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Genetik heute

Mit den Erfolgen der genetischen Forschung und ihrem Übergreifen in andere Teilbereiche der Biologie geht ein langsamer Wandel dieser Wissenschaftsdisziplin einher. Die Folge: Der Stellenwert der Genetik innerhalb der biologischen Wissenschaften ist in der Diskussion.

Alle Universitäten in der Bundesrepublik haben ein Institut für Genetik, das meist mit zwei, gelegentlich auch mit drei oder mehr Professuren ausgestattet ist. Das sind gute und gut begründbare Investitionen, denn alle Wissenschaften, die irgendwie mit dem Leben auf der Erde zu tun haben, benötigen die Erkenntnisse und Methoden der Genetik. Einen entsprechend prominenten Platz nimmt dieses Fach denn auch im Lehrprogramm biologischer und anderer naturwissenschaftlicher Fakultäten ein. Im Verlauf der vergangenen 20 Jahre haben sich moderne genetische Methoden – gemeinhin als Gentechnik zusammengefaßt – zum Standard-Arsenal von Biowissenschaftlern jeder fachspezifischen Ausrichtung entwickelt. Verfahren, Vokabular und Denkweise der Genetik sind deshalb in allen biologischen sowie in vielen medizinischen und landwirtschaftlichen Laboratorien präsent. Es mag darum wie eine gewisse Ironie der Geschichte anmuten, daß dieses Fach gerade wegen seines enormen Erfolgs an ein Ende gekommen sein könnte, weil es im weiten Spektrum der biologischen Wissenschaften seine Besonderheit und sein eigenständiges Profil zu verlieren droht.

Das erste Kapitel der Erfolgsgeschichte der neueren Genetik begann 1953, als James D. Watson und Francis H. C. Crick ihre Arbeiten über die molekulare Struktur des Erbgutträgers – der Desoxyribonukleinsäure (DNA) – veröffentlichten, wofür sie 1962 den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie erhielten. Innerhalb weniger Jahre hat man dann nicht nur entdeckt, auf welche Art und Weise Erb-Informationen auf der DNA gespeichert und zur Herstellung von Proteinen verwendet werden, sondern auch wie sie von Generation zu Generation weitergegeben und gelegentlich durch Mutationen verändert werden – dies alles mit einer Präzision und Erklärungskraft, wovon die Gelehrten vorangegangener Zeiten nicht einmal zu träumen wagten.

Der Erfolg in den Jahren zwischen 1953 und 1970 hatte gewissermaßen viele Väter; als ebenso wichtig erwies sich die Übereinkunft, wenn irgend möglich, die Forschungen auf das einfach zu untersuchende und normalerweise harmlose Darmbakterium Escherichia coli und auf dessen Viren (Bakteriophagen) zu konzentrieren. Jacques L. Monod (1910 bis 1976, Nobelpreis 1965), einer der Pioniere in dieser aufregenden Phase der Wissenschaftsgeschichte, verkündete in den sechziger Jahren „What’s true for E. coli, is true for an elephant“, womit er meinte, daß die Erkenntnisse jener Jahre für alle Lebewesen gültig seien, also auch für Pflanzen, Tiere und Menschen.

Das war – wie sich im nachhinein herausstellte – im Prinzip durchaus richtig. In jener Zeit war Monods Behauptung indes eine kühne Verallgemeinerung, denn in Wirklichkeit traute sich damals und selbst noch einige Jahre später keiner der berühmten und gut ausgerüsteten Forscher an Arbeiten über das Erbgut von Tieren und Pflanzen heran, einfach weil das experimentelle Handwerkszeug fehlte und zudem niemand wußte, wie es sich beschaffen ließe.

