Frühe Hominiden
Der aufrechte Gang ist offenbar älter als bisher vermutet: mindestens vier Millionen Jahre. Dies erwiesen Fossilien einer erst seit kurzem bekannten Art von Australopithecinen, jener Vormenschen-Gattung, von der unsere Stammlinie abzweigte.
Ein Knochen, der schon 30 Jahre lang im Museumsfundus lag, er- wies sich kürzlich als aufschlußreich für die früheste Entwicklungsgeschichte des Menschen. Bereits 1965 hatte der Paläoanthropologe Bryan Patterson von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) das Oberarmfragment auf einem Kanapoi genannten Areal in Nordkenia geborgen. Aber daß ein kleines Stück vom Ellbogen nur sehr bedingt etwas über den Skelettbau und damit wenig über die evolutive Zuordnung des Wesens besagt, von dem es stammt, war ihm und seinen Kollegen bewußt.
Immerhin war ein tierischer Primat auszuschließen. Vielmehr deuteten gewisse Strukturmerkmale auf einen Australopithecus, also einen schon aufrecht gehenden frühen Hominiden. Allerdings glich das Fossil in Details sogar weniger dem einzigen anderen damals bekannten Oberarmknochen dieser Gattung, aus der die Homo-Linie hervorging, als denen von anatomisch modernen Menschen (Bild 2 unten). Verblüffend war deswegen das mutmaßlich hohe Alter: Trotz der noch wenig ausgereif-ten Bestimmungsmethoden konnten die Harvard-Wissenschaftler ermitteln, daß die Sedimentschicht, in der sie ihren Fund entdeckt hatten, wohl älter war als alle anderen bis dahin gesammelten Australopithecus-Fossilien.
In den nächsten Jahren kamen in Ostafrika so viele, zudem auch instruktivere Relikte früher Hominiden zutage, daß das bescheidene Stück von Kanapoi darüber in Vergessenheit geriet. Kein Forscher ahnte, daß es einmal dazu beitragen würde, eine neue – die bislang älteste – Australopithecus-Art zu etablieren, und daß man dann den Beginn des aufrechten Ganges, durch den sich die Hominiden von den höchstentwickelten tierischen Primaten unterscheiden, viel früher ansetzen müßte als jahrzehntelang angenommen: nicht vor etwa dreieinhalb, sondern vor mehr als vier Millionen Jahren.
Eine Vielfalt von Affenmenschen
Von der verwickelten Geschichte der Paläoanthropologie können wir hier nur einige Meilensteine nennen. Eine ihrer wichtigsten Fragen ist, wann und unter welchen Umständen menschenaffenähnliche Wesen sich auf die Hinterbeine erhoben.
Die ersten Fossilfunde ließen zwar vermuten, daß Australopithecinen im Prinzip dafür geeignet gebaute Knochen und Gelenke hatten; doch unklar war, inwieweit sie diese anatomischen Neuerungen überhaupt nutzten, und auch, wie gut sie wohl zu gehen vermochten. Der eindeutige Beweis, daß sie sich ohne weiteres auf zwei Beinen fortbewegten, fand sich erst 1978: Eine von der englischen Archäologin und Anthropologin Mary Leakey geleitete Expedition stieß damals bei Laetoli in Tansania auf die versteinerten Fußspuren dreier Individuen, die vor 3,6 Millionen Jahren durch feuchte Vulkanasche marschiert waren (Spektrum der Wissenschaft, April 1982, Seite 44).
