Trends in der Chemie: Im Sog der Supramoleküle
Eine der faszinierendsten Forschungsrichtungen der modernen Chemie beschäftigt sich mit hochkomplizierten Molekülkonstruktionen, die als Wirte gezielt molekulare Gäste aufnehmen und verändern können. Vorbild sind biologische Enzyme mit ihrer unvergleichlichen Spezifität und Effizienz.
"Vor dem Marsfeld bildet der Eiffelturm, auf vier eisernen Pfeilern ruhend, den Triumphbogen für Wissenschaft und Industrie. Erst jetzt, da er seine endgültige Höhe erreicht hat, vermag sein Anblick angemessen gewürdigt zu werden. Die ihn zuvor ablehnten, sind verstummt, und der Beifall für Ingenieure und Künstler ist ungeteilt. Aus der Ferne wirkt der 300 Meter hohe Turm graziös, schlank und leicht. Er erhebt sich in den Himmel wie ein zartes Gitterwerk aus Drähten, als Ganzes voll Poesie. Wenn man sich nähert, wächst die Konstruktion ins Monumentale, und erreicht man schlie§lich die Basis des Kolosses, starrt der Betrachter, staunend und nachdenklich geworden, auf diese mit mathematischer Präzision zusammengesetzte ungeheure Masse, die eines der kühnsten Werke der Ingenieurskunst darstellt, das je in Angriff genommen wurde."
So kann man es, frei übersetzt, im "Scientific American" vom 18. Mai 1889 nachlesen, der sich im Rahmen seiner Berichterstattung über die damalige Weltausstellung vorwiegend mit dem grandiosen Werk von Gustave Eiffel (1832 bis 1923) beschäftigte. Mehr als hundert Jahre später erinnerte Jean-Marie Lehn von der Universität Louis Pasteur in Straßburg anläßlich der dritten internationalen Konferenz der Zeitschrift "Nature" über die Wissenschaft komplexer molekularer Systeme, die Ende April 1995 in Sichtweite ebendieses Bauwerkes stattfand, an die Leistung des französischen Ingenieurs. Heute aber, so fügte er scherzhaft hinzu, würde Eiffel ein ganz anderes Konstruktionsprinzip anwenden. Statt mühsam Teil für Teil nach einem Bauplan zusammensetzen zu lassen, würde er versuchen, die Einzelteile bereits so zu konstruieren, daß sie sich, wenn man sie nur zusammenbringt, von selbst zu dem gewaltigen Bauwerk fügten.
Zumindest im molekularen Bereich funktioniert dergleichen ansatzweise schon, wie J. Fraser Stoddart von der Universität von Birmingham vor zwei Jahren belegen konnte. Er synthetisierte nach diesem Prinzip eine Substanz, die er Olympiadan nannte, weil sie wie das Symbol der Olympischen Spiele aus fünf ineinandergreifenden, linear angeordneten Ringen besteht (Bild 1).
Was zunächst wie eine chemische Spielerei oder ein wissenschaftliches Kabinettstückchen anmuten mag, hat durchaus tieferen Sinn. Entscheidend ist dabei nicht so sehr das erreichte Endprodukt, sondern das daran demonstrierte allgemeine Syntheseprinzip. Die Vorstufen hatten Stoddart und seine Mitarbeiter nämlich so gestaltet, daß sie sich schließlich mit guter Ausbeute in einer relativ simplen Reaktion zu der gewünschten Raumstruktur zusammenlagerten – gewissermaßen der einfache Fall einer chemischen Synthese hochkomplexer Molekülaggregate durch Selbstorganisation.
Doch die Ziele der Wissenschaftler, die sich der Supramolekularen Chemie verschrieben haben, reichen weiter. Hinter der Entwicklung sich selbst zusammenbauender verwickelter Aggregate steht die Vision einer Chemie jenseits des Moleküls, die auf Wechselwirkungen zwischen räumlich und bindungsmäßig aufeinander abgestimmten Strukturen beruht, wie sie vor allem für biologische Systeme charakteristisch sind. So hofft man, vielfältige und komplizierte Reaktionen unter ebenso milden Bedingungen durchführen zu können, wie sie in Lebewesen ablaufen.
