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Japanische Physiker im Zweiten Weltkrieg

Während das Land vom Krieg zerstört darniederlag, erlebte die theoretische Physik in Japan eine Blütezeit. Trotz fast völliger Isolation leisteten vor allem Shin-Ichiro Tomonaga und Hideki Yukawa wichtige Beiträge zu Quantenelektrodynamik und Kernphysik.

„Das letzte Seminar, das in einem prächtigen und nicht abgebrannten Haus nahe Riken stattfand, war Theorien über Elektronenschauer gewidmet… Die Seminare fortzusetzen war schwierig, da Minakawas Haus im April vom Feuer zerstört und das Labor im Mai schwer beschädigt worden war. Im Juli übersiedelte das Labor in ein Dorf bei Komoro; vier Physikstudenten, mich eingeschlossen, lebten dort. Auch Tatuoki Miyazima zog in dieses Dorf, und bis Ende 1945 setzten wir dort unsere Studien fort.“

Satio Hayakawa, Astrophysiker an der Universität Nagoya

Zwischen 1935 und 1955 gab es in Japan eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern, die sich mit ungelösten Problemen der theoretischen Physik beschäftigte. Die Männer brachten sich nicht nur die Quantenmechanik im Selbststudium bei, sondern sie entwickelten auch die Quantentheorie des Elektromagnetismus und postulierten die Existenz neuer Teilchen. Ihre Lebensumstände waren zumeist ein Durcheinander, ihre Wohnungen zerstört und ihre Mägen leer. Aber die schlechten Zeiten für Physiker wurden zu einer Blütezeit der Wissenschaft. Während Japan nach dem Krieg durch Zerstörungen gelähmt war, brachten Physiker des Landes zwei Nobelpreise nach Hause.

Ihre Erfolge waren um so erstaunlicher, als die japanische Gesellschaft erst wenige Jahrzehnte davor überhaupt mit moderner Naturwissenschaft in Berührung gekommen war. Der amerikanische Flottillenadmiral Matthew Perry (1794 – 1858) erzwang 1854 mit seinen Kriegsschiffen die Öffnung des Landes für den internationalen Handel und beendete damit zwei Jahrhunderte der Isolation. Japan begriff, daß es ohne technischen Fortschritt militärisch schwach bliebe. 1868 zwang eine Gruppe gebildeter Samurai den regierenden Shogun, die Macht wieder an den Kaiser zurückzugeben, der zuvor als bloßer Repräsentant gewirkt hatte. Die neuen Machthaber schickten ihre jungen Leute nach Deutschland, Frankreich, England und Amerika, damit diese dort Sprachen, Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie Medizin studierten, und sie gründeten Universitäten nach westlichem Vorbild unter anderem in Tokio und Kioto.

Einer der ersten Physiker Japans war Hantaro Nagaoka. Sein Vater war ursprünglich Samurai gewesen und hatte den Sohn in Kalligraphie und Chinesisch unterrichtet. Einmal kehrte er von einer Auslandsreise mit einem Packen englischer Lehrbücher zurück und entschuldigte sich bei seinem Sohn, ihm die falschen Fächer beigebracht zu haben. An der Universität war sich Nagaoka zunächst unsicher, ob er Naturwissenschaften belegen sollte; er bezweifelte, daß Asiaten dafür geeignet seien. Aber nachdem er sich ein Jahr später mit der Geschichte der chinesischen Wissenschaft befaßt hatte, fand er, auch Japaner könnten es schaffen.

Im Jahre 1903 schlug Nagaoka ein Atommodell vor, das aus einem kleinen Kern mit einem Elektronenring bestand. Dieses "Saturn-Modell" war das erste, das einen Atomkern postulierte, wie er schließlich 1911 mit einem von Ernest Rutherford konzipierten Experiment im Cavendish-Labor in Cambridge (England) nachgewiesen wurde.

Wie nicht zuletzt aus den militärischen Siegen gegen China (1895) und Rußland (1905) sowie während des Ersten Weltkriegs hervorgeht, waren Japans Bemühungen um technischen Fortschritt erfolgreich. Alle größeren Unternehmen schufen Forschungslabors, und im Jahre 1917 wurde das quasistaatliche Institut Riken (Institut für physikalische und chemische Forschung) in Tokio gegründet. Es sollte die Industrie technologisch unterstützen, widmete sich jedoch auch der Grundlagenforschung.