Ein Relikt solcher Primaten, deren Merkmale auf die Evolution zum anatomisch modernen Menschen vorausweisen, hatte schon 1924 der Australier Raymond Dart (1893 bis 1988), der an der Universität des Witwatersrand in Johannesburg tätig war, bei Taung in der Kap-Provinz entdeckt: einen ziemlich kompletten Kinderschädel; Dart prägte auch den Namen Australopithecus (wörtlich: Südaffe). Weitere südafrikanische Fossilien ließen vermuten, daß es mindestens zwei Typen gegeben hatte, A. africanus und A. robustus, die beide den Beinknochen nach anscheinend in typischer Menschenmanier aufrecht ausschritten. Beide hatten indes noch ein recht kleines Gehirn, kaum größer als das von Menschenaffen, zugleich aber – anders als heutige Schimpansen und Gorillas – kleine, kaum vorragende Eckzähne. Die jüngere Spezies, A. robustus, wies überhaupt ein erstaunlich spezialisiertes, nämlich außerordentlich kräftiges Gebiß auf, und die Kiefer mit den großen Backen- und Vorbackenzähnen wurden offenbar von mächtigen Kaumuskeln bewegt, was man an Knochenleisten am Schädel erkennt, an denen sie ansetzten. All dies sind Zeichen, daß diese Australopithecinen sich von groben, harten Pflanzenteilen ernährten; große ineinandergreifende Eckzähne hätten Mahlbewegungen nicht zugelassen.
In den folgenden Jahrzehnten vermehrte sich die Zahl von Formen der Gattung, als auch in Ostafrika Grabungen Erfolg hatten. So fand Mary Leakey dort 1959 den Schädel eines mit A. robustus nur eng verwandten Hominiden, und später kamen noch etliche hinzu. Die Exemplare aus Äthiopien und Kenia waren von den südafrikanischen immerhin so verschieden, daß man diese grobschlächtigen Vormenschen in eine nördliche und eine südliche Art unterteilte.
Die nächste Spezies – Australopithecus afarensis – etablierte 1978 das Team von Donald C. Johanson, der inzwischen am Institute of Human Origins in Berkeley (Kalifornien) tätig ist. Belege dafür waren außer etlichen Knochen und Zähnen aus Laetoli zahlreiche, zum Teil sehr gut erhaltene Fossilien aus der Hadar-Region Äthiopiens; dazu gehört auch das ziemlich vollständige, 3,18 Millionen Jahre alte Skelett eines weiblichen Wesens, das sie 1974 entdeckten und Lucy nannten (siehe Bild 1 in Spektrum der Wissenschaft, Juni 1997, Seite 64). Diese Hominiden sind nach radiometrischen Datierungen älter als die anderen damals bekannten Australopithecinen; sie haben vor 3,6 bis vor 2,9 Millionen Jahren gelebt (Bild 4).
Inzwischen dürfte dies die am gründlichsten erforschte frühe Gruppe von Vormenschen sein, um die es in den letzten zwanzig Jahren aber auch die meisten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen gab. Der immer noch anhaltende Streit geht zum einen darum, ob A. afarensis und A. africanus etwa doch nur eine Art bildeten; man ist sich hinwiederum nicht sicher, ob es sich bei den Hadar-Fossilien lediglich um eine oder eventuell mehrere Spezies handelt, und ebenfalls nicht, ob die tansanischen und äthiopischen Funde dieselbe Art repräsentieren. Schließlich werden stets die zeitlichen Einordnungen bezweifelt.
Am heftigsten aber wird debattiert, wieviel Zeit des Tages die schon zu Zweibeinern gewordenen Wesen des Typs A. afarensis am Boden zubrachten. Ihre Knochen und Gelenke sind in vieler Hinsicht nämlich noch charakteristisch für einen an Stämmen und Ästen kletternden Primaten. Die eine Seite schließt aus den anatomischen Merkmalen auf ein entsprechendes Verhalten, während die andere sie lediglich als evolutiven Ballast deutet, als hinderlich gewordenes Erbteil von Vorfahren, die sich wirklich zumeist in der Kronenregion aufhielten. Einstweilen ist also nicht zu entscheiden, ob diese Vormenschen im Wald oder in der offenen Savanne lebten.
