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Gentechnik: Essbare Impfstoffe

Jedes Jahr sterben Millionen Menschen, weil sie keinen Zugang zu traditionellen Impfstoffen haben. Vor allem viele Kinder könnten vor oft tödlichen Krankheiten bewahrt werden, wenn es gelingt, sie allein durch Essen von genetisch veränderten Bananen und anderen Früchten zu impfen.


Im Kampf gegen Infektionskrankheiten haben Impfstoffe bisher wahre Wunder vollbracht. Dank ihrer Hilfe gehören Pocken-Epidemien der Vergangenheit an, und dasselbe könnte bald auch für Kinderlähmung gelten. Eine internationale Impfkampagne gegen die sechs wichtigsten Infektionskrankheiten – Diphtherie, Keuchhusten, Kinderlähmung, Masern, Tetanus und Tuberkulose – hat in den späten neunziger Jahren vermutlich immerhin 80 Prozent der Kleinkinder in aller Welt erreicht, im Vergleich zu fünf Prozent in den siebziger Jahren. Ohne sie fiele die jährliche Todesbilanz hierfür höher aus: um etwa drei Millionen Menschen

Doch sollten diese Erfolge nicht darüber hinwegtäuschen, dass eben noch immer 20 Prozent der Kinder von den Impfprogrammen gar nicht erreicht werden – und dies bedeutet mehr als zwei Millionen unnötige Todesfälle jedes Jahr, die meisten davon in den entlegensten und ärmsten Regionen der Erde. Zusätzlich gefährden politische Unruhen mancherorts die bisherigen Fortschritte. Außerdem sterben auch heute Millionen Menschen weltweit an Infektionskrankheiten, gegen die es bisher keine Impfstoffe gibt – oder nur zu teure oder unzuverlässige.

Diese Situation ist nicht nur für Regionen mit unzureichender Gesundheitsversorgung Besorgnis erregend, sondern für die gesamte Weltbevölkerung. Denn Herde für Infektionskrankheiten, die woanders praktisch nicht mehr vorkommen, gleichen Zeitbomben: Je näher die Kontinente durch internationalen Handel und Verkehr zusammenrücken, desto schneller wandern auch lokal ausbrechende Epidemien um die Welt.

Bereits Anfang der neunziger Jahre dachte Charles J. Arntzen – damals an der A&M-Universität in College Station (Texas) – über einen Weg nach, möglichst viele Kinder mit Impfstoffen zu versorgen. Er hatte von der Forderung der Weltgesundheitsbehörde nach preisgünstigen Schluckimpfungen gehört, die keine Kühlung benötigen. Kurz darauf, bei einem Besuch in Bangkok, sah er eine Mutter, die ihr weinendes Kind durch ein Stück Banane beruhigte. Das brachte ihn auf die Idee, Nutzpflanzen genetisch so zu verändern, dass sie in ihren genießbaren Teilen Impfstoffe produzierten. Diese könnten dann, wann immer nötig, einfach gegessen werden.

Impfstoffe vor Ort wachsen lassen

Zu diesem Zeitpunkt existierten bereits Verfahren, um ausgewählte Gene ins Erbgut einer Pflanze einzuschleusen. Wenn alles gut ging, produzierte diese gemäß der genetischen Bauanleitung die zugehörigen fremden Proteine. Warum sollte das nicht auch für Eiweißstoffe von Erregern gelingen, gegen die man den Körper immun machen möchte?

Die Vorteile wären enorm. Einheimische könnten die "transgenen" Pflanzen vor Ort anbauen und mit den ihnen vertrauten Methoden günstig kultivieren. Da sich viele Nutzpflanzen leicht vermehren lassen, müssten die Farmer nicht für jede weitere Anbauperiode neue Pflanzen oder Samen kaufen. Auch würde der lokale Anbau logistische und ökonomische Probleme lösen, wie sie beim Kühltransport über große Distanzen und bei der Lagerung konventioneller Vakzine auftreten. Auch Injektionsnadeln könnten entfallen, die – abgesehen von den Kosten – bei mehrfacher Verwendung selbst wieder Infektionsgefahren bergen.