Ein folgenreiches Nebenprodukt
Die Tür zu der neuen Spezialdisziplin öffnete eine Entdeckung, die Charles J. Pedersen bereits Ende der sechziger Jahre machte. Er beschäftigte sich bei der amerikanischen Firma DuPont damals unter anderem mit Methoden, Erdölprodukte und Gummi zu stabilisieren und vor allem ihren oxidativen Abbau zu verhindern. Diese Autoxidation wird besonders durch Spurenelemente wie Kupfer oder Vanadium gefördert und läßt sich unterdrücken, wenn man die Metalle durch Bindung an organische Komplexbildner abfängt. Bei der Synthese eines solchen Komplexbildners aus Brenzcatechin und Dichlorethylether entstand in befriedigender Ausbeute der gewünschte Bis-[2-(o-hydroxyphenoxy)ethyl]-ether; außerdem aber bildete sich ein klebriger Rückstand (Bild 3).
Schon oft wurde darüber spekuliert, inwieweit bedeutende Entdeckungen letztlich auf einem Zufall beruhen. In diesem Fall wäre die Frage anders zu stellen: Wieviele andere Wissenschaftler hätten sich die Mühe gemacht, diese Spuren (nur 0,4 Prozent) eines vermutlich unbedeutenden Nebenprodukts genauer zu untersuchen? Obwohl (oder weil?) Pedersen nur noch wenige Jahre vom Rentenalter entfernt war, machte er sich – aus purer Neugier, wie er später bekannte – an die Identifizierung der unbekannten Substanz.
Zunächst versuchte er, das Nebenprodukt in Lösung zu bringen. Dabei erlebte er eine erste Überraschung; denn alle gängigen Lösungsmittel versagten. Erst mit Natriumhydroxid versetztes Methanol brachte den gewünschten Erfolg.
Schon bald wurde jedoch klar, daß nicht das alkalische Milieu entscheidend war, sondern die Anwesenheit eines Metall-Ions. Damit ergab sich eine Parallele zu einer Entdeckung in der Naturstoffchemie, die im gleichen Jahr (1967) veröffentlicht wurde, als Pedersen seine folgenreiche Synthese durchführte. Demnach vermögen natürlich vorkommende Moleküle wie Nonactin oder Valinomycin Ionen von Alkalimetallen wie Natrium oder Kalium in ihrem Inneren aufzunehmen und durch biologische Membranen zu schleusen.
Konnte Pedersens Nebenprodukt, das der Forscher schließlich als ringförmigen Polyether identifizierte, vielleicht ebenfalls ein Metall-Ion im Zentrum einschließen? Computersimulationen legten nahe, daß im Hohlraum des Ringmoleküls tatsächlich ein Natrium-Ion Platz fände.
Chemisch handelte es sich bei der Verbindung um 2,3,11,12-Dibenzo-1,4,7,10, 13,16-hexaoxacyclooctadeca-2,11-dien. Weil derartige Namensungetüme selbst Chemikern zu unhandlich sind, ließ sich Pedersen von der wie eine Krone gezackten Form des Rings inspirieren und schlug die einfachere Bezeichnung Di-benzo[18]krone-6 vor. Darin gibt die 18 in eckigen Klammern die Gesamtzahl der Atome im Ring und die nachgestellte 6 die Anzahl der Sauerstoff-Atome an; der Zusatz "Dibenzo" bedeutet, daß an dem Ring außerdem zwei Benzolreste hängen. In der Zwischenzeit sind Hunderte von analog aufgebauten Verbindungen synthetisiert worden, und man bezeichnet die gesamte Stoffklasse als Kronenether.
Wirt-Gast-Chemie
Auch für die Beziehung zwischen dem Molekül mit Hohlraum und dem eingeschlossenen Ion hat sich eine bildhafte Ausdrucksweise eingebürgert: Man spricht vom Wirt und seinem Gast. Der wohl wichtigste Aspekt dabei ist, daß sich das Wirtsmolekül so maßschneidern läßt, daß es seinem Gast einen optimal angepaßten Unterschlupf bietet. Bei Kronenethern kann dies einfach über die Ringgröße geschehen. So umschließt [12]Krone-4 bevorzugt Lithium, das größere [15]Krone-5 dagegen Natrium und [18]Krone-6 schließlich Kalium.
Ähnlich exakt sind in Lebewesen Partnermoleküle aufeinander abgestimmt – etwa ein Hormon und sein Rezeptor. Wenn sich der Bindungspartner einfindet, löst dies meist eine Kette von biochemischen Folgereaktionen aus. Auch bei den Kronenethern verleiht der Einschluß den Metall-Ionen völlig andere Eigenschaften – etwa in der Löslichkeit, der Lichtabsorption oder der Reaktivität.