Yoshio Nishina war ein junger Wissenschaftler am Riken, der 1919 nach Europa geschickt wurde; er bereiste England und Deutschland und verbrachte sechs Jahre an Niels Bohrs Institut in Kopenhagen. Gemeinsam mit Oskar Klein berechnete er die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Photon, ein Lichtquant, von einem Elektron abprallt. Diese Wechselwirkung war grundlegend für die damals im Entstehen begriffene Quantentheorie des Elektromagnetismus, die heute Quantenelektrodynamik heißt.

Als Nishina 1928 nach Japan zurückkehrte, brachte er nicht nur den "Geist von Kopenhagen" mit – einen demokratischen Forschungsstil, bei dem im Gegensatz zu den autoritären Verhaltensregeln an japanischen Universitäten Beiträge von jedem Mitarbeiter willkommen waren; er vermittelte auch Kenntnisse aktueller wissenschaftlicher Probleme und Methoden. Koryphäen der westlichen Welt wie Werner Heisenberg und Paul A. M. Dirac kamen zu Besuch und hielten vor einem ehrerbietigen Publikum aus Studenten und Professoren ihre Vorlesungen.

Einer der wenigen, die Heisenbergs Vorträge verstanden, war der meist hinten im Hörsaal sitzende Shin-Ichiro Tomonaga. Er hatte als Student gerade eineinhalb Jahre damit zugebracht, sich die Quantenmechanik aus den Originalartikeln beizubringen. Am letzten Tag des Semesters schimpfte Nagaoka, daß japanische Studenten noch immer sklavisch Vorlesungen mitschreiben würden, während Dirac und Heisenberg in ihren Zwanzigern neue Theorien entdeckt hätten. Einige Zeit später bekannte Tomonaga: "Nagaokas Ermahnungsrede hat mir nicht wirklich geholfen."



Söhne der Samurai



Trotzdem sollte Tomonaga – wie auch sein Mitschüler und späterer Kommilitone Hideki Yukawa – im wirklichen Leben noch recht weit kommen. Die Väter beider Männer waren im Ausland gewesen und lehrten an Hochschulen: Tomonagas Vater war Professor für westliche Philosophie, der von Yukawa Professor der Geologie. Beide stammten von Samurais ab. Noch vor seinem Schuleintritt hatte Yukawa als Kind die klassischen konfuzianischen Schriften von seinem Großvater mütterlicherseits, einem ehemaligen Samurai, gelehrt bekommen. Später kam der junge Yukawa in Kontakt mit den Werken taoistischer Weiser, deren hinterfragende Grundhaltung er mit der naturwissenschaftlichen Vorgehensweise verglich. Sein Entschluß, Physik zu studieren, geht auf eine Vorlesung zurück, die Albert Einstein 1922 in Kioto hielt, sowie auf die Lektüre populärwissenschaftlicher japanischer Bücher.

Gemeinsam schlossen sie 1929 ihr Grundstudium an der Universität von Kioto ab, genau zu Beginn der Weltwirtschaftskrise. Wegen fehlender Arbeitsplätze blieben sie als unbezahlte Assistenten an der Universität. Gegenseitig brachten sie sich die neuen physikalischen Theorien bei und forschten unabhängig voneinander weiter. Yukawa scherzte später: "Die Weltwirtschaftskrise hat aus uns Gelehrte gemacht."

Im Jahre 1932 schloß sich Tomonaga der agilen Gruppe um Nishina am Riken an. Yukawa wechselte an die Universität Osaka und konzentrierte sich dort zum Ärger Tomonagas auf die tiefgründigsten Probleme seiner Zeit. (Yukawas Grundschullehrer beurteilte ihn so: "Hat ein starkes Ego und einen festen Verstand.") Eines davon war ein schwerwiegender Mangel der Quantenelektrodynamik, das als das Problem der unendlichen Selbstenergie bekannt war.

Viele Berechnungen lieferten – physikalisch sinnlose – unendliche Werte: Zum Beispiel sollten sich ein Elektron und die Photonen seines eigenen elektromagnetischen Feldes wechselseitig in einer Weise beeinflussen, daß seine Masse – oder Energie – unaufhörlich wuchs. Yukawa erzielte kaum Fortschritte in dieser Frage, die einige der klügsten Köpfe weltweit noch für gut zwanzig Jahre beschäftigen sollte. "Jeden Tag verwarf ich die Ideen, die mir während der Arbeit eingefallen waren. Wenn ich dann auf meinem Heimweg den Fluß Kamo überquerte, hatte ich einen Zustand der Verzweiflung erreicht", erinnerte er sich später.