Allerdings stecken die Bemühungen, Arntzens Zukunftsvision zu verwirklichen, noch in den Anfängen. Die in den letzten zehn Jahren durchgeführten Tierexperimente und kleinen Pilotstudien am Menschen lassen jedoch immerhin hoffen, dass essbare Impfstoffe wie gewünscht schützen. Auf Grund dieser Forschung spekulieren Experten auch über die Möglichkeit, mit solchen Impfstoffen Autoimmun-Erkrankungen zu unterdrücken. Hier greift das Immunsystem irrtümlich körpereigene Strukturen an, was zu schweren Gewebeschäden führt. Zu den "selbstzerstörerischen" Erkrankungen, die sich vielleicht verhüten oder mildern ließen, gehören der gewöhnlich früh auftretende Typ-I-Diabetes, die multiple Sklerose und die rheumatoide Arthritis.

Gleichgültig wie Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten verabreicht werden, sie verfolgen alle das gleiche Ziel: Sie bereiten das Immunsystem auf bestimmte Krankheitserreger vor, sodass es sie bei späterem Kontakt rasch gezielt angreifen kann. Klassische Impfstoffe arbeiten entweder mit abgeschwächten lebenden Viren oder Bakterien, die sich nicht mehr richtig vermehren können und somit keine Gefahr für den zu impfenden Organismus darstellen, oder – alternativ – mit abgetöteten Keimen.

Der erstmalige Kontakt mit dem vermutlich eingedrungenen Erreger alarmiert das Immunsystem. Es verhält sich so, als ob der Organismus wirklich attackiert würde und mobilisiert seine verschiedenen Abwehreinheiten gegen den Eindringling. Dabei nimmt es bestimmte als fremd erkannte Proteinstrukturen ins Visier. Die erkannten Moleküle bezeichnet man als Antigene. Die erste schnelle Abwehrreaktion klingt zwar bald ab, doch es bleiben Wachpatrouillen zurück: die so genannten Gedächtniszellen. Bei Angriff des echten Erregers mobilisieren sie sofort eine Heerschar von Verteidigern, die prompt gezielte Abwehrmaßnahmen einleiten. Manche Impfungen verleihen praktisch lebenslange Immunität; andere, wie die gegen Cholera und Tetanus, müssen regelmäßig aufgefrischt werden.

Klassische Impfstoffe bergen immer ein kleines, aber beunruhigendes Restrisiko, dass die verwendeten Mikroorganismen wieder aktiv werden und somit die Krankheit auslösen, die sie eigentlich verhindern sollten. Aus diesem Grund greifen Wissenschaftler bei der Entwicklung neuer Impfstoffe heutzutage lieber auf einzelne Untereinheiten der Krankheitserreger zurück. Die so genannten Subunit-Vakzine enthalten bestimmte Proteine der Erreger, aber keine Erbsubstanz. Ihr Vorteil liegt auf der Hand: Sie können selbst keine Infektion hervorrufen. Allerdings sind diese Impfstoffe teuer, unter anderem deshalb, weil ihre biotechnische Herstellung in Kulturen von Bakterien oder tierischen Zellen einen aufwendigen Reinigungsschritt beinhaltet. Außerdem können sie wieder nur gekühlt aufbewahrt sowie transportiert werden.

Essbare Impfstoffe sind dem Prinzip der Subunit-Vakzine nachempfunden. Auch sie enthalten nur ausgewählte Antigene. Eine unkontrollierte Vermehrung – und somit ein Ausbruch der Krankheit infolge des Impfstoffes – kann aus diesem Grund ausgeschlossen werden.