Eine Zeitlücke schließt sich: Australopithecus anamensis
Anfang der neunziger Jahre hatte man trotzdem bereits eine gute Vorstellung von der Lebensweise und speziellen Anpassungen dieser Gruppe. Gemeinsam waren allen bis dahin bekannten Arten die Fähigkeit zum aufrechten Gang, das menschenaffengroße Gehirn, die starken Kiefer sowie die großen Backenzähne mit dicker Schmelzschicht und die nicht überstehenden Eckzähne. Die Männer waren typischerweise größer als die Frauen; die Kinder wuchsen schnell und wurden früh geschlechtsreif.
Aber vom Ursprung dieser Hominiden wußte man wenig: Zwischen dem mutmaßlichen Erscheinen der ältesten gut bekannten Art, A. afarensis, vor 3,6 Millionen Jahren und dem wahrscheinlichen Zeitpunkt, als die Entwicklungslinien von Mensch und Schimpanse sich trennten, klaffte noch eine Lücke von wenigstens 1,5 Millionen Jahren. Man nimmt nämlich an, daß diese Trennung vor ungefähr fünf oder sechs Millionen Jahren geschah. Aus der Zwischenzeit gab es bis dahin nur einige wenige Zähne, Kieferfragmente und andere vermeintlich wenig aufschlußreiche Knochenstücke.
Das Intervall beginnt sich nun etwas zu füllen dank neuer Funde aus dem Becken des Turkana-Sees (des früheren Rudolf-Sees) im Norden Kenias, wo auch das eingangs erwähnte Kanapoi liegt (Bild 3). Expeditionen der kenianischen Nationalmuseen in Nairobi hatten in der Region zwar schon seit 1982 fast vier Millionen Jahre alte Relikte von Hominiden entdeckt, nur waren es hauptsächlich einzelne Zähne. In Ermangelung von Kiefer- oder Schädelfragmenten ließ sich kaum mehr sagen, als daß die Fossilien dem Afarensis-Ensemble von Laetoli ähneln.
Mehr Erfolg hatten wir dann an einer ungewöhnlichen Grabungsstätte gleich landeinwärts bei der Allia-Bucht am Ostufer des Sees. Dort liegt ein regelrechtes Fossilbett: Zu Millionen kommen an einem Hang Knochenfragmente und Zähne von zahlreichen verschiedenen Tieren – und eben auch einige von frühen Hominiden – zum Vorschein. Auf der Anhöhe steht eine Schicht verfestigter Vulkanasche an, der Moiti-Tuff, der radiometrischen Messungen zufolge etwas mehr als 3,9 Millionen Jahre alt ist. Da die Fossilien einige Meter tiefer liegen, müssen sie noch älter sein. Die Ursache dieser Massenansammlung versteht man noch nicht recht, doch hat sie gewiß ein Vorläufer des Omo abgelagert.
Heute entwässert der Fluß das nördlich gelegene äthiopische Hochland und mündet in den abflußlosen Turkana-See. Die Verhältnisse waren in den letzten vier Millionen Jahren allerdings nicht immer so. Während langer Zeiten des Pliozäns und frühen Pleistozäns (also zwischen etwa 5,3 und 1,6 beziehungsweise 1,6 und 0,7 Millionen Jahren vor der Gegenwart) hat allein der Fluß die Landschaft geprägt, wie Frank Brown von der Universität von Utah in Salt Lake City und Craig Feibel von der Rutgers-Universität in New Brunswick (New Jersey) ermittelten. Nur hin und wieder war dort ein See; meist unterhielt der alte Omo in der breiten Überschwemmungsebene ein ausgedehntes Flußsystem und mündete in den Indischen Ozean.
In einem der früheren Flußarme liegt das Fossilbett. Der größte Teil der Knochen und Zähne stammt von Tieren wie Fischen, Krokodilen und Flußpferden; sie sind arg verschliffen und verwittert, müssen also anderswoher angeschwemmt worden sein. Die selteneren besser erhaltenen Stücke, offenbar einst an Ort und Stelle abgelagert, zeugen von Bewohnern oder Besuchern der Uferzone: Nachgewiesen sind mehrere Arten laubfressender Affen, die baumbewohnenden Stummelaffen der Gattung Colobus nahestehen, des weiteren Antilopen, deren heutige Verwandte dicht bewaldete Habitate bevorzugen, sowie die Hominiden. Diese haben sich demnach zumindest zeitweilig in der Flußlandschaft aufgehalten.
