei der Begrüßung zielten darauf ab, mit parfümiertem Wasser den Geruch des Fremden zu übertönen. Krasser sind die Äußerungen französischer Autoren zu Beginn des Jahrhunderts: Bei der Kapitulation in Metz 1870 hätten sich alle Einwohner die Nasen zugehalten, wenn ein deutsches Regiment vorübermarschiert sei. Weder der saure Geruch des Engländers noch der ranzige des "Negers" noch der fade und süßliche des "Gelben" kämen an Kraft und Widerwärtigkeit dem unerträglichen Gestank des Deutschen gleich. Das "Bulletin de la Société de Médecine de Paris" sprach im Kriegsjahr 1916 den Deutschen gar einen Weltrekord zu: den im Stinken.

Aber auch Wohlgerüche erwecken Mißtrauen. Erwiesen ist inzwischen der lange vermutete Zusammenhang von Geruch und sexueller Anziehung, den das christliche Abendland bedenklich fand. Zwar sind das Paradies und die Heiligen durch Wohlgeruch gekennzeichnet, ihm fehlt aber offiziell jede erotisierende Wirkung. Der Grund dafür ist einfach: Das Christentum beruft sich auf den Dualismus von Körper und Geist. Der Geist ist das Wesentliche, alles Körperliche, so Geruch und auch Sexualität, wird abgelehnt.

Auch die späteren abendländischen Philosophen bestehen auf diesem Gegensatz. Entsprechend bleibt ihnen der Geruch suspekt. Er läßt sich zwar beschreiben, aber nicht objektivierbar fassen; immer bleibt ein wenig Individuelles, nicht Faßbares zurück. So steht der Geruchssinn wirklicher Erkenntnis entgegen, urteilen beispielsweise die idealistischen Philosophen Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel und verweisen ihn auf einen der hinteren Plätze in der Sinneshierarchie.

Annick Le Guérer bleibt distanziert, versucht analytisch zu sein, ist leider meist nur beschreibend, liefert dabei allerdings eine Fülle von Beispielen aus der Menschheits- und Kulturgeschichte.

Den französischen Philosophen Michel Onfray interessieren ebenfalls die sinnesphysiologischen Vorgänge kaum. Genau wie Annick Le Guérer konzentriert er sich auf die Entwicklung der Riechkultur. Und auch in seiner Literaturliste stehen nur Bücher französischer Autoren – ein Indiz dafür, daß das Interesse an Fragen der Alltagskultur oder an dem kulturellen Umgehen mit biologischen Phänomenen in Frankreich größer als anderwärts zu sein scheint. Nur wenige der zitierten Werke sind auf deutsch erschienen, darunter aber schon 1984 das lesenswerte Werk "Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs" von Alain Corbin.

Onfray geht in seinem – verglichen mit der "Macht der Gerüche" wesentlich analytischeren – Werk quer durch die Jahrhunderte der Lust und der Lustfeindlichkeit der Philosophen nach, wobei ihn Äußerungen zum Geruchssinn und zur Sexualität besonders interessieren. Er verschont keinen der großen Denker, entlarvt sie als sinnesfeindlich, verklemmt, in Vorurteilen verhaftet oder selbst nach ihren eigenen Maßstäben als unwissenschaftlich.

Onfray hält einen originellen, frechen und respektlosen Ton in seinem Werk weitgehend durch. Seine Beispiele sind lebensnah und verständlich, ohne daß dabei seine Argumentation trivial würde.

Kundiger und schärfer als Annick Le Guérer kritisiert er Kant und seine Sinneshierarchie, in der Gehör, Gesicht, Gefühl die oberen, Geruch und Geschmack die niederen Plätze einnehmen. Wirkliche Welterkenntnis ist laut Kant nur mit den oberen Sinnen möglich: "Kant meint also, man erfasse – mit Rücksicht auf die Kategorien des alten Philosophen wird man nicht sagen, man erkenne – das ihm so vertraute Kabeljaugericht besser, wenn man es höre, betrachte oder berühre, als wenn man es rieche oder gar schmecke."

Hinter dieser Geringschätzung des Geruchssinns steckt zum einen, daß Kant bestimmte Dinge – insbesondere diejenigen, die riechen, wie der Königsberger Kabeljau – für nicht erkenntniswürdig hält, zum anderen das alte philosophische Vorurteil gegenüber dem Körper. In den Worten Onfrays: "Der Mensch, der denkt, riecht nicht, woraus folgt, daß der Mensch, der riecht, nicht denkt."

Denn wer riecht, gibt sich seinem Körper hin. Geruch und Sexualität liegen eng beieinander. Auch Menschen dünsten Sexualsekrete aus, die über Wohlgefallen, Anziehung und Erregung weitgehend entscheiden. "Casanova verdankte seine Verführungskraft lediglich Testosteronmolekülen."

In seiner Verachtung der Sexualität reiht sich Kant würdig in eine Reihe großer Denker ein, die von dem römischen Kaiser Marc Aurel über die Kirchenväter Augustinus und Thomas von Aquin bis zu Arthur Schopenhauer reicht. Anders als diese will er aber nicht den Sexualtrieb ausrotten, sondern in geordnete Bahnen lenken, ihn einschnüren ins Korsett der Ehe.

Auch die Philosophen und Pädagogen der Aufklärung wollten den Menschen geschlechtslos machen. Jean-Jacques Rousseau, der gemeinhin mit dem Slogan "Zurück zur Natur" zitiert wird, wollte dieses Ziel durch drakonische Mittel, durch Abschreckung und Verbote erreichen. Sein Ideal war "ein kastrierter Knabe, ein entmannter Jüngling, ein impotenter Erwachsener". Und so jubelte Rousseau am Ende seines Dressuraktes: "Wir haben ihn der Herrschaft der Sinne entzogen."

Nur einige wenige Philosophen ließen der Sinnlichkeit ihren Raum. Es waren die griechischen Materialisten, einige spätere Denker der Aufklärung sowie Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche. Besonders von den beiden gelte es zu lernen.

Onfrays Buch ist eine Streitschrift für den Hedonismus mit dem Ziel, die Verdammung des Körpers, die in der idealistischen Philosophie jahrhundertelang betrieben wurde, aufzuheben und den Körper gleichberechtigt neben den Geist zu stellen. Beide müßten miteinander versöhnt werden, Sinnlichkeit und Bewußtsein zusammen machten erst den Menschen aus – wobei den Sinnen der erste Eindruck der Welt und dem Bewußtsein deren Erkenntnis zukomme.

In den Worten des von ihm vielzitierten und hochgeschätzten Philosophen Ludwig Feuerbach liest sich das so: "Nur dadurch also ist der Mensch Mensch, daß er nicht wie das Tier ein beschränkter, sondern ein absoluter Sensualist ist, daß nicht dieses oder jenes Sinnliche, daß alles Sinnliche, daß die Welt, das Unendliche, und zwar rein um seiner selbst, d. h. um des ästhetischen Genusses willen, Gegenstand seiner Sinne, seiner Empfindungen ist."


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1993, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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