Schließlich entschloß sich Yukawa, ein scheinbar einfacheres Problem anzugehen: die Kraft zwischen einem Proton und einem Neutron. Heisenberg hatte vorgeschlagen, daß sie durch den Austausch eines Elektrons übertragen wird. Da das Elektron einen inneren Drehimpuls – oder Spin – von einhalb hat (in Einheiten des Planckschen Wirkungsquantums), verletzte Heisenbergs Vorschlag den Satz von der Erhaltung des Drehimpulses, einem zentralen Prinzip der Quantenmechanik.

Nachdem Heisenberg, Bohr und andere gerade erst die klassischen physikalischen Gesetze für Elektronen und Photonen durch quantenmechanische ersetzt hatten, waren sie sogleich bereit, auch die Quantenmechanik über Bord zu werfen, um für Protonen und Neutronen selber wieder radikal neue Gesetze zu schaffen. Nur: Der Abstand, über den in Heisenbergs Modell die Kernkräfte wirken sollten, war um das Zweihundertfache zu groß. Yukawa entdeckte, daß sich die Reichweite einer Kraft umgekehrt zur Masse des Teilchens verhält, das sie überträgt. Elektromagnetische Kräfte zum Beispiel wirken über unendlich weite Abstände, da sie von Photonen ohne Ruhemasse übertragen werden. Kernkräfte hingegen sind auf Abstände innerhalb eines Atomkerns begrenzt und sollten von einem Teilchen mit der zweihundertfachen Elektronenmasse vermittelt werden. Nach Yukawas Theorie sollten Kernteilchen einen Spin von null haben, oder zumindest einen, der die Erhaltung des Drehimpulses gewährleistete.

Diese Resultate veröffentlichte Yukawa 1935 in seinem ersten eigenständigen Artikel in den "Proceedings of the PMSJ" (Physico-Mathematical Society of Japan). Obwohl die Veröffentlichung auf englisch abgefaßt war, wurde sie zwei Jahre lang ignoriert. Yukawa hatte die Kühnheit besessen, ein neues Teilchen vorherzusagen – und hatte damit Occams Prinzip verletzt, wonach Konzepte und Postulate nicht unnötig vermehrt werden sollten. Im Jahre 1937 entdeckten Carl D. Anderson und Seth H. Neddermeyer vom California Institute of Technology in Pasadena (Kalifornien) in den Spuren kosmischer Strahlung geladene Partikel mit ungefähr der von Yukawas Theorie geforderten Masse. Das kosmische Strahlenteilchen wurde allerdings auf Meereshöhe gefunden und war nicht in den oberen Schichten der Atmosphäre absorbiert worden; folglich existierte es etwa hundertmal länger als Yukawa vorhergesagt hatte.



Schwere Zeiten



Währenddessen arbeitete Tomonaga zusammen mit Nishina an der Quantenelektrodynamik. 1937 besuchte er Heisenberg an der Universität Leipzig und forschte mit ihm zwei Jahre lang an der Theorie der Kernkräfte. Yukawa stieß dazu, als er zur berühmten Solvay-Konferenz in Brüssel unterwegs war. Der Kongreß wurde jedoch abgesagt, und die beiden Männer mußten Europa überstürzt verlassen.

Mit dem Zweiten Weltkrieg fand das goldene Zeitalter der Quantenmechanik ein jähes Ende. Die Begründer der neuen Physik, die sich bisher an europäischen Zentren wie zum Beispiel in Göttingen zusammengefunden hatten, wurden in alle Winde zerstreut; viele emigrierten in die USA. Heisenberg, in Deutschland beinahe alleingelassen, beschäftigte sich zunächst noch mit Feldtheorie – einer verallgemeinerten Quantenelektrodynamik – und korrespondierte mit Tomonaga.

Als Japan 1941 in den Krieg eintrat, war Yukawa Professor in Kioto. Zu seinen Studenten und Mitarbeitern zählten Shoichi Sakata und Mitsuo Taketani; beide hatten politisch radikale Einstellungen. Die Philosophie von Marx war damals unter den Intellektuellen einflußreich, die darin ein Gegengift zum Militarismus der kaiserlichen Regierung sahen. Leider war die Gesinnungspolizei auf Taketanis Veröffentlichungen in der marxistischen Zeitschrift "Sekai Bunka" (Weltkultur) aufmerksam geworden. Taketani wurde 1938 für sechs Monate inhaftiert und danach, dank der Intervention von Nishina, in Yukawas Obhut entlassen. Yukawa beschränkte sich völlig auf die Physik und äußerte keinerlei politische Meinung, beherbergte aber dennoch Radikale in seinem Labor.

