Ein umwerfendes Experiment
Physikalisches Wettspiel: Als Spielführer betreuten wir zwei gegnerische Mannschaften, sechs ausgewählte Schüler aus den obersten Klassen einer Oberschule gegen sechs ihrer Lehrer, die den Mut hatten, vor aller Öffentlichkeit gegen ihre jungen "Cracks" in den Naturwissenschaften anzutreten – wohlverstanden nicht die Mathematik- oder Physiklehrer, sondern Vertreter anderer Fächer wie Deutsch, Erdkunde oder Musik. Für beide Mannschaften hatten wir den gleichen Versuchsaufbau vorbereitet: Eine schwere Eisenkugel hing an einer gut zwei Meter langen Schnur von oben herab. Genau senkrecht unter die Deckenhaken stellten wir zu Beginn je eine leere Weinflasche. Mit Bedacht hatten wir die Schnur ein paar Zentimeter länger gemacht, als der Abstand von der Decke zum Flaschenhals betrug, und mussten deshalb, um der Flasche Platz zu machen, das Pendel aus seiner senkrechten Ruhelage auslenken. In solcher Lage aus der ruhenden Hand entlassen, sollte das Pendel bei der ersten Gelegenheit die Flasche umstoßen. Dass das möglich war, konnte jeder einsehen, ohne den Versuch zu machen. Wir stellten eine schwierigere Aufgabe: "Startet euer Pendel so", verlangten wir von den Mannschaften, "dass die Kugel auf dem Hinweg glatt an der Flasche vorbeigeht, sie aber auf dem Rückweg umstößt!"
Experimente: Eifrig reihten beide Mannschaften Versuch an Versuch. Wir hatten in der Nähe der Pendel vorsorglich Mikrofone aufgestellt, damit wir selbst und die Zuschauer die internen Diskussionen verfolgen konnten. So erfuhren wir, dass sich beide Lager sehr rasch über das Problem im Klaren waren: Der Rückweg der Kugel war ein symmetrisches Bild des Hinwegs. Wenn sie auf einem Weg das Zentrum mied, dann auch auf dem anderen. Während der kurzen Bedenkzeit suchten daher beide Mannschaften fieberhaft nach einem physikalischen Effekt, der die Symmetrie der Bewegung stören konnte.
Erster Kandidat ist der Luftwiderstand der Kugel und der Schnur, der zweifellos die Bewegung des Pendels bremst. Für lange Laufzeiten, zum Beispiel eines Foucault-Pendels, ist auch die Reibung im Lager der Schnur nicht zu vernachlässigen. Ein nur sich selbst überlassenes Schwerependel kommt deshalb früher oder später zur Ruhe. Könnte die Luftreibung eine Kugel, die man auf dem Hinweg sehr knapp an der Flasche vorbei steuerte, bis zur Rückkehr schon so weit abgebremst haben, dass sie die Flasche vielleicht nur leicht streifte, aber trotzdem umwürfe? Um diese Möglichkeit von vornherein auszuschließen, hatten wir schwere Pendelkugeln ausgesucht, die im Verlaufe einer einzigen Schwingung nicht merklich an Schwung nachließen. Die Mannschaften bemühten sich einige Zeit vergeblich, das Pendel ganz nahe an der Flasche vorbeizudirigieren, stießen sie aber, wenn überhaupt, schon auf dem Hinweg um. Hätten wir leichte Styropor- statt gewichtiger Eisenkugeln genommen, wären sie wohl mit etwas Geschick zum Erfolg gekommen. Unter den gegebenen Bedingungen konnte der Luftwiderstand aber nicht die Lösung sein.
