Kleinsche Flaschen aus Glas
Eigentlich sind diese topologischen Strukturen im dreidimensionalen Raum nur unvollkommen zu realisieren. Aber in Glas geblasen sehen sie hübsch aus – und beflügeln sogar die mathematische Phantasie.
Alan Bennett, Glasbläser aus Bedford (England), machte vor einigen Jahren Bekanntschaft mit den merkwürdigen Formen, die in der Topologie auftreten – Möbius-Bänder, Kleinsche Flaschen und so weiter –, und war fasziniert. Bei näherer Beschäftigung stieß er auf ein eigenartiges Rätsel, das seine Neugier erregte. Ein Mathematiker hätte es auf dem Wege über die Abstraktion zu erledigen versucht; aber Bennett fand eine Lösung mit seinen eigenen Mitteln: in Glas. Er verfertigte eine Serie bemerkenswerter Objekte – eigentlich ein in Glas geblasenes Forschungsprojekt. Sie wird – voraussichtlich ab November dieses Jahres – im Londoner Wissenschaftsmuseum zu besichtigen sein.
Die Topologen studieren Eigenschaften, die sich nicht ändern, selbst wenn eine Form gedehnt, verdreht oder irgendwie anders verzerrt wird, unter der einzigen Bedingung, daß die Deformation stetig vor sich gehen muß, der Gegenstand also nicht endgültig zerrissen, zerschnitten oder mit sich selbst verklebt wird. Eine topologische Eigenschaft ist beispielsweise der Zusammenhang: Besteht das Ding aus einem Stück oder mehreren? Ist es in sich verknotet oder gar aus mehreren ineinanderhängenden Teilen zusammengesetzt? Hat es Löcher?
Je nach Fragestellung sind die Vorschriften für die Deformation mehr oder weniger streng. Vom intrinsischen Standpunkt aus (siehe unten) ist es durchaus erlaubt, den Gegenstand zwischendurch zu zerschneiden; man muß allerdings die Schnittkanten hinterher so zusammenfügen, daß eng benachbarte Punkte am Ende wieder eng benachbart sind.
Die bekanntesten topologischen Formen scheinen auf den ersten Blick nichts weiter als unterhaltsame Spielzeuge zu sein; aber es steckt tiefliegende Mathematik dahinter. Da ist zunächst das Möbius-Band, das der deutsche Astronom und Mathematiker August Ferdinand Möbius (1790 bis 1868) im Jahre 1858 entdeckt hat. Kleben Sie einen längeren Papierstreifen an den Enden zusammen, nachdem Sie ihn vorher einmal in sich verwunden haben. (Hier und im folgenden ist unter "Windung" eine Drehung um 180 Grad zu verstehen; zuweilen wird das auch als halbe Windung bezeichnet.) Das Möbius-Band ist die einfachste Fläche mit nur einer Seite. Wenn zwei Maler versuchen würden, ein großes Möbius-Band auf einer Seite rot und auf der anderen blau anzustreichen, würden sie sich unweigerlich irgendwo ins Gehege kommen.
Wenn Sie dem Streifen vor dem Zusammenkleben mehrere Windungen verpassen, erhalten Sie Varianten des Möbius-Bandes. Für einen Topologen kommt es zunächst nur darauf an, ob die Zahl der Windungen gerade oder ungerade ist. Im ersten Fall resultiert eine zweiseitige, im anderen eine einseitige Fläche. Alle ungeraden Windungszahlen ergeben Flächen, die von ihrer inneren Struktur her einem Möbius-Band gleichen. Um das einzusehen, brauchen Sie einen solchen Streifen nur durchzuschneiden, alle Windungen bis auf eine rückgängig zu machen und die Enden wieder zu verkleben. Da Sie eine gerade Zahl von Windungen entfernt haben, ist das Verkleben topologisch korrekt, denn es bringt zusammen, was zusammengehört; das Ergebnis ist ein gewöhnliches Möbius-Band. Aus ähnlichem Grund sind alle Bänder mit gerader Windungszahl topologisch das gleiche wie ein gewöhnlicher Zylindermantel, der überhaupt keine Windungen hat.