Sakata und Taketani entwickelten eine marxistische Wissenschaftsphilosophie, die sie Drei-Stufen-Theorie nannten: Angenommen, ein Wissenschaftler entdeckt ein neues und unerklärliches Phänomen; zuerst wird er oder sie es in allen Einzelheiten beschreiben und nach Regelmäßigkeiten suchen. Im zweiten Schritt erstellt die Person ein qualitatives Modell, das die so strukturierten Beobachtungen erklärt; und schließlich schafft sie eine exakte mathematische Theorie, die das Modell subsumiert. Eine neue Entdeckung zwingt dann allerdings dazu, den ganzen Vorgang erneut zu durchlaufen. Die Wissenschaftsgeschichte gleicht darum einer Spirale; sie dreht sich im Kreis und schreitet doch vor-an. Dieser philosophische Ansatz beeinflußte viele der jüngeren Physiker, auch einen von uns (Nambu).

Während zu jener Zeit der Krieg im Pazifik wütete, arbeiteten die Wissenschaftler weiter an physikalischen Problemen. Im Jahre 1942 brachten Sakata und Takeshi Inoue die These auf, daß Anderson und Neddermeyer nicht Yukawas Teilchen, sondern ein leichteres Objekt gesehen hätten, das heute Myon heißt und das aus dem Zerfall des eigentlichen Yukawa-Teilchens – dem Pion – stammte. Die beiden Japaner stellten ihre Theorie im Mesonen-Club vor, einer inoffiziellen Gemeinschaft, die sich regelmäßig zu Diskussionen über physikalische Themen traf und diese in einer japanischsprachigen Zeitschrift veröffentlichte.

Einen Tag pro Woche war Yukawa mit Kriegsarbeiten beschäftigt – was genau das war, hat er nie gesagt. (Er erzählte nur, daß er auf seinem Weg ins Militärlabor die "Geschichte vom Prinzen Genji" lese, einen höfischen Roman über das Leben und Lieben eines Prinzen aus dem 10. Jahrhundert.) Tomonaga, mittlerweile Professor an der Universität Tokio Bunrika (der heutigen Tsukuba-Universität), war stärker in Militärforschung involviert. Gemeinsam mit Masao Kotani von der Universität Tokio entwickelte er für die Marine eine Theorie der Magnetrone – Geräte zur Erzeugung elektromagnetischer Strahlen in Radaranlagen. Heisenberg ließ Tomonaga über einen befreundeten U-Boot-Kapitän einen Artikel zukommen, der ein von ihm erarbeitetes Verfahren zur Beschreibung von Wechselwirkungen zwischen Quantenteilchen enthielt. Im wesentlichen handelte es sich dabei um eine Wellentheorie, die Tomonaga für die Konstruktion von Radarwellenleitern einsetzte.

Zur selben Zeit packte Tomonaga das Problem unendlicher Selbstenergie an, das Yukawa aufgegeben hatte. Er entwickelte einen Formalismus, mit dem er das Verhalten einer Gruppe Quantenteilchen, also etwa Elektronen, beschreiben konnte, die sich fast mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Einer von Dirac stammenden Idee folgend kennzeichnete er jedes Teilchen nicht nur durch Ortskoordinaten, sondern auch durch eine eigene Zeitkoordinate. Diese neue Beschreibung, die er die Super-Viele-Zeiten-Theorie nannte und 1943 in der wissenschaftlichen Zeitschrift des Riken veröffentlichte, bildete ein wirksames Gerüst für die Quantenelektrodynamik.

Damals waren die meisten Studenten schon zum Militärdienst eingezogen worden. Nambu wurde der Gruppe für Radarforschung zugeteilt. (Rivalitäten zwischen Marine und Armee sorgten dabei für manche Doppelarbeit.) Die Ressourcen waren knapp und die Technik noch zu primitiv: Es gelang der Armee nicht, mobile Radarstationen zu entwickeln, die Ziele genau orten konnten. Einmal erhielt Nambu einen Permalloy-Magneten von acht Zentimeter Seitenlänge mit dem Befehl, damit möglichst Unterseeboote von Flugzeugen aus zu detektieren. Auch wurde ihm aufgetragen, aus den Marinebüros Tomonagas Artikel über Wellenleiter zu stehlen, die dort als geheim abgelegt waren, was ihm anläßlich eines Besuchs bei dem gutgläubigen Professor sogar glückte.

