Editorial: Falsch verstandene Amygdala
Vor einigen Jahren ging ich zu nächtlicher Stunde allein durch die Stadt nach Hause. Es ist nicht weit und die frische Luft tut gut, dachte ich mir. Das bereute ich allerdings, als ich plötzlich hinter mir Schritte hörte, die immer schneller auf mich zukamen. Ich drehte mich um und sah im Dunkeln einen Mann, der augenscheinlich die Verfolgung aufnahm. Mein Herz raste, ich zitterte und beschleunigte. Mir schossen allerhand Gedanken durch den Kopf: Muss ich mich verteidigen? Wohin kann ich fliehen? Zum Glück fand in einem der Häuser dort eine Party statt; ich klingelte und man ließ mich ein. Wer weiß, vielleicht hatte er es ja nur eilig. Aber ich bin froh, dass ich es nicht darauf ankommen lassen musste, seine wahren Absichten herauszufinden.
Für solche bedrohlich wirkenden Situationen hat uns die Evolution mit einem überlebenswichtigen Alarmsystem ausgestattet: Der Puls rast, Adrenalin flutet den Körper, wir reagieren automatisiert mit Flucht, Erstarren oder Verteidigung – begleitet vom intensiven Gefühl der Furcht. Jahrzehntelang galt der Mandelkern, wissenschaftlich Amygdala, als das Hirnzentrum für Angst und Schrecken, als Ort, wo solche Empfindungen entstehen. Studien an Tieren und Menschen schienen das zu belegen. Aber selbst Joseph LeDoux, jener Forscher, der die Idee einst befeuerte, bemüht sich heute darum, diese Darstellung zu korrigieren. So erzeugt der Mandelkern zwar die körperliche Reaktion auf Bedrohung, aber für das Gefühl der Angst, das Bewusstwerden der Gefahr ist er nicht zuständig. Auch sah man in einer defekten Amygdala lange die Ursache für Psychopathie. Doch kann es so einfach sein, wo das Gehirn derart komplex ist, fragt unser Autor Jan Schwenkenbecher und geht ab S. 68 dem »Mythos Amygdala« nach. Der Fall des vermeintlichen Angstzentrums zeigt zudem: Mitunter gibt es in der Forschung die Tendenz, gewünschte oder erwartete Effekte zu berichten und fehlende Befunde zu ignorieren. Das kann dann dazu führen, dass sich solche fehlerhaften Vorstellungen festsetzen.
Eine spannende Lektüre wünscht
Anna Lorenzen
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