Die Pygmäen. Menschenforschung im afrikanischen Regenwald. Geschichte, Evolution, Soziologie, Ökologie, Ethologie, Akkulturation, Zukunft
Paul List, München 1995.
544 Seiten, DM 78,-.
544 Seiten, DM 78,-.
Pygmäen sind die kleinwüchsigen Eingeborenen Zentralafrikas. Einige Gruppen, die als besonders "primitiv" galten, weil sie sehr kleinwüchsig sind, waren langjähriger Forschungsgegenstand der Wiener Schule der Völkerkunde, und wir verdanken den Steyler Missionaren Paul Schebesta (1887 bis 1968) und Peter Schumacher (1878 bis 1957) grundlegende Studien über die Kultur und Wirtschaft der Kivu-, Mbuti- und Efe-Gruppen am Ituri im heutigen Zaire. Bei diesem Stand der Forschung wird leicht übersehen, daß es noch viele andere Pygmäen-Gruppen gibt, von den in kultureller Auflösung begriffenen Hazda oder Tindiga am Eyasi-See in Tanzania bis zu den Tikar-Pygmäen in Westafrika.
Armin Heymer ist deutscher Verhaltensbiologe, arbeitet jedoch nicht in Deutschland, sondern am Institut für Allgemeine Ökologie in Brunoy bei Paris. Bekannt wurde sein mehrsprachiges, 1977 bei Paul Parey erschienenes Ethologisches Wörterbuch.
Das vorliegende Buch hat er vom Standpunkt des vergleichenden Verhaltensforschers geschrieben. Zum Teil im unterhaltsamen Reportage-Stil, zum Teil in trockenem Wissenschaftler-Deutsch berichtet er über seine Afrika-Reisen und seine mehr als zwanzigjährige Beschäftigung mit den Pygmäen Zentralafrikas.
Ein Anliegen Heymers ist es, die gegenwärtige Vielfalt auch in diesen bevölkerungsschwachen, im unzugänglichen Urwald lebenden Gruppen darzustellen, die oft in elender Abhängigkeit von seßhaften Afrikanern gehalten werden und damit wenig auffällig sind. Die meisten Gruppen hat er selbst besucht und konnte sich so ein von romantischen Wissenschaftsklischees unabhängiges Bild machen. ("Urwaldzwerge" nannte sie durchaus liebevoll Pater Schebesta.)
Durch Auswertung antiker Berichte will Heymer des weiteren zeigen, daß Pygmäen schon sehr lange in Afrika leben und früher viel weiter verbreitet waren als heute. Ihm als Ethologen geht es darum, das Alltagsverhalten in der Kleingruppe zu beschreiben und mit dem anderer Menschen zu vergleichen. Das bringt er dem Leser in Ausschnitten aus unzähligen Photosequenzen nahe, eine für die Humanethologie charakteristische Methode der Dokumentation, die vor allem Irenäus Eibl-Eibesfeldt in die Wissenschaft eingeführt hat.
Heymers Buch über das natürliche Verhalten dieser Waldmenschen ergänzt auf das glücklichste die reichhaltigen ethnologischen Studien, die ihren Schwerpunkt stets auf kulturelles Verhalten legen (außer den genannten Forschern der Wiener Schule haben auch Franzosen und Nordamerikaner Bedeutendes beigetragen). Vor allem macht er uns mit dem Leben in den kleinen Buschlagern der Bakya-Pygmäen vom Lobaye-Fluß in der Zentralafrikanischen Republik bekannt. Dort hat er sich am längsten aufgehalten und durch wiederholte Besuche auch die persönliche Entwicklung einzelner Pygmäen miterlebt.
Als Leser fühlte ich mich von Heymers Schilderung des Alltags und allgemeinmenschlicher Züge unmittelbar angesprochen, gerade weil die Pygmäen in ihrem Aussehen und ihren Lebensumständen zunächst so fremd wirken. Das ist ein hohes Verdienst des Verfassers; offenbar hat er selbst die Lebensweise seiner Gastgeber als im Einklang mit sich und ihrer Umwelt stehend empfunden und vermittelt das dem Leser.