(Die japanischen Beiträge zur Technikgeschichte erstreckten sich im übrigen auf hervorragende Magnetrone, entworfen von Kinjiro Okabe, und auf eine spezielle Antenne. Ihr Typ ist noch immer auf vielen Dächern zu finden. Hidetsugu Yagi und Shintaro Uda entwarfen sie 1925. Das japanische Militär erfuhr von der Bedeutung der Yagi-Antenne erst, nachdem ihm eine britische Betriebsanleitung in die Hände gefallen war.)

Wann immer sie dazu kamen, setzten die jungen Physiker in der Region Tokio ihre Studien fort; Universitätsprofessoren hielten genauso wie Tomonaga Sonntagskurse ab. Im Jahre 1944 wurden einige Studenten (unter ihnen Satio Hayakawa, dessen Zitat am Anfang dieses Artikels steht) von der Kriegsforschung freigestellt und begaben sich zur Hochschule zurück. Dennoch waren es schwere Zeiten. Das Haus eines der Studenten war niedergebrannt, ein anderer wurde eingezogen, und das Haus eines dritten verbrannte, kurz bevor er eingezogen wurde. Der Ort, an dem das Seminar abgehalten wurde, wechselte oft. Der schon immer körperlich schwache Tomonaga unterrichtete seine Studenten manchmal krank von seinem Bett aus.

Unterdessen hatte Nishina von der Armee den Auftrag erhalten, die Möglichkeiten zum Bau einer Atombombe zu untersuchen. Er kam 1943 zu der Ansicht, daß ein solches Projekt durchführbar sei, sofern genügend Zeit und Geld bereitstünden. Er beauftragte Masa Takeuchi, einen jungen auf kosmische Strahlung spezialisierten Physiker, ein Gerät zur Trennung der Uranisotope zu bauen. Es scheint, als ob Nishina damals glaubte, daß dieses Unternehmen die Physik bis zum Kriegsende am Leben halten würde. Taketani, inzwischen wieder im Gefängnis, wurde ebenfalls zur Mitarbeit gezwungen. Es konnte ihm recht sein, denn er wußte, es gab keine Aussicht auf Erfolg.

Jenseits des Pazifiks waren im Manhattan-Projekt 150000 Männer und Frauen beschäftigt, darunter viele der besten Wissenschaftler der westlichen Welt, und das Budget betrug zwei Milliarden Dollar. Dagegen mußten die japanischen Studenten ihre eigenen knappen Zuckerrationen mit ins Labor bringen, nachdem ihnen bewußt geworden war, daß sie Zucker zur Synthese von Uranhexafluorid benötigten, aus dem sie das Uran extrahieren konnten. Ein zweites Projekt, das die japanische Marine 1943 begann, war ebenfalls unterfinanziert und kam zu spät. Bis zum Kriegsende hatten die Anstrengungen lediglich ein Plättchen Uranmetall in Briefmarkengröße hervorgebracht – noch immer nicht mit dem leichten Isotop angereichert.

Und dann explodierten 1945 in Japan zwei amerikanische Atombomben. Luis W. Alvarez von der Universität von Kalifornien in Berkeley war an Bord des Flugzeugs, das die zweite Bombe auf Nagasaki abwarf. Er setzte zuvor drei Mikrophone aus, um die Druckwelle akustisch zu vermessen. Die drei Mikrophone waren mit einem Brief (zusammen mit zwei Photokopien) umwickelt, den Alvarez gemeinsam mit seinen Kollegen Philip Morrison und Robert Serber verfaßt hatte. Adressat war Riokichi Sagane, der Sohn Nagaokas und Physiker im Team von Tomonaga. Sagane hatte zwei Jahre in Berkeley mit dem Studium von Zyklotrons verbracht, riesigen Maschinen für Experimente zur Teilchenphysik. Damals hatte er die drei Amerikaner kennengelernt, die ihn jetzt über das Wesen der Bombe informieren wollten. Die Briefe wurden zwar von der Militärpolizei gefunden, doch Sagane erfuhr erst nach dem Krieg von ihnen.