Was die Zuordnung der jüngst entdeckten Australopithecinen-Relikte betrifft, so hat man es mit einem interessanten Mosaik alter und neuer entwicklungsgeschichtlicher Merkmale zu tun. Manche sehen so aus, wie man sie sich bei den gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und Menschen vorstellt. Andere Strukturen der Kiefer und Zähne von der Allia-Bucht wie auch die einer fast vollständigen Speiche (Bild 1 Mitte) vom direkt nördlich gelegenen Fundort Sibilot erinnern hingegen eher an die späterer Hominiden, scheinen mithin jüngere Anpassungen zu sein. Die Grabungen bei der Allia-Bucht gehen weiter, und wir hoffen, bald mehr zu erfahren.
Unterdessen war ich (Meave Leakey) auch mehrmals auf der anderen Seite des Turkana-Sees, etwa 145 Kilometer weiter südlich. Die von mir geleiteten Expeditionen der Nationalmuseen von Kenia sollten eigentlich nur alte Sedimente auf ihre Fossilienträchtigkeit hin untersuchen und dokumentieren, welche Tierwelt dort in der Entstehungsphase des Beckens – in der Frühzeit der Hominiden – lebte. Dabei erwies sich ausgerechnet das heute fern vom Seeufer gelegene Kanapoi, das seit Pattersons Einzelfund niemanden sonderlich interessiert hatte, als einer der ergiebigsten Plätze der Region.
Das Land ist von tiefen Erosionsrinnen zerschnitten (Bild 3 rechts). Die Sedimente liegen deswegen zwar frei, aber in dem Lavageröll und Schotter sind Knochenstückchen und Zähne kaum zu erkennen. Feibel eruierte, daß die fossilhaltigen Schichten von einem Vorläufer des heutigen Kerio abgelagert wurden, der zu jener Zeit in das Turkana-Becken floß; er speiste einen Lonyumun genannten See, der vor 4,1 Millionen Jahren seine größte Ausdehnung erreichte und dann durch Eintrag von Erosionsschutt immer mehr verlandete.
Die Ausgrabungen in diesem unwirtlichen Gelände förderten hauptsächlich die Reste von Raubtiermahlzeiten zutage, also reichlich bruchstückhaftes Material. Von einigen Fossilien von Hominiden aber sind wir begeistert: Es handelt sich um zwei fast komplette Unterkiefer, einen vollständigen Oberkiefer mit Untergesicht, das obere und untere Drittel eines Schienbeins, zudem Schädelteile und mehrere Sortimente loser Zähne (Bild 1).
Bei sorgfältiger Untersuchung erwiesen sich diese Stücke wie auch der von Patterson gefundene Armknochen und die Fossilien von der Allia-Bucht in den anatomischen Details als hinreichend verschieden von denen bislang beschriebener Vormenschen, um sie 1995 sämtlich als Zeugnisse einer neuen Art zu deklarieren: Australopithecus anamensis. Unser Team, zu dem auch Feigel und Ian McDougall von der Australischen Nationaluniversität in Canberra gehörten, wollte damit auf den – früheren und heutigen – See anspielen, denn das bedeutet "anam" auf Turkana.
Sofern die Altersbestimmung und die aufwendige Rekonstruktion der Geschichte des Turkana-Beckens sich bestätigen, wären diese Relikte zwischen 4,2 und 3,9 Millionen Jahre alt. Gegenwärtig arbeitet McDougall an der Datierung des Tuffs, der in Kanapoi die meisten Fossilien überdeckt, so daß wir erwarten dürfen, bald sämtliche Daten zur Geologie, Ökologie und Evolution zusammenführen zu können.