Bereits vor zehn Jahren war Arntzen und anderen Forschern klar, dass essbare Impfstoffe deshalb genauso sicher wie Subunit-Vakzine wären, aber wesentlich kostengünstiger und robuster. Doch vor einem Einsatz am Menschen mussten erst einmal etliche Fragen geklärt werden. Würden die gentechnisch veränderten Pflanzen überhaupt funktionstüchtige Antigen-Proteine produzieren? Würden die Magensäfte von Versuchstieren diese Eiweißstoffe vorzeitig zerstören? (Subunit-Vakzine müssen normalerweise injiziert werden, weil Verdauungsenzyme sie sonst abbauen.) Selbst wenn "überlebende" Antigene das Immunsystem wirklich alarmieren – würde die ausgelöste Immunreaktion auch stark genug sein, um die Tiere vor einer Infektion zu schützen?

Außerdem wollten die Forscher wissen, ob essbare Impfstoffe eine Immunität der Schleimhaut hervorrufen können. Da viele Krankheitskeime über Nase, Mund oder andere Körperöffnungen eindringen, liegen die vordersten Verteidigungslinien in den Schleimhäuten, welche die Atemwege, Verdauungs- und Harnwege sowie den Genitaltrakt auskleiden. Ist die Immunantwort dieser ersten Barriere effektiv, werden dort so genannte sekretorische Antikörper freigesetzt, die den Eindringling umhüllen und dadurch unschädlich machen können. Eine wirkungsvolle Lokalreaktion aktiviert außerdem Abwehrzellen, die das Blut- und Lymphsystem durchwandern. So kommt eine den ganzen Körper umfassende "systemische" Immunantwort zustande, auch fern des ursprünglichen Geschehens.

Injizierte Impfstoffe umgehen primär die Schleimhäute und verstehen sich deshalb gewöhnlich nicht besonders gut auf die Stimulation der dortigen Immunreaktion. Essbare Impfstoffe hingegen kommen zwangsläufig mit der Schleimhaut des Verdauungssystems in Berührung. Sie sollten deshalb – zumindest theoretisch – beide Formen der Immunität hervorrufen. Dieser doppelte Effekt wiederum verspricht besseren Schutz vor vielen gefährlichen Mikroorganismen – einschließlich dem Erreger für schweren Durchfall.

Bei der Entwicklung essbarer Impfstoffe steht gerade der Schutz vor Durchfallerkrankungen an vorderer Stelle. Deren wichtigste Verursacher sind das Rotavirus, das Norwalk-Virus, der Cholera-Erreger (das Bakterium Vibrio cholerae) und bestimmte Stämme des Darmbakteriums Escherichia coli. Insgesamt kosten sie jedes Jahr mehr als drei Millionen Kindern das Leben, vor allem in der Dritten Welt. Sie alle schädigen die Schleimhaut des Dünndarms, sodass Wasser aus dem Blut und den Geweben in den Hohlraum des Darms übertritt. Den rapiden Wasser- und Salzverlust kann man zwar mit elektrolythaltigen Infusionen oder Trinklösungen begegnen. Stehen solche Möglichkeiten zur Rehydrierung jedoch nicht zur Verfügung, verlaufen die Durchfallerkrankungen oft tödlich. Und bis jetzt gibt es keine Impfstoffe dagegen, deren breiter Einsatz in Ländern mit schlechter Infrastruktur praktikabel wäre.

Mitte der neunziger Jahre war wenigstens eine der vielen offenen Fragen bei der Entwicklung essbarer Impfstoffe beantwortet: Pflanzen konnten tatsächlich fremde Protein-Antigene in der korrekten räumlichen Gestalt produzieren. Arntzen und seine Kollegen hatten dazu das Gen für ein Protein des Hepatitis-B-Virus in Tabakpflanzen eingeführt (der Erreger verursacht Leberentzündungen und fördert Leberkrebs). Injizierten sie Mäusen das hergestellte Protein-Antigen, löste es die gleichen Immunreaktionen aus wie das Virus selbst.

