Literaturlandschaft: Hagiografie: Heiligenviten – Literatur für das Volk
"Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde." Der im 1. Jahrhundert lebende Evangelist Lukas formulierte diese heute berühmte Schilderung im Geiste einer frühen Globalisierung: "Alle Welt", das war in der Antike das Römische Reich, das drei Kontinente miteinander verband. Diese Einstellung prägte auch die hohe Literatur: Wo immer ein Autor einen Text verfasste, folgte er einem Kanon reichsweit geltender Regeln des gehobenen Geschmacks. Doch Roms Herrschaft über die Welt endete nach der Teilung des Reichs im Jahr 395, seine Macht schwand, und mehr und mehr zerfiel der Westen des Imperiums in Regionen mit eigener politischer Struktur, Kultur und eben auch Literatur.
In Gallien verlief dieses Vergehen und Neuentstehen besonders dynamisch. Mit der Ermordung des Heerführers Aëtius 454 brach die römische Ordnung dort praktisch zusammen. In dem Maß, in dem Gallien während des 5. Jahrhunderts zum eigenständigen politischen Raum wurde, bildete sich auch eine unabhängige Literaturlandschaft, die insbesondere in der Briefkultur (siehe den Beitrag S. 68) und den so genannten Heiligenviten eine Blüte erreichte.
Diese Entwicklung hatte sich bereits im 4. Jahrhundert angedeutet und verdankte sich einer Frontstellung Galliens gegenüber der Germanengefahr am Rhein sowie einer starken Geschlossenheit der gallorömischen Elite. Zudem war Augusta Treverorum, das heutige Trier, in der Spätantike sogar Regierungssitz mehrerer Kaiser gewesen. Gallien brachte Dichter wie Ausonius (310 – etwa 395) hervor; die Angehörigen der Elite studierten lateinische Grammatik und Rhetorik in spezialisierten Schulen in Bordeaux oder Autun. Man war um sprachliche Bildung bemüht – Kenntnisse von Klassikern und Wissen aus Mythologie und Geschichte galten in der gallorömischen Oberschicht als obligatorisch. ...
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