Gastkommentar: Klotzen statt Kleckern
Effektive Genomforschung braucht effiziente Förderung.
Seit den Erfolgsmeldungen der letzten Wochen aus der Human-Genom-Forschung realisieren auch viele Laien die Bedeutung dieser Forschungsrichtung. Selbst ein so komplexes Lebewesen wie der Mensch basiert letztlich auf der Umsetzung der in seinem gesamten Erbgut – dem Genom – gespeicherten Informationen in die biologischen Vorgänge seines Körpers. Gesteuert wird dies alles durch ein extrem kompliziertes Netzwerk von Interaktionen zwischen den einzelnen Genen und ihren jeweiligen Produkten. Ein Verständnis der grundlegenden Lebensvorgänge erfordert somit eine ganzheitliche Sichtweise.
Diese Aussage ist keineswegs nur philosophisch, sondern für die gesamte Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik von Bedeutung.
Wie lief es bisher? Nehmen wir ein Beispiel: Die Wissenschaft interessiert sich für ein Gen beziehungsweise sein Produkt, ein Protein, das eine Anzahl anderer Gene oder Proteine reguliert oder beeinflusst, die ihrerseits wiederum weitere Wechselwirkungspartner haben. Die Forschung kann sich nun in einer Serie einzelner Experimente von einem "interessanten" Gen zum nächsten hangeln, wodurch wir in einigen Jahrzehnten sicher auch das gesamte Genom des Menschen untersucht haben werden. Dieser An-satz ist offensichtlich sehr aufwendig und potenziell hochgradig redundant. Zudem stoßen wir hier erneut an das konzeptionelle Problem, dass nicht alle Funktionen aus einer Detailanalyse von Einzelbereichen verstanden werden können.
So kennt man schon seit über 20 Jahren die Onkogene – Gene also, deren Mutation oft ursächlich mit der Entstehung von Tumoren verbunden sind. Trotzdem hat nach wie vor jeder Dritte von uns die Perspektive, an Krebs zu sterben. Die Erkrankung Krebs kann eben nur verstanden und anschließend gezielt kontrolliert werden, wenn wir auch alle durch die auslösende Mutation hervorgerufenen Veränderungen nachvollziehen und im Idealfall modellieren können.
Es erscheint darum unumgänglich, das momentan herrschende Paradigma der biologischen Forschung, den "hypothesengetriebenen Ansatz", durch eine ähnlich große Komponente der systematischen Erfassung der wichtigsten Daten (oft als "ignoranzgetriebener Ansatz" bezeichnet) an allen Genen der relevanten Organismen zu komplementieren. Erreicht werden kann dies nur durch enge interdisziplinäre Kooperation zwischen Biologen, Medizinern, Chemikern, Physikern, Informatikern und Ingenieuren. Das soll nicht heißen, dass der bisherige Ansatz überholt sei. Um die Effizienz der biologischen Forschung insgesamt zu steigern, wird es jedoch nötig sein, die Finanzierung dieser systematischen Komponente auch auf Kosten der "klassischen" biologischen Forschung langfristig und dramatisch zu erhöhen.
Das wirtschaftliche Potenzial dieser Forschungsrichtung beginnt sich gerade erst abzuzeichnen. Es könnte das der Mikroelektronik, aus der einige der größten Unternehmen der Welt entstanden sind, möglicherweise noch übertreffen: Im Zweifelsfalle wird jeder Mensch bereit sein, mehr Geld für seine Gesundheit auszugeben als für ein Elektronikgerät. Viele der in den letzten Jahren in den USA gegründeten Firmen, die systematische Genomanalyse betreiben oder aber deren Ergebnisse anwenden, sind inzwischen milliardenschwer. Auch hierzulande löste der Start des Deutschen Human-Genom-Projekts sowie die allgemein verbesserten Rahmenbedingungen für die Genforschung – trotz der im internationalen Vergleich geringen Fördersumme – eine Gründerwelle von Genomik-Firmen aus. An der bloßen Anzahl der Biotech-Unternehmen gemessen hat Deutschland sogar den bisherigen europäischen Spitzenreiter Großbritannien überrundet. Wenn auch die Anzahl der Unternehmen noch nichts über das Wirtschaftspotenzial dieser Sparte aussagt, so wird immerhin eines deutlich: dass endlich ein Stimmungsumschwung stattgefunden hat und Wissenschaft, Wirtschaft und Politik (und zumindest für den medizinischen Bereich auch die Gesellschaft) an die Möglichkeiten glauben, die in der Genomforschung liegen.
Dies spiegelt sich endlich auch in der Forschungsförderung wider. Das Deutsche Human-Genom-Projekt und das Pflanzen-Genom-Projekt erhielten nun eine längst überfällige finanzielle Aufstockung. Zusätzliche Programme zu mikrobieller Genomforschung, Bioinformatik und Proteomik flankieren diese Anstrengungen. Es ist zwar fraglich, ob diese Mittel tatsächlich ausreichen, um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können – aber es wurde jedenfalls ein wichtiger Schritt vollzogen.
Ebenso wichtig wie die Höhe der verfügbaren Mittel ist jedoch auch deren Einsatz. Ähnlich wie etwa in der Hochenergiephysik können wichtige Teile der Genom-Forschung nur effektiv an Zentren mit der entsprechenden "kritischen Masse" an Technologieentwicklung, Datenproduktion und Informatik durchgeführt werden. Daher ist es sehr ermutigend, dass das Bundesforschungsministerium kürzlich die Bildung so genannter Kompetenzzentren für die Genomforschung gefordert hat. Gemeint ist hier die Abkehr vom "Gießkannenprinzip" der Forschungsförderung. Eine sehr begrüßenswerte Absicht, kommt sie doch genau der notwenigen Systematisierung der Datenproduktion über die enge Interaktion verschiedenster Disziplinen entgegen.
Sollte sich diese Umsetzung in der öffentlich geförderten Forschung als schwierig oder unmöglich erweisen, dann werden sich ebenso wie bei der Sequenzierung des Genoms die entscheidenden Arbeiten außerhalb Deutschlands oder ausschließlich in der Privatindustrie vollziehen – mit entsprechend hohen Folgekosten für die Volkswirtschaft.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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