Aber nicht Injektionen, sondern Impfungen durch Nahrungsaufnahme sind das Ziel. Auf den Etappen dorthin waren in den letzten fünf Jahren zahlreiche Fortschritte zu verzeichnen, so von meinem Team an der Universität Loma Linda (Kalifornien) und dem von Arntzen, mittlerweile am Boyce-Thomson-Institut für Pflanzenforschung an der Cornell-Universität in Ithaca (US-Bundesstaat New York). Beide Gruppen wiesen mit unterschiedlichen genmanipulierten Kartoffel- oder Tomatenpflanzen nach, dass die verfütterten Knollen oder Früchte sowohl eine "mukosale" – in den Schleimhäuten – als auch eine systemische Immunantwort auslösen können. Sie schützten vollständig oder zumindest teilweise vor dem Hepatitis-B-Virus, dem Norwalk-Virus sowie den bakteriellen Giftstoffen von E. coli und Vibrio cholerae. Auch gegen das Tollwutvirus beispielsweise und gegen das Bakterium Heliobacter pylori (es verursacht Magen-Schleimhaut-Entzündungen und fördert Magenkrebs) haben Forscher essbare Impfstoffe entwickelt, die Labortieren einen gewissen Schutz bieten.

Pflanzenzellen bringen einen großen Vorteil mit: Durch eine zusätzliche stabile Zellwand um ihre Außenmembran sind sie sehr viel widerstandsfähiger als tierische Zellen. So haben die Antigene bessere Chancen, die zersetzende Magenpassage zu überstehen. "Bröckelt" die Zellwand schließlich im Darm, setzen die Pflanzenzellen langsam ihre Antigen-Fracht frei.

Doch was in Tiermodellen funktioniert, muss für den Menschen nicht gelten. Die klinische Erprobung steht hier erst am Anfang. An der ersten veröffentlichten Studie vor vier Jahren beteiligten sich rund ein Dutzend Probanden. Sie bekamen von Arnztens Team rohe, geschälte Kartoffeln zu essen – ausgestattet mit einem ungefährlichen Abschnitt des Toxins von E. coli. Das Ergebnis: sowohl eine spezifische Immunreaktion der Schleimhäute wie auch eine systemische Aktivierung der Abwehr. Eine spätere Studie des Teams mit einem Rohkartoffel Vakzin gegen das Norwalk-Virus löste bei 19 von 20 Probanden Immunreaktionen aus. Auch Salat eignet sich als "Transportmittel" für Impfstoffe, wie ein erster Test von Hillary Koprowski an der Thomas-Jefferson-Universität in Philadelphia zeigte. Hierbei entwickelten zwei der drei Freiwilligen nach Verzehr eine gut ausgeprägte systemische Abwehr gegen das Hepatitis-B-Virus. Doch ob essbare Impfstoffe den Menschen im Ernstfall ausreichend schützen, muss noch erforscht werden.

Die bisher abgeschlossenen Studien zeigen zwar, dass essbare Impfstoffe im Prinzip machbar sind. Doch bleiben noch viele Probleme zu lösen. Zum Beispiel produzieren Pflanzen nur geringe Mengen fremder Antigene. Allerdings lässt sich die Ausbeute steigern, etwa indem man das Antigen-Gen mit einem genetischen Steuerelement der Pflanze verknüpft, das die Produktion ankurbelt. Als Nächstes ist sicherzustellen, dass jede Pflanze auch ungefähr dieselbe Konzentration des Impfstoffes enthält. Große Schwankungen dürfen nicht auftreten.