Die aktiven Bindungstaschen natürlicher Rezeptoren sind allerdings meist nicht nur einfache Ringe, sondern kompliziert geformte Hohlräume. Folgerichtig beschritt Lehn – in dem Bestreben, noch spezifischer gestaltete Gastmoleküle zu entwickeln – den Weg in die dritte Dimension. Er tauschte zwei der Sauerstoffatome in den Kronenethern gegen Stickstoff aus, der eine weitere Bindung einzugehen vermag, und konnte den Ring so mit einem Henkel versehen (überbrücken). In dem resultierenden Käfig ist der Gast dann geradezu versteckt, weshalb man die Verbindungen nach dem entsprechenden griechischen Wort als Kryptanden bezeichnet. Der wirtschaftliche Nutzen dieser Verbindungen als Transportvehikel, Ionenaustauscher oder für die Stofftrennung wurde schnell entdeckt, und inzwischen gehören sie zum Standardsortiment der chemischen Industrie.
Donald J. Cram von der Universität von Kalifornien in Los Angeles hielt freilich auch die überbrückten Wirtsmoleküle noch für verbesserungsfähig. Ihn störte, daß sie ohne einen passenden Gast in mehr oder weniger zufälliger, zusammengeklappter Form vorliegen. Er entwarf deshalb Konstruktionen mit starrer Geometrie, die auch im unbeladenen Zustand bereits über einen fest vorgebildeten Hohlraum verfügen. Solche Sphäranden sollten nach seinem Konzept der Präorganisation den vorgesehenen Gast noch schneller und fester binden, weil sie bereits auf dessen Aufnahme vorbereitet sind.
Gleichsam den umgekehrten Weg ging dagegen Fritz Vögtle von der Universität Bonn. Er konstruierte krakenartige Verbindungen, die ihre losen Arme um das einzufangende Ion schlingen und es dabei einschließen. Diese Podanden (nach dem griechischen Wort für Fuß) lassen sich gleichfalls so maßschneidern, daß sie gezielt bestimmte Gastmoleküle sehr fest an sich binden.
Schließlich zeigten Achim Müller von der Universität Bielefeld und Hans Reuter von der Universität Osnabrück, daß sich nicht nur organische Substanzen auf Kohlenstoffbasis als Wirtsverbindungen eignen (Titelbild). Die beiden Forscher beschäftigen sich mit der Synthese anorganischer Wirtsstrukturen, beispielsweise in der Form von Polyvanadaten, die geschlossene Hüllen um Gast-Anionen bilden (Bild 4).
Inzwischen umfaßt das junge Gebiet der Supramolekularen Chemie also eine breite Palette ebenso vielseitiger wie nützlicher Stoffklassen. Und so nimmt es nicht wunder, daß seine Hauptprotagonisten auch die höchsten wissenschaftlichen Weihen erhielten: 1987 wurden Pedersen, Lehn und Cram für ihre bahnbrechenden Arbeiten mit dem Nobelpreis für Chemie geehrt.
Das biologische Analogon
Um das große Interesse an den Supramolekülen zu verdeutlichen, möchte ich sie mit einem System aus der Biologie vergleichen: dem sogenannten Kaliumkanal, dessen Struktur vor wenigen Jahren exakt aufgeklärt wurde. In den Plasmamembranen von Zellen befindet sich ein ganzes Sortiment von Kanalproteinen, die jeweils aus mehreren Untereinheiten bestehen und eine Pore in der Lipid-Doppelschicht bilden. Jede davon läßt jedoch nur einen ganz bestimmten Stoff passieren. So ist der Kaliumkanal beispielsweise für die Ionen dieses Alkalimetalls hundertmal leichter durchlässig als für Natrium-Ionen.
Wie wird diese beeindruckende Spezifität erreicht? Die Pore verengt sich in der Mitte zu einer Art Flaschenhals, der einen Durchmesser von 0,3 Nanometern (millionstel Millimetern) hat. Es erstaunt mithin nicht, daß größere Ionen wie die von Rubidium oder Cäsium nicht passieren können. Natrium ist jedoch kleiner als Kalium. Warum wird es dennoch zurückgehalten?
