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Nobelpreis für Medizin: Ein Spalt und seine Folgen

Zum Abschluss des "Jahrzehnts des Gehirns" wurden drei Neurowissenschaftler ausgezeichnet – allerdings für Arbeiten aus den fünfziger bis siebziger Jahren. Sie betreffen grundlegende Mechanismen der synaptischen Signalübertragung und des Lernens.


Gibt es einen unsichtbar kleinen Spalt zwischen den Nervenendungen und den Zellen, mit denen sie kommunizieren, oder gibt es ihn nicht? Diese Frage spaltete im 19. Jahrhundert die Wissenschaftsgemeinde. Die beiden Pioniere der Neurowissenschaften und Nobelpreisträger des Jahres 1906, Camillo Golgi (1843–1926) und Santiago Ramón y Cajal (1852–1934), stritten praktisch ein Leben lang darüber, ob die feinen Verästelungen von Neuronen direkt mit anderen Zellen in Berührung kommen, wie Golgi in Analogie zum kontinuierlichen Netzwerk der Blutgefäße annahm, oder ob sie durch eine Lücke getrennt bleiben, was Ramón y Cajal behauptete, ohne jedoch den endgültigen Beweis dafür erbringen zu können.

Erst mit dem Elektronenmikroskop ließ sich zweifelsfrei klären, dass dieser heiß umstrittene Spalt, die so genannte Synapse, wirklich existiert: Er ist im typischen Fall etwa 15 Nanometer weit. Zum Teil dank der Arbeiten der diesjährigen Preisträger wissen wir heute, dass Synapsen größte Bedeutung für die Regulierung der Nervenempfindlichkeit und die Ausbildung von Erinnerungen haben.

An der Synapse wird der elektrische Reiz kurzfristig in ein chemisches Signal umgewandelt: Die Nervenendung schüttet einen Botenstoff aus, der den Spalt durchquert und von der Empfängerzelle aufgenommen wird. Dieser Vorgang ist natürlich langsamer als die rein elektrische Signalweiterleitung, eröffnet aber die Möglichkeit der Verstärkung oder Hemmung des Signals durch chemische Substanzen. Auf diesem Phänomen beruht die Wirkung vieler Medikamente und Tranquilizer.

Von den drei Preisträgern ist Arvid Carlsson derjenige, dessen entscheidender Beitrag am längsten zurückliegt. Ende der fünfziger Jahre steckte die Neurochemie noch in den Anfängen, und nur wenige der chemischen Botenstoffe des Gehirns – der so genannten Neurotransmitter – waren bekannt. Carlsson, der 1959 eine Professur an der Universität Göteborg antrat, interessierte sich für eine Substanz namens Dopamin, die als bloßes Zwischenprodukt des Biosynthesewegs vom Tyrosin zu den bekannten Botenstoffen Noradrenalin und Adrena-lin galt. Mit Hilfe eines von ihm selbst entwickelten Nachweisverfahrens konnte Carlsson jedoch zeigen, dass Dopamin in an-deren Hirnregionen angereichert ist als Noradrenalin. Demnach musste sie eine eigenständige Rolle spielen.

Um diese Rolle genauer zu bestimmen, gab Carlsson Versuchstieren den Wirkstoff Reserpin aus der Indischen Schlangenwurzel (einem Rauwolfia-Gewächs), der die Vorräte bestimmter Botenstoffe abbaut und noch heute als Mittel gegen Bluthochdruck eingesetzt wird. Daraufhin kam es zu Bewegungsstörungen – insbesondere konnten die Tiere keine spontanen Bewegungen mehr ausführen. Verabreichte Carlsson anschließend L-Dopa (L-Dihydroxyphenylalanin), den Vorläufer des Dopamins, so verschwanden die Störungen, und die Konzentration an Dopamin im Gehirn normalisierte sich wieder.

Ähnliche Symptome wie bei Carlssons Versuchstieren sind typisch für ein neurologisches Leiden beim Menschen: die Parkinson-Krankheit. Parkinson-Patienten erkennt man gewöhnlich an einem unwillkürlichen Zittern der Hände, das aufhört, wenn die Betroffenen eine gezielte Bewegung mit der Hand ausführen. Galt diese Krankheit zunächst als altersbedingte, irreversible Verfallserscheinung, so eröffnete Carlssons Erkenntnis den Weg zu ihrer medikamentösen Behandlung. Da Dopamin selbst nicht die Blut-Hirnschranke passiert, setzte George C. Cotzias am Brookhaven-Nationallaboratorium in Upton (US-Bundesstaat New York) 1967 L-Dopa ein, das er in massiven Dosen oral verabreichte – mit überwältigendem Erfolg.

Somit war zwar bekannt, welche Symptome das Fehlen von Dopamin auslöst, doch der Mechanismus seiner Wirkung blieb zunächst unklar. Der zweite Preisträger, Paul Greengard, fand gegen Ende der sechziger Jahre heraus, welche molekularen Reaktionen auf der anderen Seite der Synapse beim Eingang eines Dopamin-Signals auftreten.