Bisher ist die Argumentation der intrinsischen Betrachtungsweise gefolgt. Das ist gleichsam der Standpunkt der Ameise: Sie kann auf dem Möbius-Band herumkriechen und sogar bemerken, daß sie auf einer einseitigen Fläche lebt, indem sie bei dem Versuch scheitert, Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig anzustreichen. Aber sie hat keine Kenntnis von dem umgebenden Raum.
Wenn man sich jedoch dafür interessiert, wie das Band im Raum liegt, kommt es nicht nur auf die Parität (gerade oder ungerade) der Windungszahl an, sondern auf die Zahl selbst. Die beiden unterschiedlichen Standpunkte werden uns weiter unten wieder begegnen.
Das Möbius-Band hat einen Rand – jene Ränder des Papierstreifens, die nicht miteinander verklebt wurden. Eine Kugeloberfläche dagegen ist nicht begrenzt. Kann es auch einseitige Flächen ohne Rand geben? Im Prinzip ja. Die bekannteste Fläche mit dieser Eigenschaft heißt Kleinsche Flasche nach dem Mathematiker Felix Klein (1849 bis 1925). Nur kann man eine solche Fläche nicht ohne Selbstdurchdringung in den dreidimensionalen Raum einbetten.
Topologen stört das nicht weiter. Sie können sich Flächen in höherdimensionalen Räumen vorstellen oder sogar – ganz abstrakt – ohne umgebenden Raum. Das ist der Vorteil des intrinsischen Standpunkts. Für Glasbläser allerdings liegt hier ein unvermeidbares Hindernis. Bild 1 zeigt eine Kleinsche Flasche, die Bennett aus Glas gefertigt hat. Man stelle sich den Flaschenhals lang und biegsam vor wie einen Schwanenhals; er krümmt sich nach unten, durchdringt den Flaschenkörper und schließt sich von innen an den Flaschenboden an. Bennetts Realisierung der Kleinschen Flasche steht auf dem Kopf; vor allem aber durchdringt sie sich – unvermeidlich – selbst in einer kleinen kreisförmigen Kurve. Die Topologen ignorieren diese Selbstdurchdringung, wenn sie an eine ideale Kleinsche Flasche denken.
Versuchen Sie in Gedanken, ein solches Ding anzustreichen. Sie beginnen "außen" auf dem bauchigen Flaschenkörper und arbeiten sich den Flaschenhals entlang. Wenn Sie an die Stelle der Selbstdurchdringung kommen, tun Sie so, als sei sie nicht vorhanden, und folgen einfach weiter dem Flaschenhals, der jetzt ins "Innere" der Flasche reicht. Wenn er sich wieder weitet und in den Flaschenkörper übergeht, stellen Sie fest, daß Sie nun die "Innenseite" der Flasche anstreichen! Was wie Innen- und Außenseite aussieht, ist nahtlos miteinander verbunden. Es handelt sich wirklich um eine einseitige Fläche.
Bennett hatte erfahren, daß eine Kleinsche Flasche in zwei Möbius-Bänder zerfällt, wenn man sie entlang einer geeigneten Kurve aufschneidet. Wenn man zum Beispiel Bennetts gläserne Flasche entlang ihrer Symmetrieebene zersägt, ergeben sich zwei Möbius-Bänder mit jeweils genau einer Windung (Bild 2). Bennett fragte sich, was für eine Form man zerschneiden müßte, damit zwei Möbius-Bänder mit je drei Windungen herauskommen. Er blies also verschiedene Formen in Glas und schnitt sie auf. Er schreibt dazu: "Wenn man nur genügend viele Variationen eines Grundkonzeptes herstellt und sammelt, tut sich im allgemeinen die einleuchtendste oder logischste Lösung von allein auf."