Nach der japanischen Kapitulation im August 1945 blieb das Land sieben Jahre lang von den Amerikanern besetzt. Die Verwaltung des Generals Douglas MacArthur reformierte, liberalisierte und erweiterte das Universitätssystem. Doch Experimente zur Nuklearphysik und ähnlichen Themen blieben praktisch verboten. Aus Furcht, es könnte doch noch zur Entwicklung einer Atombombe genutzt werden, bauten die Amerikaner jedes Zyklotron in Japan ab und versenkten es im Meer.

Die schlechte wirtschaftliche Lage hätte den Luxus einer experimentellen Forschung ohnehin nicht erlaubt. Tomonaga lebte mit seiner Familie in einem Labor, das zur Hälfte von Bomben zerstört worden war. Nambu kam als wissenschaftlicher Assistent an die Universtität Tokio, wohnte drei Jahre lang ebenfalls in einem Labor und schlief dort auf einer Strohmatte mitten auf seinem Schreibtisch; dabei trug er Militäruniformen, da es kaum andere Kleider gab. Nachbarbüros wurden ähnlich genutzt, eines von einem Professor und dessen Familie.



Forschungserfolge im Frieden



Die tägliche Beschaffung von Lebensmitteln hielt alle auf Trab. Manchmal gelang es Nambu, auf dem Fischmarkt in Tokio Sardinen zu ergattern. Die verbreiteten aber rasch einen unangenehmen Geruch, weil er keinen Kühlschrank hatte. An den Wochenenden begab sich der Kernphysiker gewöhnlich aufs Land, um die Bauern um alles zu bitten, was sie abgeben konnten.

Nambus Zimmer wurde noch von einigen anderen Physikern mitbenutzt, darunter von Ziro Koba, der in Tomonagas Gruppe in Bunrika am Problem der Selbstenergie arbeitete. Andere der Zimmernachbarn spezialisierten sich auf feste und flüssige Stoffe (was heute "die Physik kondensierter Materie" heißt), unter der Leitung von Kotani und seinem Assistenten Ryogo Kubo, der später durch seine Theoreme in Statistischer Mechanik berühmt wurde. Die jungen Forscher brachten sich gegenseitig alles bei, was sie über Physik wußten. Darüber hinaus gingen sie in eine von MacArthur eingerichtete Bibliothek und lasen dort sorgfältig alle neu eingetroffenen Zeitschriften.

Bei einem Treffen 1946 machte Sakata – seine physikalische Fakultät in Nagoya war inzwischen in eine Grundschule am Stadtrand umgezogen – einen Vorschlag zur Behandlung der unendlichen Selbstenergien, indem er die elektromagnetische Kraft durch eine unbekannte Gegenkraft ausgleichen ließ. Am Ende der Berechnungen konnte man letztere dann formal verschwinden lassen. (Etwa zur gleichen Zeit schlug Abraham Pais vom Institute for Advanced Study in Princeton eine ähnliche Lösung vor.) Obwohl die japanische Methode nicht ganz fehlerlos war, zeigte sie der Gruppe um Tomonaga doch den Weg, wie man die unendlichen Werte aus den Rechnungen verbannen konnte. Es handelte sich letztlich um das mathematische Verfahren, das heute Renormalisierung genannt wird.

Diesmal wurden die Ergebnisse in der englischsprachigen Zeitschrift "Progress of Theoretical Physics" veröffentlicht, die Yukawa 1946 gegründet hatte. Im September 1947 erfuhr Tomonaga aus "Newsweek" von einem erstaunlichen Experiment, das Willis E. Lamb und Robert C. Retherford an der Columbia-Universität in New York gelungen war. Betrachtet man das Elektron eines Wasserstoffatoms, so muß es sich in einem von mehreren quantenmechanisch möglichen Energiezuständen aufhalten; zwei dieser Zustände, von denen man bislang geglaubt hatte, sie wären energetisch gleichwertig, hatten jedoch – das zeigte das Experiment – leicht unterschiedliche Energien.

Schon kurz nach dem Bekanntwerden dieser aufsehenerregenden Entdeckung präsentierte Hans Bethe von der Cornell-Universität in Ithaca (US-Bundesstaat New York) eine erste nichtrelativistische Berechnung der "Lamb-Shift". So wird die Energiedifferenz mittlerweile genannt. Der Effekt spiegelt eine winzige, aber endliche Verschiebung in der unendlichen Selbstenergie eines Elektrons wieder, das sich um ein Atom bewegt. Eine relativistische Berechnung der Lamb-Shift lieferte alsbald Tomonaga zusammen mit seinen Studenten, indem sie die unendlichen Selbstenergien konsistent behandelten.