Damit eine andere Zelle das Signal empfangen kann, muss sie in ihrer Membran eine spezifische "Antenne" besitzen, den so genannten Dopaminrezeptor. Dieser stimuliert nach dem Andocken des Neurotransmitters in ihrem Inneren zunächst die Produktion eines weiteren Botenstoffs, des cyclischen Adenosinmonophosphats (cAMP), das auch auf anderen Signalwegen, etwa bei der Hormonreaktion auf Adrenalin, als "second messenger" dient. cAMP aktiviert seinerseits ein Enzym, das an seine Substratproteine eine Phosphatgruppe anknüpfen kann, eine so genannte Kinase.

Greengards Team fand heraus, dass das cAMP ähnlich wie bei der Hormonreaktion (etwa beim durch Adrenalin ausgelösten Stärkeabbau in Leberzellen), eine ganze Kaskade von Phosphorylierungsreaktionen auslöst. Wenn eine Kinase auf diese Weise viele Moleküle einer weiteren Kinase aktiviert, ergibt sich eine Signalverstärkung, die bei einer mehrstufigen Enzymkaskade etliche Größenordnungen betragen kann.

Greengard identifizierte überdies ein Schlüsselprotein in der Signalverarbeitung an der Synapse, ein Phosphoprotein namens DARPP-32. In seiner phosphorylierten Form hemmt es eine andere Gruppe von Enzymen: die Phosphorylasen, die hinwiederum die Aktivität bestimmter Ionenpumpen und -kanäle steuern. Ionenpumpen können einen Ladungsunterschied zwischen den beiden Seiten der Zellmembran herstellen oder verändern, und so das chemische Signal wieder in ein elektrisches verwandeln. Hemmstoffe für Phosphorylasen dienen heute als Medikamente gegen die starken Stimmungsschwankungen bei manisch-depressiven Patienten.

Der dritte im Bunde, Eric R. Kandel, kam von den Geisteswissenschaften über die Psychologie zur Hirnforschung. Kandel, dessen Familie 1938 aus Wien fliehen musste, studierte an der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) und ist heute an der Columbia-Universität in New York tätig.

Seinen Erfolg verdankt er zu einem guten Teil der geschickten Wahl seines glibberigen Forschungsobjekts – der Meeresschnecke Aplysia. Dieses einfache Tier hat nur 20000, aber dafür ungewöhnlich große Nervenzellen. Sie sind, wie sich später herausstellte, zudem in einem genau festgelegten Schaltplan miteinander verknüpft, sodass man bei verschiedenen Tieren leicht die äquivalenten Neuronen identifizieren kann.

Kandel untersuchte an diesen Tieren einfache Gedächtnisleistungen (siehe "Molekulare Grundlagen des Lernens" von Kandel und Robert D. Hawkins, Spektrum der Wissenschaft 11/92, S. 66). Insbesondere benutzte er einen Schutzreflex der Schnecke, der sich je nach den zuletzt gemachten Erfahrungen stärker oder schwächer ausprägen kann, also einen Einblick erlaubt, was das Tier sich gemerkt hat. So konnte Kandel nachweisen, dass die Schnecke unterschiedliche Mechanismen für Kurz- und Langzeitgedächtnis hat, und dass beide an der Synapse angesiedelt sind.

Das Kurzzeitgedächtnis hält für einige Minuten bis maximal Stunden an. Es beruht im Wesentlichen darauf, dass bestimmte Ionenkanäle in der den Reiz empfangenden Nervenendung auf den von Greengard ermittelten Reaktionswegen phosphoryliert werden. Diese Nervenendung nimmt dadurch mehr Calciumionen auf und wird so angeregt, ihrerseits mehr Neurotransmitter für eine nachgeschaltete Zelle auszuschütten. Auf diese Weise wird der Reflex verstärkt.

Das Langzeitgedächtnis hält sich dagegen über mehrere Wochen und beruht auf tiefgreifenderen zellbiologischen Veränderungen. Das Signal wird in diesem Fall über cAMP und Proteinkinasen an den Zellkern weitergeleitet, wo es das Ablesen bestimmter Gene und damit die Herstellung der zugehörigen Proteine beeinflusst. Diese gelangen in die Nervenendung und können dort zum Beispiel die Form und Größe der Synapse und somit auch ihre Empfindlichkeit im Normalzustand dauerhaft verändern.

Zwar haben diese Untersuchen bisher noch nicht zu konkreten Medikamenten geführt, die etwa das Lernvermögen steigern. Dennoch berechtigt das Verständnis elementarer Gedächtnisvorgänge, das anhand dieses einfachen Modellsystems erreicht wurde, zu der Hoffnung, innerhalb der nächsten zehn Jahre alters- oder krankheitsbedingte Gedächtnisstörungen medikamentös behandeln zu können.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2000, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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