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Klatsch und Tratsch. Wie der Mensch zur Sprache fand.

Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Bertelsmann, München 1998. 288 Seiten, DM 36,90.


Wie sind die ersten Menschen entstanden? Damit eng zusammenhängend: Warum gibt es Sprache? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt existiert keine einfache Erklärung für die menschliche Sprachfähigkeit, sondern nur eine Vielzahl von denkbaren anatomischen, physiologischen, semiotischen und anderen Faktoren, die sich in ihrer Gesamtheit nur schlecht erfassen lassen.

In dieser Situation macht es durchaus Sinn, sich zunächst auf eng umrissene Aspekte der Sprachevolution zu beschränken. Das tut der Autor mit einem soziokulturellen Ansatz. Robin I. M. Dunbar ist Professor für Psychologie an der Universität Liverpool und hat sich während seiner Feldforschungen intensiv mit dem Sozialverhalten von Primaten beschäftigt. Sein Thema ist die – ansonsten manchmal vernachlässigte – soziale Bedeutung sprachlicher Kommunikation.

Nach seiner Auffassung erfordern die komplexen Sozialsysteme, welche die Primaten im Verlauf der Evolution hervorgebracht haben, nicht nur eine mühsam zu erlernende soziale Kompetenz des Individuums, sondern in ihrer alltäglichen Etablierung auch sehr viel Zeit, etwa für das irrtümlich als "Lausen" bezeichnete Kraulen (grooming), eine zärtliche, Vertrauen schaffende Tätigkeit mit pflegerischer Komponente. Nichtmenschliche Primaten verbringen bis zu 20 Prozent des Tages mit sozialen Handlungen. Wenn ein solches Sozialsystem im Zuge einer kognitiven Weiterentwicklung noch komplexer wird und mehr Individuen umfaßt, dann, so folgert Dunbar, wächst der Zeitbedarf für die notwendigen sozialen Handlungen ins Übermaß; über das zeitraubende Kraulen können allenfalls zwei, vielleicht drei Tiere sozial interagieren.

Ein effizienteres Mittel sei erforderlich geworden und habe sich entwickelt: die Sprache. Beispielsweise muß Vertrauen nicht mehr langwierig über Verhalten erworben, sondern kann einfach ausgesprochen werden. Bündniszusagen in Konfliktsituationen müssen nicht mehr mühevoll erarbeitet, sondern lediglich artikuliert werden. Sprache hätte sich demnach "als eine Art akustisches Kraulen entwickelt" (Seite 103).

Der evolutive Vorteil dieser Effizienzerhöhung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Deutliche Hinweise dieser Bedeutung der Sprachfähigkeit finden sich auch bei Menschen der Gegenwart. Nach Dunbar handeln etwa 75 Prozent des täglichen Gesprächsaufkommens eines Menschen von "Klatsch und Tratsch", also Inhalten, die sich im wesentlichen mit der sozialen Interaktion von echten oder vermeintlichen Gruppenmitgliedern beschäftigen. Und das gilt auch für Tex- te in anspruchsvollen Tageszeitungen: "Selbst die hehre Times widmete nur 57 Prozent der circa 50 Meter Spalten in ihrem Hauptnachrichtenteil politischen und wissenschaftlichen Berichten; 43 Prozent enthielten Geschichten (Interviews, aktuelle Berichte, die eher unter die Gürtellinie gingen, und so weiter)" (Seite 15/16). Zwischenmenschliches auszutauschen wäre somit der wesentliche Grund für die Entstehung der Sprache.

Als eine unter mehreren anderen Erklärungen, zum Beispiel neurobiologischen, ökologischen oder kognitionswissenschaftlichen, die Dunbar zum Teil auch kurz anspricht, ist sein Konzept durchaus überzeugend. An einigen Stellen präsentiert er jedoch Kausalzusammenhänge, die in dieser Verkürzung unhaltbar sind. Aus dem mit wachsender Leistung ansteigenden Energiebedarf des Gehirns macht er eine unmittelbare Kausalbeziehung von Darmgröße und Intelligenz: "Offenbar setzt die Größe des Darms letztlich eine Grenze für die Größe des Gehirns. Wer ein größeres Gehirn haben will, muß insgesamt größer werden, damit auch ein größerer Darm Platz hat. Daraus läßt sich die Erkenntnis ableiten, daß kleine Affen niemals klug sein können – von der Entwicklung einer Sprache ganz zu schweigen –, weil ihr Darm nicht groß genug ist, um die höhere Nerventätigkeit eines größeren Gehirns zu unterstützen" (Seite 161).

Dunbars Arbeit zeigt, daß bei der Suche nach den Ursachen für die Entstehung der Sprache der soziale Aspekt sprachlicher Kommunikation besonderer Beachtung bedarf. Ergebnisse anderer Teildisziplinen lassen sich nur richtig einordnen, wenn diese Grundfunktion menschlicher Sprache stets im Mittelpunkt bleibt. Aber genau diese Einordnung leistet Dunbar nicht; es fehlt eine umfassendere Betrachtung der bisherigen Erkenntnisse, unter anderem aus der Genetik und der Neurobiologie.

Überhaupt dürfte es dem Leser an einigen Stellen schwerfallen, dem raschen Wechsel von Argumenten, Ergebnissen und Szenarien zu folgen. Zu schnell sind manche Gedankensprünge, zu kurz wirken manche Begründungen.

Dennoch ist das – gut übersetzte – Buch insgesamt spannend und für eine breite Leserschaft geschrieben. Lediglich der Titel "Klatsch und Tratsch" wirkt eher stumpf und drängt das Buch in eine ungewollte Richtung.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1998, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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