Des Rätsels Lösung liegt darin, daß die Ionen hydratisiert, das heißt von einer Hülle aus Wassermolekülen umgeben sind, die vor der Passage durch den Kanal abgestreift werden muß. Dies erfordert aber einen gewissen Aufwand an Energie. Der wird nun im Falle des Kaliums dadurch kompensiert, daß etliche Sauerstoffatome, welche wie in einem Kronenether die Engstelle der Pore säumen, elektrostatische Wechselwirkungen zum Kalium-Ion ausbilden. Mit dem Natrium-Ion ist das hingegen nicht möglich, weil der Bindungsabstand zu groß wäre. Somit wird der Energieaufwand in diesem Falle nicht kompensiert, das Natrium-Ion nicht dehydratisiert und also auch nicht durchgelassen.
Dieses Beispiel illustriert, daß die Prinzipien der molekularen Erkennung, wie man sie bei den Kronenethern und verwandten Verbindungen findet, auch in der belebten Natur verwirklicht sind. Die synthetischen Ringe, Käfige und Polypen bilden somit sehr gut zu untersuchende Modellsysteme für komplexe biologische Vorgänge.
Synthese nach Schablone
Man könnte zunächst glauben, daß die Kunst der chemischen Synthese, so weit sie auch entwickelt ist, durch die hochkomplizierten Supramoleküle vor unüberwindliche Probleme gestellt würde. Tatsächlich aber haben sich neue Syntheseprinzipien herausgebildet, die solche Wirtsverbindungen sogar verhältnismäßig bequem zugänglich machen.
Schon Anfang der sechziger Jahre wurde der Begriff "Schabloneneffekt" geprägt (gewöhnlich anglizistisch als "Templateffekt" bezeichnet). Doch das damals definierte Prinzip hat erst in den letzten zehn Jahren die Labors erobert – nach Ansicht Vögtles vor allem durch den Aufschwung der Supramolekularen Chemie.
Der Grundgedanke ist leicht einsichtig. Man nutzt ein vorgegebenes Molekül als Schablone, an der sich weitere Reaktionspartner so anordnen, daß nur ganz bestimmte Produkte in hoher Ausbeute entstehen. Im einfachsten Fall vermag ein Metall-Ion durch seine positive(n) Ladung(en) polare Reaktionspartner elektrostatisch auszurichten. Aber auch neutrale Moleküle können über Wasserstoffbrücken und kovalente Bindungen als Matrizen dienen. Auf diese Weise gelingt es, definierte Hohlräume zu konstruieren und eine Einschlußchemie im Nanometer-Maßstab zu verwirklichen.
Aber auch kompliziertere Formen sind denkbar. Vor allem in Lehns Arbeitsgruppen in Straßburg und Paris wird versucht, Gitter, Leitern und andere, flächig oder räumlich ausgedehnte Molekülaggregate herzustellen (Bild 5). Dazu kann man außer dem Schabloneneffekt von Metall-Ionen auch das Komplexierungsvermögen organischer Verbindungen ausnutzen.
Josef Michl von der Universität von Colorado in Boulder träumt sogar davon, einen ganzen Satz standardisierter Bausteine im molekularen Maßstab herzustellen, die sich dann mittels geeigne-ter Schablonen zu beliebig komplexen Aggregaten zusammenstellen lassen. Er denkt dabei vornehmlich an "Designer-Feststoffe", die je nach Verwendungszweck maßgeschneidert werden sollen.
Ein solcher Bausatz wäre auch in der vielbeschworenen Nanotechnologie von großem Nutzen: jener ultimativen Miniaturisierung der Ingenieurskunst, die mit Molekülen als Konstruktionselementen arbeitet, bisher allerdings wenig mehr als eine Gedankenspielerei phantasievoller Wissenschaftler ist. Einer ihrer Hauptbefürworter, George M. Whitesides von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts), hält die Selbstorganisation grundlegender Einheiten für ein Schlüsselprinzip dieser Zukunftstechnik (Spektrum Spezial 4 "Schlüsseltechnologien", Seite 94).
Die Schablonesynthese eröffnet eine weitere faszinierende Perspektive. Wenn ein Molekül nämlich als Vorlage für den Zusammenbau identischer Kopien dienen kann, dann hat es die Fähigkeit zur Selbstvermehrung. Dieser Idee ging Julius Rebek jr. vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge nach. Er konstruierte Verbindungen, deren Bausteine den Nucleotiden der Erbsubstanz DNA ähneln und sich gleichfalls über Wasserstoffbrücken-Bindungen aneinanderlagern können. Solange genügend Bausteine vorhanden sind, erzeugen sie in der Tat wie vom Fließband Kopien ihrer selbst (Spektrum der Wissenschaft, September 1994, Seite 66).
