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Kohlenhydrate und Zellerkennung

Zellen könnten einander im Organismus oft nur schwer erkennen, trügen sie nicht charakteristische Zuckerkomponenten auf ihrer Oberfläche. Aber auch Krankheitserreger machen sich solche Erkennungsmoleküle zunutze. Darauf zugeschnittene Wirkstoffe bieten eine vielversprechende Behandlungsmöglichkeit bei Infektionen und Entzündungen.

Im Jahre 1952 machte Aaron Moscona von der Universität Chicago (Illinois) eine merkwürdige Beobachtung: Wenn er die Zellen eines Hühnerembryos durch Inkubation in einer speziellen Enzymlösung und vorsichtiges Schütteln voneinander trennte, lagerten sie sich nach kurzer Zeit wieder zu einem Aggregat zusammen. Und wenn er vereinzelte Leber- und Netzhautzellen mischte, so wanderten letztere in einem solchen Aggregat stets nach innen. Drei Jahre später vereinzelten Philip L. Townes und Johannes Holtfreter von der Universität Rochester (New York) auf ganz ähnliche Weise Zellen von Amphibienembryonen. Diese ordneten sich dann wieder zu Schichten wie in ihrem ursprünglichen Verband.

Diese und viele andere Experimente belegen die ausgeprägte Fähigkeit von Zellen, und zwar sowohl körpereigener wie körperfremder, einander zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten. Spermien beispielsweise können Eizellen der eigenen von denen einer anderen Art unterscheiden: Sie binden sich nur an die richtigen. Gewisse Bakterien heften sich bevorzugt an einen bestimmten Gewebetyp, etwa des Darms, der Harn- oder Atemwege – und das oft nur bei einer bestimmten Spezies. Die Anheftung an ein Wirtsgewebe ist hierbei der entscheidende Schritt zur Infektion.

Somit leuchtet ein, daß die Entschlüsselung der interzellulären Wechselwirkungen für viele Gebiete der Biologie und Medizin von grundlegendem Interesse ist. Wenngleich wir die biochemischen Grundlagen der meisten Zellerkennungsphänomene heute noch nicht genau verstehen, so hat man doch in den letzten zehn Jahren für einige überzeugende Erklärungen gefunden.

Einen gewissen Part spielen dabei zweifellos Proteine, die ja auch in- und außerhalb der Zellen eines Organismus die meisten chemischen Reaktionen vermitteln. Immer mehr deutet jedoch darauf hin, daß die oft schlicht als Zucker bezeichneten Kohlenhydrate vielfach die primären Marker für die Zellerkennung sind (Bild 1). Erkenntnisse über die beteiligten speziellen Zucker werden über kurz oder lang in die Praxis umsetzbar sein – zur Vorbeugung und Behandlung zahlreicher Krankheiten, darunter vielleicht sogar von Krebs.

Zucker voller Vielfalt

Nach allgemein akzeptierter Vorstellung erkennen sich zwei Zellen über komplementäre Strukturen auf ihrer Außenseite: Die betreffende Struktur auf der einen Zelle enthält eine wie auch immer codierte biologische Information, die von der entsprechenden Struktur auf der anderen verstanden werden kann – analog dem Schlüssel-Schloß-Prinzip, das 1897 der deutsche Chemiker und spätere Nobelpreisträger Emil Fischer (1852 bis 1919) formulierte. Er hatte damit ein anschauliches Erklärungsmodell gegeben, warum Enzyme spezifisch ein bestimmtes Substrat umsetzen – eben das passende. Drei Jahre später dehnte Paul Ehrlich (1854 bis 1915) – ein Pionier der Immunologie, der sechs Jahre nach Fischer den Nobelpreis erhielt – es auf die hochspezifischen Reaktionen des Immunsystems aus; Frank Rattray Lillie von der Universität Chicago wandte es 1914 schließlich auf die Erkennung zwischen Ei und Spermium an.