Indizien für harte Kost und für Zweibeinigkeit
Eine Kernfrage ist, wie die besondere Kombination älterer und neuerer Merkmale bei der nun frühesten bekannten Vormenschenart evolutionsgeschichtlich zu verstehen ist. Die Fossilien von der Allia-Bucht und von Kanapoi sind, soweit sich dies schon sagen läßt, ziemlich gleich alt. Obwohl uns ein kompletter Schädel noch fehlt, ergibt sich aus dem Vergleich beider Kollektionen bereits ein recht genaues Bild von etlichen Charakteristika der Spezies.
Zum Beispiel sind die Kiefer noch primitiv – oder besser gesagt ursprünglich – gebaut: Die beiden seitlichen Zahnreihen stehen parallel und eng zueinander. Das Gebiß ist also wie ein "U" geformt, während es bei uns heutigen Menschen hinten wie ein "V" auseinanderstrebt (Bild 2 oben). Schimpansenähnlich ist bei A. anamensis auch die Symphyse vorn im Unterkiefer, wo dessen beide Hälften verbunden sind.
Hingegen scheint die Bezahnung weiter entwickelt, sozusagen fortschrittlicher. Der Schmelz ist – wie bei allen Australopithecus-Arten, aber anders als bei den afrikanischen Menschenaffen – ziemlich dick, offenbar in Anpassung an härtere Nahrung. Demnach sollten diese frühen Vormenschen ihre Ernährungsweise bereits umgestellt haben, auch wenn die Kiefer und einige Schädelmerkmale noch nicht besonders gut dazu passen. Auch der äußere Gehörgang ist kaum anders als bei Schimpansen; bei allen späteren Hominiden ist er viel größer (was indes nichts über die Größe der Ohrmuschel besagt).
Das aufschlußreichste Stück unserer Sammlung ist das beinahe vollständig erhaltene Schienbein von Kanapoi. Man erkennt daran nämlich deutlich, daß A. anamensis bereits gut aufrecht gehen konnte – die Form spiegelt wider, ob das Individuum sich auf vier oder zwei Beinen fortbewegte, also wie das Körpergewicht dabei getragen und abgefedert wurde; entsprechend unterscheiden sich die Ellbogengelenke von Vier- und Zweibeinern (Bild 2 Mitte und unten). In der Größe und praktisch in allen Einzelheiten des Knie- und Fußgelenks ähnelt das Schienbein von A. anamensis stark einem von A. afarensis aus Hadar in Äthiopien, das fast eine Million Jahre jünger ist; und von dieser Art weiß man sicher, wie beschrieben, daß sie aufrecht zu gehen vermochte.
Die Fossilien von Tieren lassen darauf schließen, daß in Kanapoi etwas andere Lebensbedingungen herrschten als an der Allia-Bucht. Wahrscheinlich waren nur die Ufer entlang der Flußarme von Galeriewäldern gesäumt und der Rest offene Landschaft. Zwar lebten hier ebenfalls schraubenhörnige Antilopen, die vermutlich Dickicht bevorzugten; doch anscheinend gehörten zu der Faunengemeinschaft auch typische Huftiere der Savannen, etwa Kuhantilopen.
Demnach ist noch unentschieden, ob die frühen Mitglieder der Gruppe, der unsere direkten Vorfahren entstammen, vor vier Millionen Jahren einen bestimmten Landschaftstyp bevorzugten. Buschwald gab es an beiden Fundstellen, doch bot die Gegend rund um Kanapoi ihnen allem Anschein nach auch andere Habitate.
Vor den Australopithecinen
Auf einer von ihm geleiteten Expedition fand Tim D. White von der Universität von Kalifornien in Berkeley in den Jahren 1992 und 1993 bei Aramis in der mittleren Awash-Region Äthiopiens noch ältere Fossilien von Hominiden. Die losen Zähne mehrerer Individuen, Schädelfragmente und Armknochen sowie ein Stück vom Unterkiefer eines kleinen Kindes wurden auf etwa 4,4 Millionen Jahre datiert.