Die zweite Hoffnung der Mannschaften war der Magnus-Effekt. Was lag den Tennisspielern unter unseren "Forschern" näher, als die Kugel mit Effet zu starten, das heißt, sie so in Drehung zu versetzen, dass aerodynamischer "Auftrieb" sie quer zur Flugrichtung beschleunigte? Beim Golfspiel wird durch Effet um eine horizontale Achse quer zur Bahn der Flugweg des Balles spielentscheidend verlängert (Spektrum der Wissenschaft 9/2001, S. 58), beim Tennis oder Tischtennis dient Effet vor allem dazu, den Weg des Balles abzufälschen, um den Gegner zu täuschen. In unserem Spiel induziert die Drehung der fliegenden Kugel um die Richtung ihrer Pendelschnur in der Luft eine "Auftriebskraft", die je nach Drehsinn nach innen, also auf die Flasche zu, oder nach außen gerichtet ist. Man überlegt schnell, dass die Magnuskraft die Kugel zur Flasche treibt, wenn die Kugel im gleichen Sinne rotiert, in dem sie die Flasche umrundet. Die Mannschaft, die den Effet für sich entdeckt hatte, begann eilig die Schnur mit der Kugel zu verwinden in der Hoffnung, die Schnur werde beim Aufdrehen die Kugel in rasche Drehung versetzen. Das gelang ihr recht gut, und auch die theoretische Überlegung, auf die sie sich gründete, war richtig. Leider war ihr praktisch kein Erfolg beschieden, weil die Magnuskraft, gemessen an der Rückstellkraft des Pendels (der zur Schnur senkrechten Komponente ihres Gewichts), unter den im Versuch erreichbaren Geschwindigkeiten viel zu schwach war. Wirklich schade! Die Bedenkzeit war leider um, und die Spielführer hatten nun ihre Erklärung zu geben.
Theorie des Schwerependels: Wie lässt sich einsehen, dass die Pendelkugel, einmal an der Flasche vorbei geschickt, fortan die Flasche meidet wie die Katze den heißen Brei, vorausgesetzt, dass keine weiteren Kräfte (wie Luftwiderstand oder Magnuseffekt) Einfluss auf die Bewegung nehmen? Ein in einem Punkt aufgehängtes Schwerependel kann nicht nur in einer vertikalen Ebene schwingen, sondern auch, während die Kugel auf einem horizontalen Kreis umläuft, mit der Schnur einen senkrechten Kreiskegel in den Raum zeichnen – die zwei typischen Bewegungen eines Kugelpendels, aus denen sich alle anderen denkbaren Bewegungen zusammensetzen lassen. Solange die Reibung keinen Einfluss hat, bleiben gewisse Eigenschaften der Bewegung zeitlich konstant und charakterisieren sie weit gehend: für die ebene Pendelschwingung die Energie, die Summe von Bewegungsenergie und Lageenergie der Kugel im Schwerefeld, und für die Kegelbewegung auch der Drehimpuls um die senkrechte Achse durch den Aufhängepunkt. Wer die Kugel auf dem Hinweg an der Flasche vorbei schicken will, muss ihr einen angemessenen Drehimpuls auf die Reise mitgeben. Der aber hindert sie auf dem Rückweg daran, sich der Flasche in unfreundlicher Absicht zu nähern. Die Ruhelage im Zentrum ist für das Pendel mit Drehimpuls unerreichbar.
Ein fauler Trick: Mit Physik kommt man nicht zum Ziel – so scheint es. Die gestellte Aufgabe lässt sich aber mit einem Trick lösen. Den haben wir den Mannschaften vorgeführt und böse Beschimpfungen geerntet. Eine etwas dickere Schnur verkürzt sich beim Verdrillen. Wir verdrillten die Schnur so weit, dass das Pendel bei der Schwingung durch die Mittelebene auf dem Hinweg gerade noch über die Flasche schwebte. Bis zur Rückkehr hatte sich die Schnur so weit aufgedreht, dass die Kugel die Flasche umwarf. Wie ich schon erzählte, fing eine der Mannschaften beim Spiel an, die Schnur zu verdrillen, allerdings um von deren elastischer Rückstellkraft Gebrauch zu machen. Einen Augenblick lang dachten wir schon, sie wäre auf den Trichter gekommen. Aber die Jugend hatte weniger Hintergedanken als wir.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2002, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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