In den zwanziger Jahren war dann die Schlüssel-Schloß-Hypothese zu einer zentralen Theorie der Zellbiologie geworden. Art und Beschaffenheit der beteiligten Moleküle blieben jedoch noch lange ein Rätsel.

Den meisten Biologen schien die Idee weit hergeholt, daß es sich dabei um Kohlenhydrate handeln könnte. Diese große Klasse biologischer Verbindungen umfaßt Moleküle, die – je nachdem, ob sie aus einer, wenigen oder vielen Zuckereinheiten bestehen – als Mono-, Oligo- beziehungsweise Polysaccharide bezeichnet werden. Bis in die späten sechziger Jahre hat man für sie nur zwei Funktionen gesehen: als Energiequelle (insbesondere in Form von Monosacchariden wie Glucose oder von langkettigen Speichermolekülen wie Stärke und Glykogen) und als Stützsubstanz (wie etwa die Polysaccharide Zellulose in Pflanzen und das außerdem stickstoffhaltige Chitin im Außenskelett von Insekten). Proteine und Nucleinsäuren (mit der DNA als Träger der Erbinformation) waren offensichtlich weit vielseitiger; ihnen gegenüber muteten die Kohlenhydrate geradezu als Moleküle zweiter Klasse an. Außerdem wirkten die außerordentlich komplexen Verknüpfungsmöglichkeiten ihrer Bausteine auf Chemiker geradezu abschreckend. Zwei identische Monosaccharide lassen sich bereits theoretisch zu elf verschiedenen Disacchariden koppeln. Und aus wenigen unterschiedlichen Einheiten kann so eine entmutigende Vielfalt verzweigter und unverzweigter Kohlenhydrate hervorgehen (siehe Kasten auf Seite 68): Nur vier verschiedene Einfachzucker ergeben bereits theoretisch 35560 unterschiedliche Tetrasaccharide (allerdings ist nicht jede Kombinationsmöglichkeit erlaubt); vier verschiedene Bausteine von Nucleinsäuren oder Proteinen können hingegen, weil es für sie nur eine Verknüpfungsweise gibt, nicht mehr als 24 Tetranucleotide oder Tetrapeptide bilden.

Dieses Potential struktureller Diversität der Kohlenhydrate ist – so lästig es auch für den Chemiker sein mag – für die Zelle von unschätzbarem Vorteil: Es macht Zuckerpolymere zu unübertroffen effizienten Trägern von Information; sie vermögen weit mehr davon pro Gewichtseinheit zu beinhalten als Nucleinsäuren und Proteine. Monosaccharide können gleichsam Buchstaben in der Schriftsprache der biologischen Spezifität sein. Gebildet werden Kombinationen – sozusagen Kohlenhydrat-Wörter – durch die Wahl der richtigen Einfachzucker, Verknüpfungen und Verzweigungen.

Verkannte Informationsträger

Vereinzelte Berichte, daß Kohlenhydrate Spezifität beinhalten könnten, tauchten relativ früh in der wissenschaftlichen Literatur auf, blieben aber oft unbeachtet. Schon in den fünfziger Jahren gab es mehrere wohl belegte Beispiele: etwa daß in den Organismus injizierte Kohlenhydrate die Bildung dagegengerichteter Antikörper anzuregen vermögen, daß die Blutgruppen A, B, und 0 durch Zuckermoleküle auf der Oberfläche von Blutzellen bestimmt sind und daß das Grippevirus sich über einen Zucker, die Sialinsäure, an rote Blutkörperchen heftet.

Erst mit Beginn der sechziger Jahre kamen Zucker zu ihrem Recht. Was veranlaßte diesen Sinneswandel? Den ersten Anstoß gab die Erkenntnis, daß alle Zellen einen Mantel aus Kohlenhydraten haben. Er besteht zum größten Teil aus Glykoproteinen und -lipiden, also Zuckerseitenketten an Proteinen oder Lipiden (Fetten). Von den Grundstrukturen dieser auch als Glykokonjugate bezeichneten Verbindungen sind mittlerweile einige tausend Varianten bekannt, und fast täglich werden es mehr.