Der Körperbau dieser Wesen erschien als so anders, daß White und seine Kollegen Berhane Asfaw vom Paläoanthropologischen Laboratorium in Addis Abeba und Gen Suwa von der Universität Tokio (Japan) ihnen 1994 den neuen Artnamen Australopithecus ramidus gaben; "ramid" ist Afar für "Wurzel" oder auch "Ursprung". Im Jahr darauf aber, nachdem sie weitere Knochenteile und auch etliche zusammengehörige Fragmente eines Skeletts entdeckt hatten, hielten sie es für angezeigt, die neue Art sogar in eine eigene Gattung zu stellen: Ardipithecus, nach Afar "ardi" für "Boden, Grund". Aus anderen Indizien – am gleichen Ort geborgenen Pflanzensamen sowie Fossilien von Antilopen und anderen Primaten – ist zu schließen, daß dieser "Bodenaffe" im Wald lebte.
Auch wenn die Ausgrabungen und die Auswertung noch nicht abgeschlossen sind – diese Spezies repräsentiert als bislang ursprünglichste Hominiden-Art sozusagen ein Bindeglied zwischen den afrikanischen Menschenaffen und Australopithecus. In vielem ähnelt sie jetzt lebenden Schimpansen; zum Beispiel hat auch sie starke Armknochen und Zähne mit dünnem Schmelz. Doch in anderen Merkmalen unterscheidet sie sich: So ist das Hinterhauptsloch, wo die Wirbelsäule ansetzt und das Rückenmark austritt, bereits mehr nach vorn in Richtung Schädelbasis verlagert.
Weil Fossilien von den Vorfahren der heutigen afrikanischen Menschenaffen rar sind, ist es recht schwer abzuschätzen, wie diese vor fünf oder sechs Millionen Jahren ausgesehen haben. Auch wenn wohl feststeht, vor allem aufgrund molekularbiologischer Vergleiche, daß sich von der zum Menschen führenden Linie zuerst die des Gorillas und später die der Schimpansengattung abgespalten hat, ist eine Bewertung von Merkmalen als urtümlich oder progressiv teilweise ziemlich heikel – schließlich hatten diese Primaten seither genausoviel Zeit zu ihrer eigenen Evolution wie die Hominiden. Paläoanthropologen müssen sich dessen bewußt sein, wenn sie die beiden Schimpansenarten Pan troglodytes und Pan paniscus (letzterer ist der Zwergschimpanse oder Bonobo) als Modelle unserer nächsten tierischen Verwandten heranziehen. Umgekehrt können gerade hominidenähnliche Fossilien aus der Frühzeit nach der Trennung der Linien auch Hinweise liefern, wie der letzte gemeinsame Vorläufer wohl gebaut war und lebte.
Ardipithecus ramidus mit seinen zahlreichen schimpansenähnlichen Merkmalen scheint dem Gabelpunkt immerhin noch recht nahe zu stehen (Bild 4). Alle Paläoanthropologen sind gespannt darauf, was die noch nicht abgeschlossenen Ausgrabungen und Analysen von Whites Team Näheres erbringen werden.
Jenseits der afrikanischen Bruchzone
Völlig unerwartet für die meisten von uns war 1995 die Nachricht, auch im Tschad seien Australopithecus-Fossilien identifiziert worden. Das von Michel Brunet von der Universität Poitiers (Frankreich) geleitete Team hält die schätzungsweise 3,5 Millionen Jahre alten Überreste – obgleich nur der vordere Teil eines Unterkiefers und ein einzelner Zahn vorliegen – für Zeugnisse einer eigenen Art, die nach dem Fundort Australopithecus bahrelghazali heißen soll.
Das Wadi Bahr el Ghazal liegt weit westlich des Ostafrikanischen Grabenbruchsystems, rund 2500 Kilometer entfernt von allen sonstigen Fundstellen. Für die bisherigen Theorien über die Ursprungsregion des Menschen ist dies geradezu eine Provokation.