Ferner lohnt ein Versuch, die geringen Konzentrationen an Antigen im Körper besser auszunutzen. Allgemein immunstimulierende Hilfsstoffe (Adjuvantien) sowie ein "zielsicheres" Design der Antigene könnten einen unzureichenden Gehalt der Pflanzen teilweise kompensieren. Eine mögliche Strategie, um die Antigene an die richtige Stelle zu lenken: Man koppele sie an spezifische Moleküle, die sich gut an spezialisierte Immunzellen der Darmschleimhaut heften. Diese als M-Zellen bezeichneten Komponenten der Abwehr fungieren als Kontrolleure. Stichprobenartig nehmen sie Material aus dem Darminhalt auf – auch eventuell vorkommende Krankheitskeime – und geben es an spezielle andere Zellen des Immunsystems weiter. Zu den Empfängern gehören Makrophagen (große Fresszellen) und dendritische Zellen. Diese zerlegen die aufgenommenen Proteine und bieten einzelne Fragmente auf einer Art molekularem Präsentierteller anderen Abwehrzellen dar. Erkennen nun so genannte T-Helferzellenaus der Gruppe der Lymphocyten die Bruchstücke als fremd, unterstützen sie andere Truppen, wie die B-Lymphocyten. Diese wiederum produzieren und entlassen passende Antikörper, die mit den Antigenen einen Komplex eingehen und sie neutralisieren. T-Zellenhelfen zudem, breiter angelegte Attacken gegen den entdeckten Eindringling in Gang zu bringen.

Als künstlicher Lenkkopf bietet sich nun ein für den Menschen ungefährliches Teilstück des Cholera-Toxins an: Diese B-Untereinheit heftet sich besonders gut an ein bestimmtes Oberflächenmolekül der Kontrolleurszellen. Indem man ihr Antigene anderer Krankheitserreger ankoppelt, sollte sich die Aufnahme in die M-Zellen und somit die Reaktion des Immunsystems steigern lassen. Die B-Untereinheiten vereinigen sich gewöhnlich zu fünft zu einem Ring. Diese Eigenart wäre bei der Entwicklung eines Kombi-Impfstoffes nützlich, um gleichzeitig verschiedene Antigene an die M-Zellen heranzuführen. Der Traum von einem einzigen Impfstoff, der gleichzeitig gegen die wichtigsten Infektionskrankheiten immun macht, könnte somit wahr werden.

Eine weitere noch zu überwindende Hürde hat mit der Überlastung der genmanipulierten Pflanzen zu tun: Wenn sie generell große Mengen eines fremden Proteins produzieren, wachsen sie oftmals nur dürftig. Ein Ausweg: Man stattet das Gen mit "automatischen" Steuerelementen aus, die beispielsweise nur in essbaren Teilen der Pflanze die Produktion freigeben oder erst ab einem bestimmten Wachstumsstadium. Denkbar ist auch ein "bedienbarer" Schalter, über den man die Synthese durch eine von außen zugeführte Aktivatorsubstanz zu jedem beliebigen Zeitpunkt anwerfen kann. Auch hier kommen die Forscher voran.

Impfstoffe gegen Diabetes?

Doch jede Pflanzenart fordert den Einfallsreichtum der Genetiker auf eigene Weise. Kartoffeln sind zum Beispiel in vieler Hinsicht ideal: Sie lassen sich einfach vermehren und außerdem über längere Zeit ungekühlt lagern, ohne dass ihre Qualität groß darunter leidet. Das Problem der Erdäpfel liegt allerdings in ihrer Zubereitung. Ihr roher Genuss ist nicht unbedingt ein Gaumenschmaus und meist nicht sonderlich bekömmlich. Beim Kochen jedoch verlieren Protein-Moleküle meist ihre natürliche, dreidimensional gefaltete Gestalt – sie denaturieren und taugen dann nicht mehr als Antigen.

Kartoffeln waren eigentlich nie als künftige Produktionsstätte der Impfstoffe gedacht, eigneten sich aber – wie Tabakpflanzen – wegen ihrer einfachen Manipulierbarkeit gut für Vorversuche. Wie sich aber zeigte, teilen nicht alle Menschen die Abneigung gegen rohe Kartoffeln; in Südamerika kommen einige Sorten durchaus ungekocht auf den Tisch. Auch zerfallen, entgegen der Erwartung, nicht alle Antigene beim Erhitzen. Daher sind Kartoffeln als Vakzin-Vehikel vielleicht doch brauchbarer als die meisten Forscher zunächst gedacht hatten.