Diese Vielfalt hat ihren Grund: Das Repertoire an Oberflächenstrukturen ändert sich während Entwicklung, Differenzierung oder Erkrankung einer Zelle in charakteristischer Weise. Kohlenhydrate auf Krebszellen beispielsweise unterscheiden sich in Quantität wie auch Qualität von denen auf normalen Zellen.

Der zweite Anstoß kam aus der Erforschung der Lektine: einer Klasse von Proteinen, die sich sehr schnell selektiv und reversibel mit Zuckern verbinden können. Zunächst hatte man angenommen, diese Eiweißstoffe kämen nur in Pflanzen vor; es gibt sie aber bei allen Organismen (siehe „Lektine“ von Hans-Joachim Gabius, Harold Rüdiger und Gerhard Uhlenbruck, Spektrum der Wissenschaft, November 1988, Seite 50). Häufig sitzen sie auf Zellen; in dieser strategisch günstigen Position können sie leicht mit Kohlenhydraten auf benachbarten Zellen reagieren. Und das tun Lektine ausgesprochen spezifisch: Sie unterscheiden nicht nur zwischen verschiedenen Mono-, sondern auch zwischen verschiedenen Oligosacchariden.

Ein Durchbruch in den Untersuchungen der Lektin-Kohlenhydrat-Wechselwirkungen bei der Zellerkennung waren die Arbeiten von G. Gilbert Ashwell von den Nationalen Gesundheitsinstituten der Vereinigten Staaten in Bethesda (Maryland) und von Anatol G. Morell vom Albert-Einstein-College für Medizin in New York. Im Jahre 1968 spalteten die beiden Wissenschaftler enzymatisch ein paar Sialinsäurereste von bestimmten Blutplasma-Glykoproteinen ab und injizierten diese dann Kaninchen. Normalerweise zirkulieren solche Verbindungen eine Weile im Blut der Tiere; die veränderten Glykoproteine verschwanden daraus jedoch sofort. Sie waren, wie Ashwell und Morell feststellten, in der Leber gelandet; das Entfernen der Sialinsäuren hatte in den Molekülen den Zucker Galaktose freigelegt, und dieser hatte sich an ein Lektin der Leberzellen gebunden. Wurden bei den Glykoproteinen außerdem die freigelegten Galaktose-Reste entfernt, nahm ihre Konzentration im Blut wieder so langsam wie ursprünglich ab. Ashwell und Morell schlossen daraus, daß Kohlenhydrat-Seitenketten von Proteinen möglicherweise auch als kennzeichnendes Signal für die Beseitigung aus dem Blut und damit letztlich für den Abbau von Molekülen dienen könnten.

Ebenso wie das Muster der Oberflächen-Kohlenhydrate ändert sich auch das der Lektine im Zuge normaler und pathologischer Veränderungen der Zelle. So stellten Reuben Lotan und Avraham Raz vom Weizmann-Institut in Rehovot (Israel) Anfang der achtziger Jahre fest, daß gewisse Tumorzellen von Mäusen und Menschen ein Oberflächen-Lektin tragen, das auf normalen Zellen nicht vorkommt. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern wiesen sie später nach, daß das Molekül etwas mit der Metastasierung – der Entwicklung von Tochtergeschwülsten – zu tun hat.