Die Bruchzone ist nämlich auch eine Klimascheide: Westlich davon herrscht Regenwald vor, östlich Savanne – und von dort stammten noch sämtliche mehr als drei Millionen Jahre alten Hominiden-Relikte. Deswegen glaubte man, der aufrechte Gang sei entstanden, als Populationen hochentwickelter Primaten sich offeneren Landschaften unter trockenerem Klima anpaßten. Yves Coppens vom Collège de France in Paris meint sogar, die Entstehung des Riftsystems und der getrennten Klimazonen hätte den Anstoß zur getrennten Evolution von Schimpansen und Menschen gegeben; die gemeinsamen Vorläufer wären damals in geographisch isolierte Gruppen aufgeteilt und unterschiedlichen Umweltanforderungen ausgesetzt worden (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1994, Seite 64).
Ironischerweise gehört Coppens nun dem Team von Brunet an. Aber vielleicht hing die bisherige Konzentration der Fundplätze mehr mit Finderglück oder günstigen geologischen Voraussetzungen für die Ablagerung und Erhaltung von Fossilien zusammen. Die tatsächliche Verbreitung der frühesten Hominiden und ihrer Menschenaffen-Zeitgenossen wird sich hoffentlich in Zukunft erweisen.
Vielleicht müssen wir dann umdenken. Lange galt als ausgemacht, daß die Savanne die Entwicklung des aufrechten Ganges begünstigte, weil Zweibeiner in dieser Umwelt beispielsweise den Vorteil gehabt hätten, daß nur ein relativ kleiner Teil der Körperoberfläche der sengenden Sonne ausgesetzt war statt die gesamte Rückenpartie; zugleich bekamen sie auch die Hände frei, etwa um Nahrung vom offenen Gelände zu einem sicheren Ort mitzuschleppen. Unseren Funden und Analysen zufolge scheint sich Australopithecus anamensis jedoch zumindest zeitweise in Waldhabitaten aufgehalten zu haben.
In der paläoanthropologischen Forschung, so mühsam sie vorangeht, haben sich mithin zwar gerade in letzter Zeit außerordentliche Neuigkeiten ergeben. Aber aufgeklärt sind die frühesten Evolutionsschritte hin zu uns heutigen Menschen noch längst nicht
Literaturhinweise
- Die Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo sapiens. Von Friedemann Schrenk. C. H. Beck, München 1997.
– Lucy. Die Anfänge der Menschheit. Von Donald Johanson und Maitland Edey. Piper, München 1994.
– Lucys Kind. Auf der Suche nach den ersten Menschen. Von Donald Johanson und James Shreeve. Piper, München 1992.
– Die ersten Spuren. Über den Ursprung des Menschen. Von Richard Leakey. Bertelsmann, München 1994.
– Der Ursprung des Menschen. Auf der Suche nach den Spuren des Humanen. Von Richard Leakey und Roger Lewin. S. Fischer, Frankfurt am Main 1993.
Paläoanthropologie. Von Winfried Henke und Hartmut Rothe. Springer, Berlin, Heidelberg, New York 1994.
– Australopithecus ramidus, a New Species of Early Hominid from Aramis, Ethiopia. Von Tim D. White, Gen Suwa und Berhane Asfaw in: Nature, Band 371, Seiten 306 bis 312, 22. September 1994.
– New Four-Million-Year-Old Hominid Species from Kanapoi and Allia Bay, Kenya. Von Meave G. Leakey, Craig S. Feibel, Ian McDougall und Alan Walker in: Nature, Band 376, Seiten 565 bis 571, 17. August 1995.
– From Lucy to Language. Von Donald C. Johanson und Blake Edgar. Peter Nevraumont, Simon & Schuster, 1996.
– Reconstructing Human Origins: A Modern Synthesis. Von Glenn C. Conroy. W. W. Norton, 1997.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1997, Seite 50
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