Ein wiederentdeckter Vorläufer
Eine Eigenart der Wissenschaftsgeschichte ist, daß man nach der Formulierung und Etablierung eines neuen Prinzips im nachhinein oft bislang übersehene Vorläufer entdeckt. Bei den Käfigmolekülen sind das die Cyclodextrine, die A. Villiers schon 1891 als Abbauprodukte der Stärke isoliert hatte. In der Stärke bilden 100 bis 1400 Glucose-Einheiten eine langgestreckte spiralförmige Schraube, von der ein spezifisches Enzym jeweils eine Windung abspalten und zu einem Ring schließen kann.
Das resultierende Molekül besteht aus sechs, sieben, acht oder (selten) mehr Glucose-Einheiten, deren Anzahl durch einen vorgesetzten griechischen Buchstaben angegeben wird (a = 6, b = 7, g = 8). Wie Franz Schardinger von 1903 bis 1911 und Karl Freudenberg (1886 bis 1983) zwischen 1938 und 1948 nachwiesen, ist der Innenraum des Rings relativ hydrophob (wassermeidend), die Außenseite dagegen hydrophil. Das macht Cyclodextrine sehr gut wasserlöslich, während ihr Inneres Molekülen, die etwa wegen eines aromatischen Grundgerüsts eher wasserabweisend sind, ein passendes Milieu bietet (Bild 6). Friedrich Cramer vom Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin in Göttingen hat dieses Komplexierungsverhalten systematisch erforscht und bereits 1954 eine kurze, aber grundlegende Publikation über Einschlußverbindungen veröffentlicht.
Doch erst jetzt ist klar, daß damit unbewußt der Prototyp einer neuen Stoffklasse gefunden war. Heute nutzt man Cyclodextrine beispielsweise in der Pharmazie als Lösungsvermittler, um schlecht wasserlösliche Arzneimittel molekular zu verkapseln. Dadurch läßt sich ein Wirkstoff oft niedriger dosieren, was Nebenwirkungen reduzieren hilft.
Cyclodextrine sind aber auch Gegenstand chemischer Spielereien mit durchaus ernstem Hintergrund. Sie lassen sich zum Beispiel auf molekulare Stäbe oder Schnüre auffädeln. Verknotet man die Schnur dann noch an den Enden – beispielsweise durch Ankoppeln sehr voluminöser Atomgruppen –, so hat man das chemische Analogon einer Perlenkette.
Mit solchen Rotaxanen, wie sie fachsprachlich genannt werden, befaßt sich Gerhard Wenz von der Universität Karlsruhe. Damit könnte man zum Beispiel raffinierte molekulare Verkapselungen schaffen, die Wirkstoffe gezielt in einer bestimmten Reihenfolge freisetzen, indem eine Perle nach der anderen von der Kette geholt wird. Verwirklicht ist bereits eine Art molekulares Weberschiffchen, bei dem ein Cyclodextrin von einem Ende der Schnur zum anderen hin- und herbewegt werden kann – Musterexemplar eines molekularen Schalters.
Cyclodextrine binden indes nicht nur Gastmoleküle in ihrem Hohlraum, sondern nehmen unter bestimmten Bedingungen auch Änderungen daran vor. Dadurch wirken sie ähnlich wie biologische Enzyme als Katalysatoren. Vor allem Spaltungen von Estern in Alkohole und Carbonsäuren lassen sich so beschleunigen, aber auch Umlagerungen und andere Reaktionen.
Durch gezieltes Anbringen funktioneller Gruppen – gleichsam molekularer Griffe – kann man die katalytischen Fähigkeiten der Zuckerringe noch erheblich steigern. So wurde ein künstliches proteinspaltendes Enzym erzeugt, das – mit gewissen Einschränkungen – sogar schneller arbeitet als sein Vorbild Chymotrypsin, das von der Bauchspeicheldrüse (in einer Vorstufe) ausgeschüttet wird. Solche einfachen Enzym-Analoga ließen sich auch auf der Basis von Kronenethern kreieren (Spektrum der Wissenschaft, November 1994, Seite 24).
Auf dem Weg zu künstlichen Zellen
Die Vielzahl an Analogien und Gemeinsamkeiten zwischen supramolekularen Systemen und biologischen Funktionseinheiten ist in der Tat beeindruckend – oder wie Frederic M. Menger einmal bewußt provokativ formulierte: "Die Biologie ist in Wirklichkeit organisierte Organische Chemie."