Die Rolle von Oberflächen-Kohlehydraten und der sie bindenden Proteine bei der Embryonalentwicklung zeigte sich eindrucksvoll bei Untersuchungen von Senitiroh Hakomori vom Fred-Hutchinson-Zentrum für Krebsforschung in Seattle (Washington) und Ten Feizi vom Zentrum für klinische Forschung im Londoner Bezirk Harrow: Mit den ersten Teilungen eines befruchteten Mäuse-Eies ändert sich das Kohlenhydratmuster auf den entstehenden Embryonalzellen in charakteristischer Weise. Eines dieser Kohlenhydrate ist ein Dreifachzucker, ein Trisaccharid: SSEA-1 (stadium-spezifisches embryonales Antigen), auch Lex (Lewisx) genannt. Es erscheint, wenn sich aus dem noch recht losen Verband von 8 beziehungsweise 16 Zellen ein kompakteres kugelförmiges Aggregat zu formen beginnt.

Hakomoris Gruppe wies dann nach, daß eine freie lösliche Verbindung mit mehreren Untereinheiten desselben Trisaccharids die Kompaktierung verhindert und die Embryogenese stört (sie besetzt die entsprechenden Bindungspartner, maskiert sie sozusagen). Eng verwandte, aber anders strukturierte Kohlenhydrate blieben hingegen wirkungslos. Demnach scheint das normale Lex-Trisaccharid eine wichtige Funktion bei der Kompaktierung zu haben.

Der erste Schritt zur Infektion

Eines der bestuntersuchten Phänomene der Zelladhäsion ist die Anheftung von krankheitserregenden Mikroben an ihre Wirtszellen. Sie wird seit beinahe 20 Jahren erforscht und dient sogar als Modell für andere Formen der kohlenhydrat-vermittelten Zellerkennung.

Krankheitserregende Viren, Bakterien und Einzeller (Protozoen) müssen sich an mindestens eine Gewebeart ihres Wirtes binden können, sonst werden sie vom möglichen Infektionsort durch die Abwehrmechanismen des Organismus entfernt. Mikroorganismen, die zum Beispiel nur auf die Schleimhaut der oberen Atemwege gelangen, werden vom Flimmerepithel mitsamt dem abgesonderten Schleim wieder hinausbefördert, solche in den Harnwegen mit dem Urin ausgeschwemmt.

Die ersten Hinweise auf den Mechanismus bakterieller Adhäsion lieferte J.P. Duguid von der Medizinischen Hochschule des Ninewells-Hospitals in Dundee (Schottland) mit bahnbrechenden Untersuchungen, die er Anfang der fünfziger Jahre begonnen hatte. Er zeigte, daß viele Stämme von Escherichia coli (einem Darmbakterium, das auch andere Gewebe besiedeln kann) und verwandte Bakterienarten an Epithelzellen sowie an roten Blutkörperchen (Erythrocyten) haften bleiben. Dann klumpen die Erythrocyten zusammen. Diese Hämagglutination ist in der Forschung unter anderem noch immer ein einfacher Routinenachweis für die Adhäsion von Mikroben an tierischen Zellen. Duguid versuchte den Prozeß mit einer Vielzahl von Verbindungen zu unterbinden, aber das gelang nur mit dem Monosaccharid Mannose und einigen sehr ähnlichen Zuckern.

Duguid machte auch die wichtige Beobachtung, daß jene Bakterienstämme, die eine mit Mannose zu verhindernde Hämagglutination herbeiführen, lichtmikroskopisch nicht mehr sichtbare fadenförmige Anhängsel auf ihrer Oberfläche tragen. Diese Strukturen – etwa fünf bis zehn Nanometer (millionstel Millimeter) dick und einige hundert lang – nannte er Fimbrien nach dem lateinischen Wort für Fasern und Fransen (Bild 2). Ungefähr zur gleichen Zeit beschrieb auch Charles C. Brinton jr. von der Uni-versität Pittsburgh (Pennsylvanien) diese Strukturen und nannte sie Pili nach dem lateinischen Wort für Haare. Noch heute werden beide Begriffe im weiteren Sinne synonym gebraucht.