Das Buch ist aber nicht nur ein Erlebnisbericht, der Symphatie für die besuchten Völker weckt, sondern enthält auch Kapitel, die den Kulturhistoriker ansprechen. Alte Berichte über Zwerge am ägyptischen Hof und das Fortleben der Zwergen-Mythologie in Europa werden eingangs ausführlich dargestellt.
Damit klingt Heymers kulturhistorische Theorie an, die er in weiteren Kapiteln entwickelt. Vergleiche phänotypischer Merkmale afrikanischer Pygmäen mit Kleinwüchsigen in Asien und Ozeanien (vor allem auf Neuguinea) belegen seine These, daß die Pygmäen (gemeinsam mit Buschleuten und Hottentotten) eine konservative Menschenform Afrikas seien, die aus diesem Grunde viele Merkmale mit Europäern gemein hat. Das hebt sie nach Heymers Ansicht phylogenetisch von den durch rezente Innovationen gekennzeichneten schwarzen und großwüchsigen Afrikanern ab, die heute den Kontinent südlich der Sahara dominieren. Die Kleinwüchsigen Südasiens, Südostasiens und Ozeaniens, die Ethnologen nicht als Pygmäen, sondern als Negritos bezeichnen, hält Heymer für frühe Auswanderer aus Afrika. Sie haben den Kontinent zu einer Zeit verlassen, als die neo-afrikanischen Innovationen noch nicht erfolgt waren.
Heymer kommt damit auf einer völlig undogmatischen und theologiefernen physisch-anthropologischen Grundlage zu einem ähnlichen Ergebnis wie die Wiener Forscher – auf eher spekulativem Wege – schon vor 50 Jahren. Diese hatten ihre intuitiven Einsichten jedoch mit kulturhistorischen Spekulationen über die "Urkultur" und mit dem Dogma einer "monotheistischen Uroffenbarung" belastet und sich dadurch wissenschaftlich in Mißkredit gebracht. Heute kann man mit Heymer ohne diesen Ballast resümieren, daß die Pygmäen somatisch eine altertümliche Form der Menschheitsentwicklung sind. In ihren heutigen Wohngebieten leben sie als Rückzugs- oder Restbevölkerung, die nur noch in Form von Splittern und Kleinstpopulationen dem ethnischen Druck ihrer Umgebung standgehalten hat.
Wer in diesem Buch nur die Ethnoidylle im Regenwald sucht, wird enttäuscht werden. Trotz aller Begeisterung für das Leben der Pygmäen verschließt Heymer die Augen nicht vor dem rezenten Wandel und teilt uns dessen Folgen in den abschließenden Kapiteln schonungslos mit: Die rigorose Ausbeutung des Regenwaldes durch maschinellen Holzeinschlag, den Bevölkerungsdruck ackerbauender Nachbarvölker auf der Suche nach neuem Land, die Politik christlicher Missionare, die auch diese letzten schweifenden und freien Menschen Afrikas seßhaft machen und einkleiden wollen, zeigt Heymer mit ihren gesundheitlichen und moralischen Folgen in aller Deutlichkeit. Als Naturwissenschaftler resümiert er:
"Die geschilderten Tatbestände zum Gesundheitszustand der besuchten Pygmäen lassen deutlich erkennen, daß Sedentarisierung und Akkulturation der Sammler- und Jägergemeinschaften der Bayaka, die bislang voll integrierter Bestandteil eines ausgewogenen Ökosystems des tropischen ombrophilen (regenliebenden) Primärwaldes waren, keinerlei Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, ihrer Hygiene und ihrer körperlichen Gesundheit mit sich bringen. Es ist ganz im Gegenteil zu befürchten, daß die Aufgabe ihrer alten Traditionen und Lebensgewohnheiten des Sammelns, Jagens, Wanderns und der Freiheit ihre moralische Gesundheit und ihre sagenhafte Lebensfreude völlig zerstört.
Den Genotypus ,Pygmäe' wird es sicherlich noch einige Zeit geben, die traditionelle soziokulturelle Einheit aber wird kaum fortbestehen können."
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 124
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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