Dann, Anfang bis Mitte der siebziger Jahre, begann das zweite Kapitel der Erfolgsgeschichte. Forscher in Kalifornien nutzten das Wissen und Können, das man beim Umgang mit dem E. coli-Bakterium und seinen Viren erarbeitet hatte, und entwickelten die Verfahren – oder besser eine Sammlung von Methoden –, mit denen sich jedes beliebige Gen aus dem Erbgut jedes lebenden Wesens isolieren und untersuchen läßt: die Gentechnik. Wie bei manchen anderen wichtigen Entdeckungen war auch hier die zugrunde liegende Idee einfach, und nicht wenige Wissenschaftler mögen gegrübelt haben, warum nicht ihnen, sondern eben den Kollegen in Kalifornien der Trick eingefallen war, E. coli so geschickt für die Vermehrung und das Sortieren von Genen einzusetzen, daß das Finden eines interessanten Gens unter einem vielmillionenfachen Überschuß von anderen DNA-Stücken möglich wurde.


Gentechnik ja, Genetik nein?

Wie auch immer, die gentechnischen Verfahren haben das Weltbild der Biologen verändert. Heute kommt kein Zweig der Biologie mehr ohne diese Methoden aus – sei es die Biophysik, das weite Gebiet der Tier- und Pflanzenforschungen, die Ökologie oder die Anwendung etwa in Landwirtschaft oder Medizin. Genetische Begriffe, mit denen zuvor nur die Fachwissenschaftler etwas anfangen konnten, sind mittlerweile zum Allgemeingut geworden. Biologen jeder wissenschaftlichen Ausrichtung isolieren und untersuchen Gene und erforschen deren Wirkungen in Zellen, Organismen und Populationen. Mit anderen Worten: Sie führen Arbeiten aus, die im vorgentechnischen Zeitalter zum echten und gut begrenzten Gebiet der Genetiker gehörten.

Man soll sich hier nicht davon täuschen lassen, daß noch ein gutes Dutzend Journale mit dem Wort Genetik (oder Variationen davon) im Titel dem interessierten Wissenschaftler angeboten werden. Selbst die älteste dieser Fachzeitschriften, die 1908 in einem Leipziger Verlag unter dem barock anmutenden Titel „Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre“ gegründet wurde, existiert noch heute, wenn auch unter einem zeitgemäßeren, das heißt natürlich englischen Titel („Molecular and General Genetics“). Aber die meisten Aufsätze, die in diesem und in den anderen teils hoch renommierten, teils bescheideneren Journalen abgedruckt werden, fänden ebenso gut einen Platz in biochemischen, physiologischen oder medizinischen Blättern.

Fragen wir also, ob Genetik im Reigen der biologischen Wissenschaften noch genügend Eigenes zu bieten hat. Wer sonst, wenn nicht bekennende Genetiker selbst, sollten sich dieser Frage annehmen, denn es geht hierbei um ihr Selbstverständnis. So kam es, daß Mitglieder der deutschen „Gesellschaft für Genetik“ zuerst auf ihrer Herbst-Tagung in Jena, 1996, und dann wieder im September 1997 in Gießen mit Temperament und nicht ohne Heftigkeit über dieses Thema diskutiert haben, wohl wissend, daß – je nach Ergebnis der Diskussion – auch ihre 1968 gegründete Vereinigung selbst zur Disposition gestellt werden müßte (eine frühere „Deutsche Gesellschaft für Vererbungswissenschaft“ bestand von 1921 bis 1945).


Von der Genetik zur Genomik

Soweit kam es dann nicht. Denn erstens wird die Genetik trotz der Ausbreitung über alle biologische Disziplinen als akademisches Lehrfach bestehen bleiben müssen. Lehrstoff und Lernziele unterscheiden sich zu deutlich von den anderen allgemeinbiologischen Fächern wie etwa Zellbiologie und Biochemie. Die Vorhersage ist also, daß es auch künftig, etwa im Jahre 2050, in Deutschland noch Lehrstühle für und Lehrbücher über Genetik geben wird – ruhige Zeitläufte selbstverständlich vorausgesetzt. Zweitens haben sich in den letzten Jahren dramatisch neue Forschungsrichtungen entwickelt, die im weiten Feld der Genetik zu Hause sind und dort gesondert wissenschaftliche Beachtung verdienen. Das Stichwort ist hier Genomics oder – wohl erstmals – auf deutsch: Genomik.