Etwa von Beginn der siebziger Jahre an berichtete Ronald J. Gibbons vom Forsyth-Zentrum für Zahnmedizin in Boston (Massachusetts) über die selektive Adhäsion von Bakterien an bestimmte ökologische Nischen der Mundhöhle. So beobachtete er, daß Actinomyces naeslundii auf der Mundschleimhaut von noch zahnlosen Kindern siedelte, aber auch auf Milchzähnen und dem bleibenden Gebiß. Das verwandte Bakterium A. viscosus hingegen tritt erst nach Durchbruch der Milchzähne auf und zieht die Zahnoberfläche der Mundschleimhaut vor. (Diese auch als Strahlenpilze bezeichnete Gattung umfaßt Vertreter der normalen Mundflora sowie Erreger von Aktinomykosen.)

Wie man heute weiß, ist die Zelladhäsion von Bakterien generell gewebespezifisch. So kommen pathogene Stämme von E. coli selten in den oberen Atemwegen vor, zahlreich aber im Harnleiter; sie sind die häufigste Ursache von Harnwegsinfektionen. Dagegen verursachen Streptokokken der Serogruppe A, die in den oberen Atemwegen und auf der Haut siedeln, kaum jemals Harnwegsinfektionen.

Die Adhäsion gelingt Bakterien nicht bei jeder Tierart und nicht einmal bei jedem Individuum derselben Art – Alter, Veranlagung und Gesundheitszustand spielen dabei mit. In den frühen siebziger Jahren untersuchte ein Team um R. Sellwood und Richard A. Gibbons am Forschungsinstitut für Tiererkrankungen in Compton (England) die Infektiosität des Coli-Stammes K88, der bei Ferkeln Durchfall hervorruft. Wie die Arbeitsgruppe feststellte, heften sich K88-Bakterien bei anfälligen Ferkeln an die Oberfläche von Darmzellen, vermögen dies jedoch nicht bei erwachsenen Schweinen oder bei Menschen (für die diese Bakterien nicht infektiös sind). Mutierte Varianten hingegen, die sich nicht an Darmzellen zu binden vermochten, konnten auch keine Ferkel mehr infizieren. Umgekehrt erwiesen sich einige Ferkel als genetisch resistent gegen den normalen K88-Stamm; ihre Darmzellen ließen die Erreger nicht ankern. Man verwandte solche Ferkel für die Weiterzucht und erhielt Schweine-Stämme, die nun gegen den ansteckenden Durchfall gefeit sind.

Der Gonorrhoe-Erreger Neisseria gonorrhoeae ist ein anderes Beispiel für selektive Adhäsion: Er heftet sich an die Schleimhaut der menschlichen Harn- und Geschlechtsorgane, kaum je an Zellen anderer Gewebe, nie aber an die anderer Spezies; Tiere erkranken daher nicht an Gonorrhoe.

Weitere Untersuchungen zur bakteriellen Adhäsion hat insbesondere ein Vorschlag gefördert, den Itzhak Ofek von der Universität Tel Aviv (Israel), David Mirelmann aus unserer Abteilung am Weizmann-Institut und einer von uns (Sharon) 1977 unterbreiteten. Danach sollte die Anheftung über bakterielle Lektine erreicht werden, die sich an komplementäre Zuckerkomponenten auf den Wirtszellen binden. Dies hat sich als generell richtig erwiesen. In vielen Labors ist gezeigt worden, daß Bakterien Lektine produzieren, die spezifisch bestimmte Kohlenhydrate erkennen, und daß sie ohne diese Moleküle den ersten Schritt zur Infektion – eben die Anheftung an ein Wirtsgewebe – nicht vollziehen können.