Zur gleichen Zeit führte in den USA Julian Schwinger an der Harvard-Universität in Cambridge (in Massachusetts) ganz ähnliche Rechnungen durch. Jahre später stellten Tomonaga und Schwinger noch weitere verblüffende Ähnlichkeiten in ihren Karrieren fest: Beide hatten sich während der Kriegszeit mit Radaranlagen, Magnetronen und Wellenleitern befaßt; beide hatten das gleiche Problem (die unendlichen Selbstenergien) mit Hilfe der Theorie Heisenbergs gelöst. Im Jahre 1965 teilten sie sich den Nobelpreis für Physik mit Richard Feynman für die Entwicklung der Quantenelektrodynamik. (Feynman selbst hatte einen eigenwilligen Ansatz: Er arbeitete mit Elektronen, die sich in der Zeit rückwärts bewegten. Freeman Dyson vom Institute for Advanced Study zeigte später, daß sein Vorgehen dem von Tomonaga und Schwinger entsprach.) Und schließlich bedeuten die Namen Schwinger und Tomonaga beide wörtlich "Oszillator" – eines der grundlegenden Modelle in vielen Bereichen der Physik.

Etwa zur gleichen Zeit, als die Lamb-Shift bekannt wurde, entdeckte eine Gruppe in England auf Photoplatten, die in großen Höhen der kosmischen Strahlung ausgesetzt waren, daß Pionen in Myonen zerfallen. Das Ergebnis bestätigte auf spektakuläre Weise die Vorhersagen von Inoue, Sakata und Yukawa. Nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, wurde klar, daß Yukawa eine fundamentale Regel für alle Kraftwirkungen gefunden hatte: Kräfte werden von Teilchen mit ganzzahligem Spin übertragen, und ihre Reichweite ist durch die Teilchenmasse festgelegt. Obendrein erwies sich Yukawas Stategie, ein neues Teilchen zu postulieren, als beachtlicher Erfolg. In der Folgezeit wurde eine Fülle subatomarer Partikel entdeckt, von denen viele theoretisch vorhergesagt worden waren.

Im Jahre 1947 tauchten in den Experimenten so fremdartig neue Teilchen auf, daß man sie mit strange (seltsam) bezeichnete. Obwohl sie nur selten auftraten, erschienen sie meist nur in Paaren und mit einer ungewöhnlich langen Lebensdauer. Murray Gell-Mann am California Institute of Technology in Pasadena entschlüsselte schließlich unabhängig von Kazuhiko Nishijima von der Stadtuniversität Osaka und anderen japanischen Wissenschaftlern die Regeln dieses Verhaltens, die heute als "strangeness" bezeichnet werden – der erste Schritt in der Drei-Stufen-Theorie.

In der Folgezeit engagierten sich Sakata und seine Mitarbeiter bei der Sichtung und Ordnung der zahlreichen neuentdeckten Partikel. Sie entwickelten einen mathematischen Formalismus, der zum Vorläufer des modernen Quarkmodells wurde. Das war die zweite Stufe. Heute repräsentiert das "Standardmodell" der Hochenergiephysik mit seiner präzisen Theorie von Teilchen und deren Wechselwirkungen die dritte und letzte Stufe.

Unterdessen nahmen japanische Physiker wieder Beziehungen zu den amerikanischen Kollegen auf, die die Atombomben konstruiert hatten. Ihre Gefühle den Amerikanern gegenüber waren gespalten. Das Flächenbombardement Tokios und die atomare Massenvernichtung von Hiroschima und Nagasaki hatten auch all jene Japaner schockiert, die gegen den Krieg gewesen waren. Dagegen wirkte die amerikanische Besatzungszeit aufgrund ihres Liberalisierungsprogramms vergleichsweise positiv. Vielleicht war die treibende Kraft nach alledem die gemeinsame Begeisterung für die Wissenschaft.