Dieser Begriff leitet sich von dem Wort Genom ab, mit dem man seit Jahrzehnten die Gesamtheit der Gene und Chromosomen eines Organismus bezeichnet. Genomics wurde indes erst 1986 eingeführt, als ein neues Journal dieses Titels in die wissenschaftlichen Bibliotheken kam. Diese Zeitschrift soll ein Forum sein für den neuen Zweig der Genetik, dessen Aufgabe die Analyse ganzer Genome – und nicht nur einzelner Gene – ist. Dazu müssen sogenannte Genkarten aufgestellt, also Lage und Anordnung von Genen auf den langen Fäden der DNA-Moleküle bestimmt werden. Diese Karten sind unverzichtbare Orientierungshilfen auf dem Weg zur vollständigen Entzifferung von Genomen, also zur Bestimmung der Abfolge der DNA-Bausteine; diese Nucleotide mit ihren Basen stehen sich in dem Doppelstrang paarweise gegenüber.

Schon die bisherigen Sequenzier-Arbeiten haben die Biologie in zuvor ungeahntem Maße bereichert. Von einigen Archaea (früher Archaebakterien) und etwa einem Dutzend Bakterien (früher Eubakterien) kennt man inzwischen die Sequenzen ihrer Genome: dazu zählen der Tuberkulose-Erreger Mycobacterium tuberculosis, der Verursacher von Magenschleimhaut-Entzündungen Helicobacter pylori sowie eine medizinisch wichtige Borrelia-Art. Und die Veröffentlichung der viereinhalb Millionen Basenpaare mit 4288 Genen des ehrwürdigen Forschungsmodells E. coli im September 1997 kommt einem Meilenstein in der Geschichte der molekularen Genetik gleich.

Als wichtiges Eckdatum der neueren Wissenschaftsgeschichte kann auch 1996 gelten, als eine Gruppe von Forschern aus hauptsächlich europäischen Laboratorien die Abfolge der mehr als 12 Millionen Basenpaare des Hefe-Erbguts beschreiben konnten. Diese Arbeit hat gezeigt, daß sich die organisatorischen und technischen Probleme beim Sequenzieren von großen Genomen mit vielen Chromosomen gut meistern lassen – eine wichtige Ermutigung für all diejenigen, die entsprechende laufende Projekte zu Pflanzen, Tieren und dem Menschen verfolgen. Tatsächlich gehen hier die Arbeiten schneller voran, als noch vor kurzem zu erwarten war, und man darf mit Spannung der Zeit entgegen sehen, wenn man aus den Ergebnissen bedeutende Erkenntnisse über die Evolution des Lebens auf der Erde gewinnen kann.

Hierzu nötige Genom-Vergleiche sind jedoch auch von direktem praktischem Nutzen. Zum Beispiel werden Mikrobiologen besser erkennen können, wodurch sich pathogene – also krankheitserregende – von nichtpathogenen Bakterien unterscheiden, was die Entwicklung neuer Antibiotika erheblich erleichtern wird; und Mediziner werden die genetischen Grundlagen von menschlichen Krankheiten finden, die sich bisher den Analysen entzogen haben.

Diese Früchte fallen den Sequenzierern freilich nicht in den Schoß, sondern erfordern eine enge Zusammenarbeit mit Informatikern, die mithelfen, aus den gewaltigen Datenmengen die relevanten Informationen herauszuziehen. Im Umkreis dieser Arbeiten ist längst ein neues biologisches Fach entstanden, die Bioinformatik. Man kann voraussagen, daß in weniger als einer Gelehrten-Generation an allen biologischen Fakultäten, die etwas auf sich halten, Lehrstühle für Bioinformatik entstehen, damit die wissenschaftlichen Schätze, die sich in den Genomen verbergen, auch gehoben, geordnet und zur Schau gestellt werden können.