Als Chemiker an der Emory-Universität in Atlanta (Georgia) interessiert Menger sich vor allem für biologische Membranen, deren Dynamik er in einfacheren Modellsystemen nachzuahmen sucht. Dazu benutzt er vorwiegend Vesikel (Bläschen) aus dem synthetischen Lipid Didodecyldimethylammoniumbromid (DDAB). Mit einem Durchmesser von bis zu einigen Mikrometern können sie durchaus die Größe biologischer Zellen erreichen.
Zwar handelt es sich im einfachsten Fall um wenig mehr als Kügelchen aus einer Detergens-Doppelschicht, die einen flüssigkeitsgefüllten Innenraum vom wäßrigen Außenmedium trennt. Dennoch kann man damit einige Phänomene nachahmen, die sonst nur aus dem Reich des Lebendigen bekannt sind. Stolz erzählt Menger, daß sich mancher Betrachter zu dem erstaunten Satz hinreißen ließ: "Wie bringen Sie die Zellen bloß dazu, das zu machen?" Da wirkt die Nachahmung offenbar so lebensecht, daß sie unversehens mit dem Original verwechselt wird.
Wie ihre natürlichen Vorbilder können die Vesikel miteinander verschmelzen und bei entsprechendem Größenunterschied auch eine Art Endocytose zeigen: Das große Bläschen umfließt dann das kleinere und nimmt dessen Material schließlich in die eigene Doppelschicht auf. Bei mechanischer Reizung oder auch bei Verdünnung kann es umgekehrt zur Teilung kommen. Es gibt sogar einen Vorgang, den Menger anschaulich mit Gebären (birthing) umschreibt: Durch Zusatz anderer Detergentien entsteht manchmal in einer Riesenvesikel eine Öffnung, durch die über einen Zeitraum von wenigen Sekunden hinweg kleinere Bläschen ausgestoßen werden (Bild 7).
So sehr all diese Erscheinungen zellulären Vorgängen ähneln, bleibt ein wesentlicher Unterschied. In eine Zellmembran sind zahlreiche Proteine eingebettet, die mehr als 50 Prozent der Gesamtfläche ausmachen können. Sie und nicht die Lipide vermitteln spezifisch die meisten biochemischen Vorgänge.
Der Weg zur ersten künstlichen Zelle dürfte denn auch noch sehr weit sein. Weitaus fruchtbarer war dagegen bisher der umgekehrte Ansatz: biologische Konzepte in der Chemie anzuwenden. Das gilt etwa für das Schlüssel-Schloß-Prinzip, das vielfach in der Natur verwirklicht ist. Ein Beispiel sind katalytische Antikörper, wie sie unter ande-rem Richard Lerner vom Scripps-Forschungsinstitut in La Jolla (Kalifornien) entwickelt hat (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1988, Seite 78). In Einzelfällen erlauben sie bereits, chemische Synthesen unter ähnlich schonenden Bedingungen durchzuführen, wie sie in der Natur ablaufen.
Ein ähnlich vielversprechender Ansatz ist die evolutionäre Biotechnologie, wie Gerald F. Joyce, ebenfalls vom Scripps-Institut, sie verfolgt (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1993, Seite 52). Mittels gelenkter Evolution gelangt man dabei durch wiederholte Zyklen von Auslese, Vermehrung und Mutation zu Substanzen, die beispielsweise ganz bestimmte Bindungseigenschaften haben.
Treffend resümieren Simon H. Friedman und George L. Kenyon von der Universität von Kalifornien in San Francisco die momentane Situation, wenn sie schreiben: "In den letzten zehn Jahren sind die klassischen Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen zunehmend durchlässiger geworden; immer häufiger stellt ein organisch-synthetisch arbeitender Chemiker biologisch interessante Verbindungen her, und der Biochemiker wendet seinerseits die im allgemeinen einfacheren synthetischen Techniken an, um bestimmte biologische Fragestellungen zu klären." Friedrich Wöhler (1800 bis 1882), der 1828 mit der Umwandlung eines anorganischen Salzes in das Bioprodukt Harnstoff die Organische Synthesechemie begründete, hätte sich diese Entwicklung wohl kaum zu erträumen gewagt. Daß sie in seinem Sinne ist, kann schwerlich bezweifelt werden.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 62
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