Editorial: Druckwellen im Gehirn
Als ich in den 1990er Jahren am Basler Friedrich-Miescher-Institut in Neurobiologie promovierte, gab es dort einen »Journal Club«: Einmal pro Woche trafen sich die Mitglieder der neurobiologischen Arbeitsgruppen, und reihum stellte einer von uns eine neue Fachpublikation vor, die man für das eigene Forschungsgebiet als besonders interessant und wichtig empfand.
Meistens ging es bei den präsentierten Aufsätzen um spezielle Detailergebnisse, etwa zu bestimmten neuronalen Wachstumsfaktoren und ihren Rezeptoren. Als ich einmal an der Reihe war, stieß ich jedoch auf einen Artikel aus einem anderen Fachgebiet, der Immunologie. Darin wurde der seit Jahrzehnten etablierten Sichtweise, der zufolge das Immunsystem im Wesentlichen »selbst« und »nicht selbst« unterscheidet und gegen Letzteres vorgeht, eine Alternative gegenübergestellt: die »Danger Theory«. Demnach löse weniger die Fremdheit eines Moleküls eine Immunantwort aus als dessen Gefahr für den Organismus. Ich erinnere mich noch gut, wie sich unsere Diskussion lange im Kreis drehte, weil einige Kollegen sich partout nicht von der alten Sichtweise lösen konnten. Dabei sollte man doch gerade in der Forschung immer offen für gänzlich neue Ideen sein – weshalb ich die Publikation auch vorgestellt hatte.
Ein ähnlicher Perspektivenwechsel könnte nun Neurobiologen blühen: Eine Reihe von Forschern, darunter der Physiker Thomas Heimburg, ist überzeugt davon, dass Informationen nicht über elektrische Impulse zwischen Nervenzellen weitergegeben werden, sondern über Druckwellen, die an der Membran der dünnen neuronalen Fortsätze entlanglaufen. Die Spannungsschwankungen seien demnach lediglich eine Begleiterscheinung der mechanischen Impulsleitung und nicht zentral für die Arbeitsweise unseres Gehirns. Eine kühne These, aber es gibt reichlich Belege, die sie stützen, wie der Artikel ab S. 12 darlegt.
Wie die »Danger Theory« stößt der Ansatz natürlich auf vielfachen Widerstand unter Neurowissenschaftlern. Als ein Redaktionskollege auf der Lindauer Nobelpreisträgertagung den Entwicklern der Patch-Clamp-Technik Erwin Neher und Bert Sakmann von dem Artikel erzählte, winkten diese nur ab – wenig überraschend vielleicht bei Spezialisten für Elektrophysiologie. Womöglich liegt die Wahrheit ja auch in der Mitte: Elektrische und mechanische Aspekte spielen eine Rolle, je nach betrachteter Teilaufgabe mehr oder weniger. In der Immunologie hat das Gefahrenmodell die alte Sichtweise jedenfalls nicht verdrängt, sondern ergänzt, da sie einige Aspekte besser erklären kann, aber längst nicht alle.
Herzlich grüßt Ihr
Hartwig Hanser
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