Hirschhausens Hirnschmalz: Was macht Wissen machtlos?
"Unglaublich – vor drei Wochen habe ich mein Kind geimpft, und jetzt spricht es!” Warum hört man so was nie? Impfen ist immer fürs Nichtsprechen verantwortlich, und überstandene Infekte für Entwicklungsschübe. Die Folgen dieses verqueren Denkens sind gerade in Berlin und den USA zu beobachten: Einzelne Masernerkrankte können viele andere anstecken, weil der Impfschutz fehlt. “Herdenimmunität” klingt ja auch so unsexy, dabei geht es um Solidarität und solide Information. Und um einen kleinen Stich.
Online warnt die Netzcommunity, sobald irgendwo eine Lücke klafft, und alle aktualisieren ihren Virenschutz. Wenn offline aber die Impflücke immer größer wird und Kinder ohne Not an Masern erkranken, einige bleibende Schäden davontragen oder sogar sterben, passiert etwas Verrücktes: Keinen regt das auf. Mich schon. Weil ich früher in der Kinderneurologie gearbeitet habe, weiß ich, wie hilflos man sich fühlt, wenn eine virale Entzündung des Nervensystems nicht ursächlich zu behandeln ist. Und was für ein Segen es ist, dass wir vor Polio, Pocken und Masern, Mumps und Röteln keine Angst mehr haben müssten.
- A) meinen Arzt
- B) meinen Apotheker
- C) die Packungsbeilage
- D) mich
Nein, mich hat nicht die Pharmalobby gekauft. Stattdessen gibt mir eine Studie zu denken mit dem schönen Titel: “Mythen über die Grippeimpfung korrigieren – funktioniert das?” Vier von zehn US-Bürgern glauben, dass man sich durch die Schutzimpfung eine Grippe einfangen kann. In der Studie wurden 1000 Leute zu ihren Vorbehalten befragt, dann “beeinflusst” . Die erste Gruppe wurde darüber aufgeklärt, warum eine Schutzimpfung keine Grippe auslösen kann. Die zweite über Nutzen und Risiken von Grippe und Impfung. Und die dritte lief zur Kontrolle wie üblich nur so mit. Wer war anschließend eher bereit, sich impfen zu lassen?
Freunde der Aufklärung können sich freuen: Der Glaube an die Ansteckungsgefahr durch Impfung ließ dank der Lektion nach. Das Brisante steckt im Detail. Denn wer vorher skeptisch gegenüber Impfungen war, ließ sich zwar davon überzeugen, dass das falsch war. Doch die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, wurde dadurch nicht etwa größer – sondern sank. Frei nach dem Motto: Jetzt bin ich zwar schlauer, aber impfen lass ich mich erst recht nicht! Ablehnung durch Aufklärung? Oder trotz? Trotz trifft es wohl am besten. Wer gezwungen wird, sich seinen diffusen Ängsten argumentativ zu stellen, ist offenbar selten dankbar dafür, sondern anschließend noch überzeugter von dem, was er vorher schon für richtig hielt. Das erinnert an politischen “Meinungsaustausch”, wo jeder mit der Meinung nach Hause geht, mit der er kam.
Unter uns: Der aktuelle Grippeimpfstoff ist nicht besonders gut. Doch die Masernimpfung funktioniert und hat laut WHO schon Millionen Leben gerettet. Aber es muss nur einer Daten fälschen und behaupten, Impfen würde Autismus verursachen, und noch Jahre nach dem Widerruf hält das Gerücht Menschen davon ab, ihre Kinder zu schützen. Verschwörungstheorien laden sich an der Reibungsenergie auf, den ihre Widerlegung erzeugt. Wie ein Gespenst, dem mit jedem abgeschlagenen Eierkopf drei neue wachsen. Starrköpfe werden nicht durch Wissen weich. So wenig wie Eier, die man extra lange kocht.
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