Bananen wiederum stellen die Pflanzengenetiker vor andere Probleme. Zwar muss man sie nicht kochen, und die Pflanzen gedeihen verbreitet in der Dritten Welt, aber sie brauchen einige Jahre, bis sie herangewachsen sind. Außerdem verderben ihre Früchte rasch nach der Ernte. Das gilt auch für die weit verbreiteten Tomaten; sie wachsen dafür aber schneller. Abhilfe könnten preiswerte Konservierungsmethoden wie das Trocknen der Früchte schaffen.

Als weitere essbare Impfstoff-Produzenten erwägen Forscher auch Salat, Karotten, Erdnüsse, Reis, Weizen, Mais und Sojabohnen. Sicherzustellen ist allerdings, dass der Schuss nicht nach hinten losgeht. Bei dem Phänomen der "oralen Toleranz" etwa mindert gerade die Aufnahme bestimmter Proteine mit der Nahrung letztlich eine Reaktion gegen diese Antigene. Damit dies nicht bei einem essbaren Impfstoff passiert, bedarf es erst noch genauerer Kenntnis, wie sich die Reaktion in die gewünschte Richtung lenken lässt. Dosierung und Einnahmeschema müssen jedenfalls eine sichere, wirksame Anwendung gewährleisten.

Das Risiko der oralen Toleranz inspirierte mich und andere Forscher, diese eigentlich unerwünschte Wirkung essbarer Impfstoffe in eine nützliche umzumünzen: zum Eindämmen von Auto-Immunerkrankungen. Beim Diabetes vom Typ I beispielsweise zerstört der Körper die Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse, die eigentlich Insulin produzieren sollen. Fehlt das Hormon, bleibt Zucker im Blut, statt "hungrige" Zellen zu speisen. Diabetiker sind zeitlebens auf Insulin angewiesen und durch eine Reihe schwerwiegender Folgeschäden gefährdet.

In den letzten 15 Jahren haben Wissenschaftler in den Beta-Zellen mehrere Proteine identifiziert, die bei entsprechend veranlagten Personen Autoimmun-Attacken auslösen können. Hierzu gehört vor allem das Insulin selbst und das Enzym Glutamat-Decarboxylase. Auch bei der Früherkennung eines sich "zusammenbrauenden" Diabetes haben die Forscher Fortschritte gemacht. Nun gilt es herauszufinden, wie sich der schleichende Prozess aufhalten lässt, bevor Symptome entstehen. Daher haben meine Kollegen und andere Teams Diabetes-Impfstoffe auf Pflanzenbasis entwickelt: etwa Kartoffeln, die Insulin oder Glutamat-Decarboxylase enthalten – wiederum gekoppelt an die ungefährliche Untereinheit des Cholera-Toxins. Im Tiermodell zeigten sich erste Erfolge. Verfüttert man nämlich die Kartoffeln an einen Mäusestamm mit einer Veranlagung zu Diabetes, so wurde die selbstzerstörerische Immunreaktion unterdrückt; erhöhte Blutzuckerspiegel traten gar nicht oder erst verzögert auf.

Noch produzieren Pflanzen zu wenig solcher "Selbst-Antigene", als dass sie bei Menschen ausreichenden Schutz vor Diabetes oder anderen Auto-Immunerkrankungen gewährleisten könnten. Doch genauso wie im Falle von Infektionskrankheiten prüft man auch hier jetzt verschiedene Erfolg versprechende Lösungswege, für diese und weitere Probleme.