Versöhnung



Freeman Dyson beschrieb, wie Bethe 1948 die ersten beiden Ausgaben des "Progress of Theoretical Physics", gedruckt auf grobem, bräunlichem Papier, erhielt. In einem Artikel Tomonagas im zweiten Heft fand er das Kernstück von Schwingers Theorie wieder. "Auf die eine oder andere Art hat Tomonaga während der Kriegswirren und der Zerstörung in Japan eine Forschungsrichtung der theoretischen Physik aufrechterhalten können, die in manchen Teilen dem Rest der Welt voraus war", notiert Dyson. "Er hatte seine Forschung alleine weiter vorangetrieben und die Grundlagen für die neue Quantenelektrodynamik geschaffen, fünf Jahre vor Schwinger sowie ohne Hilfe durch die Experimente an der Columbia-Universität. Er kam zu uns wie eine Stimme aus der Tiefe."

J. Robert Oppenheimer, damals Direktor des Institute for Advanced Study, lud Yukawa nach Princeton ein. Dieser blieb für ein Jahr, verbrachte ein weiteres an der Columbia-Universität und erhielt 1949 den Nobelpreis. Auch Tomonaga besuchte das Institut und fand eine für ihn stimulierende Umgebung vor. Allerdings hatte er Heimweh. An seine ehemaligen Studenten schrieb er: "Ich fühle mich wie ein Ausgestoßener im Paradies." Nach einem Jahr kehrte er nach Japan zurück. Zuvor hatte er eine Theorie über eindimensionale Teilchenbewegung ausgearbeitet, die sich gegenwärtig für die String-Theorie als nützlich erweist.

Seit Anfang der fünfziger Jahre kommen auch jüngere Physiker aus Japan in die Vereinigten Staaten. Einige davon, so wie Nambu, blieben im Lande. Zum Ausgleich für diesen brain drain hielten die Auswanderer den Kontakt zu ihren japanischen Kollegen aufrecht. Zum Beispiel schickten sie Mitteilungen an den informellen Newsletter "Soryushiron Kenkyu", der bei Treffen der Forschergruppe, die den Mesonen-Club abgelöst hatte, laut verlesen wurde

Yukawa wurde 1953 Direktor eines neuen Forschungsinstituts bei Kioto, dem heutigen Yukawa-Institut für Theoretische Physik. Im selben Jahr veranstalteten er und Tomonaga einen internationalen Kongreß für theoretische Physik in Tokio und Kioto; 55 ausländische Physiker nahmen daran teil, darunter J. Robert Oppenheimer. Er soll den Wunsch geäußert haben, einen Ausflug zum landschaftlich bezaubernden Inlandsee zu unternehmen, doch Yukawa habe ihm davon abgeraten, da er fürchtete, der Anblick des in der Nähe gelegenen Hiroschima könnte Oppenheimer zu sehr unter die Haut gehen. Yukawa und Tomonaga lebten nicht nur für ihre abstrakten Theorien, sondern engagierten sich auch in der Anti-Atom-Bewegung und unterzeichneten mehrere Aufrufe zur Beseitigung nuklearer Waffen.

Im Jahre 1959 reichte Leo Esaki an der Universität Tokio seine Doktorarbeit zur Quantenphysik von Halbleitern ein; diese Arbeit führte letztlich zur Entwicklung von Transistoren. Esaki brachte den dritten Nobelpreis für Physik nach Japan; 1973 wurde ihm die Auszeichnung gemeinsam mit Ivar Giaever und Brian D. Josephson verliehen.

Man fragt sich, warum die für Japan schlimmsten Jahre dieses Jahrhunderts für die Theoretische Physik in diesem Land zu einer der kreativsten Perioden wurden. Vielleicht suchten die Menschen in schwieriger Zeit dem Grauen des Krieges zu entkommen, indem sie sich der reinen Kontemplation physikalischer Theorien hingaben. Vielleicht hat auch der Krieg eine Isolation verstärkt, die den Einfallsreichtum förderte. Sicher ist, daß der traditionelle Stil feudaler Loyalität gegenüber Professoren und akademischen Verwaltern zeitweise zusammengebrochen war. Vielleicht hatten die Physiker damit endlich einmal die Freiheit, ihre eigenen Ideen zu verwirklichen. Vielleicht aber war diese Zeit auch einfach zu außergewöhnlich, um sie zu verstehen.

Literaturhinweise

Die Geschichte der Physik in Japan. Erwin Müller-Hartmann (Hg.), übersetzt von Wolfgang Muntschick. Steiner 1984.

Tabibito – Ein Wanderer. Erinnerungen eines Physikers. Von Hideki Yukawa. Erwin Müller-Hartmann (Hg.), übersetzt von Claus M. Fischer. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1985.

The Formation of Science in Japan. Von James R. Bartholomew. Yale University Press 1989.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1999, Seite 78
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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