Von der strukturellen zur funktionellen Genomik

Die Genomik sollte jedoch mehr zu leisten vermögen als das Aufklären der Struktur von Genomen. Von etwa zwei Dritteln der Gene auf einem Bakterien-Genom läßt sich zwar mehr oder weniger genau sagen, welche Aufgaben ihnen im Stoffwechsel oder beim Aufbau der Zellstrukturen zukommen; die Bedeutung des letzten Drittels hingegen ist nicht ohne weiteres zu erschließen. Hinzu kommt, daß man wenig darüber weiß, wie Gene zusammenarbeiten: in welchen Netzwerken von Wechselspielen sie eingebunden sind, damit ein funktionierender Organismus entsteht, der mit bewundernswerter Flexibilität auf Umwelteinflüsse zu reagieren vermag. Je umfangreicher ein Genom ist, desto komplexer ist dieses Wechselwirkungsnetz. So verfügen Tiere und Pflanzen über zehn- bis zwanzigmal so viele Gene wie E. coli.

Die Aufgabe der funktionellen Genomik wird es sein, dieses Netz aufzuklären. Die Regulation zellulärer Vorgänge verlangt unzählige Signale, positive wie negative, damit die passenden Reaktionen zur rechten Zeit und am rechten Ort stattfinden. Welche Gene werden wann und wo an- oder abgeschaltet, etwa während der Entwicklung eines Embryos oder als Reaktion des Nervensystems auf die soziale und natürliche Umwelt? Welches Repertoire von Genen reagiert in welcher Form auf Krankheit und Verletzung? Überhaupt: Wie verändern sich die Koordinaten des Zwischen-Gen-Netzwerkes durch Umwelteinflüsse? Und sollte aus den komplexen Wechselwirkungen mit den resultierenden Effekten nicht etwas entstehen, das noch mehr ist als die Summe oder das Produkt der Einzelreaktionen?

Wenn jetzt noch die meisten Biologen ein oder wenige Gene beziehungsweise Proteine erforschen und sich damit dem Vorwurf des Reduktionismus aussetzen, wird unter dem Paradigma einer funktionellen Genomik die ganze Zelle oder der ganze Organismus mit möglichst allen Genen und möglichst allen Proteinen zum Gegenstand der Forschung. Genom-Sequenzen dienen dieser Forschung so wie ein Lexikon den Literaturwissenschaftlern, nämlich als Nachschlagewerk. Das Gen-Lexikon enthält Eintragungen, die über Art und Struktur der Erbfaktoren unterrichten, und wird herangezogen, wenn es etwa darum geht, ein Gen auszuwählen, dessen experimentelle Ausschaltung das Gefüge der Wechselwirkungen gezielt stören soll, damit man seine Rolle im Konzert der gesamten Zelle verstehen lernen kann. Die Biologie hat viele unerforschte Bereiche, und Biologen können aufregenden Zeiten entgegen sehen, wenn sich allmählich wie bei einem riesigen Puzzle aus einer Kollektion von Makromolekülen ein vollständiges Bild der Zelle in allen Dimensionen, einschließlich der physiologischen Dimensionen, ergibt.

Das Interessante dabei ist auch folgendes: Während die strukturelle Genomik heutzutage wenigen großen spezialisierten Forschungszentren vorbehalten bleibt, kann funktionelle Genomik sinnvoll bereits in kleineren Laboratorien betrieben werden – eben auch in solchen, wie man sie gewöhnlich an den genetischen Instituten deutscher Universitäten findet. Dafür spricht jedenfalls das, was bisher schon an Methodischem auf dem Wissenschaftsmarkt vorhanden ist.

Überdies ließen sich damit die molekularbiologischen Tugenden bewahren, die der Genetik bisher zum Erfolg verholfen haben, nämlich eine enge Kooperation mit traditionellen Fächern wie Zellbiologie und Biochemie. An gut strukturierten biologischen Fakultäten sollten diese Voraussetzungen zu erfüllen sein. Deswegen kann die genetische Forschung, gerade auch an Universitäten, mit der Ausrichtung auf funktionelle Genomik getrost ihren Weg in die kommenden Jahrzehnte beginnen. Im übrigen hat die Gesellschaft für Genetik die Konsequenz aus solchen Diskussionen und Überlegungen gezogen, denn ihre nächste Tagung wird Anfang Oktober 1998 in Heidelberg unter dem Arbeitstitel Genomics stattfinden.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1998, Seite 92
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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