Da Bennett nach Möbius-Bändern mit drei Windungen suchte, probierte er allerlei Dreigestaltiges: eine Flasche mit drei Hälsen oder – ein bemerkenswertes Kunststück – drei ineinanderliegende Flaschen (Bild 3 oben). Er versuchte sich auszumalen, was geschähe, wenn diese Formen aufgeschnitten würden, und schnitt manche tatsächlich mit einer Diamantsäge auf, um sicherzugehen.
Der Durchbruch gelang ihm mit einer sehr merkwürdigen Flasche, deren Hals sich zweimal herumwindet und dabei drei Selbstdurchdringungen erzeugt. Er nannte sie den Ouslam-Becher, nach einem sagenhaften Vogel, der immer enger werdende Kreise vollführt und schließlich gänzlich verschwindet, indem er in sein eigenes Hinterteil kriecht. Wenn man den Ouslam-Becher entlang seiner Symmetrieebene durchschneidet – in diesem Falle der Zeichenebene –, zerfällt es in zwei Möbius-Bänder mit je drei Windungen (Bild 4). Damit war das Problem gelöst.
Wie ein Mathematiker machte sich Bennett daran, das Ergebnis zu verallgemeinern. Wie macht man Bänder mit 5 oder 19 Windungen? Worin liegt das allgemeine Prinzip? Er bemerkte bald, daß aus einem Ouslam-Becher mit einer zusätzlichen Schleife zwei Möbius-Bänder mit fünf Windungen werden. Jede weitere Schleife ergibt zwei Windungen mehr.
Dann vereinfachte er den Entwurf, um ihn robuster zu machen. Topologisch gesprochen, zog er die vielen Verschlingungen des Halses aus dem Flaschenkörper heraus und löste damit alle Selbstdurchdringungen bis auf eine auf. Bei diesen Deformierungen des Halses war die ursprüngliche Schnittlinie mitzudeformieren, so, als wäre sie auf den Hals aufgezeichnet. Das Endergebnis ist eine Kleinsche Flasche mit spiralförmigem Hals (Bild 3 links unten und Mitte). Sie zerfällt in zwei siebenfach gewundene Bänder, und jede weitere Spiralwindung ergibt zwei zusätzliche Windungen des Bandes.
Aber ein spiralförmiges und ein gerades Rohr sind topologisch ein und dasselbe. Bennett konnte also die Spirale einfach glattziehen. Das Endergebnis ist eine klassische Kleinsche Flasche. Während aber durch die Deformation die Spirale glatt wird, wird die zuvor glatte Schnittlinie spiralig. Wenn man also eine gewöhnliche Kleinsche Flasche entlang einer spiralförmigen Kurve aufschneidet, kann man jede gewünschte Zahl von Windungen in den entstehenden Möbius-Bändern erzeugen (Bild 5).
Eine Kuriosität zum Schluß. Ursprünglich war Bennetts Arbeit ja dadurch motiviert, daß man eine Kleinsche Flasche in zwei gewöhnliche Möbius-Bänder aufschneiden kann. Aber man kann es auch so einrichten, daß nur ein einziges Möbius-Band herauskommt. Immerhin hat das Möbius-Band nur einen Rand. Bennett hat auch dieses Kunststück in Glas vollbracht (Bild 3 rechts unten).
Lots of Views of the Klein Bottle. Website von Chaim Goodman-Strauss. http://www.geom.umn.edu/~strauss/k/klein.html.
Insider's View of 3D Klein Bottle. Von Celeste Fowler und Charlie Gunn. http://www.geom.umn.edu/graphics/pix/Special_Topics/Topology/klein2.html.
Interactive Pictures of the Standard Klein Bottle. http://www.geom.umn.edu/zoo/toptype/klein/standard/interactive. html
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1998, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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