Die Entwicklung essbarer Impfstoffe hat freilich nicht nur wissenschaftliche Hemmnisse zu überwinden. Nur wenige Pharmaunternehmen wollen in Produkte investieren, die primär für Märkte außerhalb der lukrativen Industrieländer gedacht sind. Internationale Hilfsorganisationen, private Spender und die Regierungen einiger Länder versuchen die Finanzierungslücke zu schließen, doch alles in allem wird die Entwicklung essbarer Impfstoffe unzureichend gefördert. Leider färbt auch noch der Makel, der gentechnisch veränderten Lebensmitteln anhaftet, auf diesen medizinischen Bereich ab.

Ich persönlich hoffe jedoch, dass essbare Impfstoffe nicht zum Gegenstand ernster Kontroversen werden, da sie der Rettung von Menschenleben dienen und wohl auf viel weniger Fläche als andere gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut würden – wenn man sie überhaupt außerhalb von Gewächshäusern kultiviert. Als Pharmazeutika wären sie zudem viel strengeren Kontrollen unterworfen als genetisch manipulierte Pflanzen.

Literaturhinweise


Pflanzenbiotechnologie – Neuartige Lebensmittel (Novel Food) und Pharmazeutika. Von E. Schell-Frederick und J. S. Schell in: Deutsches Ärzteblatt 97: Heft 28/29, S. 1666, 2000.

Plant-Based Vaccines for Protection against Infectious and Autoimmune Diseases. Von J. E. Carter und W. H. R. Langridge in: Critical Reviews in Plant Sciences (im Druck).


Infos

Lebend-Impfstoffe enthalten lebende, aber abgeschwächte Viren oder Bakterien, die ihre krankmachende Eigenschaft verloren haben. Tot-Impfstoffe enthalten abgetötete Bakterien, inaktivierte Viren, bestimmte Bestandteile der Erreger oder ein entschärftes, ursprünglich krankmachendes Produkt von Bakterien (Beispiel: Tetanus-Toxin). DNA-Impfstoffe enthalten Teile der Erbsubstanz eines Erregers. Wenn menschliche Zellen davon etwas aufnehmen, produzieren sie vo-rübergehend fremde Proteine, die das Immunsystem alarmieren. Essbare Impfstoffe bestehen aus Früchten oder anderen genießbaren Teilen einer Pflanze, die gentechnisch zu einem Produzenten von Erreger-Proteinen umfunktioniert wurde.

Wie Kartoffeln zum Impfstoff werden

Gentechniker schleusen oft mit Hilfe des Bakteriums Agrobacterium tumefaciens fremde Gene in Pflanzenzellen ein. Im Falle essbarer Impfstoffe sind das Gene für Proteine, an denen der Körper Krankheitserreger erkennt. Solche Eiweißstoffe können eine zielgerichtete Immunreaktion auslösen und werden als Antigene bezeichnet.


Wie essbare Impfstoffe schützen

So genannte M-Zellen der Dünndarmwand nehmen das Antigen-Protein aus einem essbaren Impfstoff auf und reichen es an verschiedene andere Immunzellen weiter. Diese starten daraufhin Abwehrreaktionen – so als ob das Antigen der echte Erreger wäre und nicht nur ein harmloser Teil von ihm. Es bleiben langlebige Gedächtniszellen zurück, die den Krankheitserreger rasch neutralisieren, sobald er versucht, in den Körper einzudringen.


Angriffe auf das Selbst abwenden

Typ-I-Diabetes entsteht, wenn das Immunsystem fälschlich bestimmte Proteine der Insulin produzierenden Beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse für fremde Antigene hält. Die nachfolgende Autoimmunreaktion gegen die vermeintlich schädlichen "Selbst-Antigene" zerstört die Beta-Zellen. Dieser Prozess wird bei diabetischen Mäusen gebremst, wenn sie geringe Mengen der auslösenden Proteine mit dem Futter zu sich nehmen. Warum, ist aber unklar. Die zugeführten Autoantigene könnten Suppressorzellen des Immunsystems stimulieren, die dann die Angriffe anderer Abwehrzellen bremsen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 2001, Seite 64
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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