Wenn auch viel zu erforschen bleibt, so ist doch schon einiges über bakterielle Lektine bekannt. Die bestcharakterisierten sind die Typ-1-Fimbrien von E. coli, die bevorzugt an mannose-haltigen Glykoproteinen ankern. Ferner hat man – vor allem dank Catharina Svanborg-Edén und ihren Mitarbeitern, damals an der Universität Göteborg (Schweden) – inzwischen auch ein detailliertes Bild der P-Fimbrien. Diese binden sich spezifisch an ein für die Blutgruppe P kennzeichnendes Glykolipid, welches das Disaccharid Galabiose enthält (Blutgruppen-Antigene – die bekanntesten sind die der Gruppen A, B und 0 – wurden zwar an Blutzellen entdeckt, kommen aber auch auf anderen Zellen des menschlichen Körpers vor). Weitere Forschungsgruppen wie die von Karl-Anders Karlsson an der Universität Göteborg und von Victor Ginsburg an den amerikanischen Gesundheitsinstituten haben die Spezifitäten der Lektine vieler Bakterienarten und -stämme ermittelt.

Dabei hat sich gezeigt, daß die Mikroorganismen sich nicht unbedingt nur an endständige Zucker der Oberflächenmoleküle binden; manchmal sind es auch weiter innen gelegene. Überdies können sich verschiedene Bakterienformen an verschiedene Teile derselben Kohlenhydrat-Verbindung heften. Wenn nun, was gelegentlich vorkommt, lediglich ein bestimmter Teil eines Oligosaccharids auf einer tierischen Zelle freiliegt, werden dort nur Bakterien einer bestimmten Form haften bleiben, nicht aber die anderen, die es sonst auch könnten. Die bloße Anwesenheit eines Kohlenhydrats an der Zelloberfläche genügt also nicht als Ankerstelle – es muß auch zugänglich und in der richtigen Weise präsentiert sein.

Für die Schlußfolgerung, daß die Bindung von Bakterien an Oberflächenzucker der Wirtszelle die eigentliche Infektion einleitet, gibt es inzwischen zahlreiche stützende Belege. Menschen, denen das Blutgruppen-Antigen P auf ihren Zellen fehlt (übrigens ein seltener Fall), bieten Coli-Bakterien mit P-Fimbrien keine Ankerstellen auf den Zellen ihrer Harnwege; sie sind somit weit weniger anfällig für solche Infektionen als die übrige Bevölkerung. Wenn man aber diesen Menschen Zellen entnimmt und sie mit einem synthetischen galabiose-haltigen Glykolipid überzieht, lagern sich Bakterien an.

Ähnlich liegt der Fall bei den Darmzellen von Ferkeln, die gegen den K88-Stamm von E. coli resistent sind; auch hier fehlt das als Andockstelle dienende Kohlenhydrat. Seine Struktur ist noch nicht genau bekannt. Bei den K88-sensitiven Tieren wird das Molekül nur im Ferkel-Alter gebildet, was erklärt, warum erwachsene Schweine generell von diesem infektiösen Durchfall verschont bleiben.

Ein weiteres interessantes Beispiel bietet der K99-Stamm von E. coli. Er verursacht ebenfalls Durchfallerkrankungen, ist aber weniger wirtsspezifisch als K88 und befällt außer Ferkeln auch Kälber und Lämmer. Die Bakterien heften sich spezifisch an ein ungewöhnliches Glykolipid; es enthält N-Glykoloylneuraminsäure (eine spezielle Variante der Sialinsäure), die an Lactosylceramid gekoppelt ist. Erwartungsgemäß ist dieses Molekül bei Ferkeln, Kälbern und Lämmern zu finden, nicht aber bei ausgewachsenen Schweinen und auch nicht beim Menschen. Stattdessen tragen de-ren Darmzellen N-Acetylneuraminsäure (Sialinsäure im engeren Sinne); daran können die Bakterien sich jedoch nicht binden. Ein kleiner Unterschied in einem Molekül – eine Acetyl- statt einer Glykoloylgruppe – bestimmt also deren Wirtsspektrum.

Fast noch subtiler ist die Spezifität zweier Fimbrien-Lektine von Coli-Stämmen, die Harnwegsinfektionen bei Menschen beziehungsweise bei Hunden hervorrufen. Beide Moleküle erkennen Galabiose, dennoch bindet das eine nur an Epithelzellen der menschlichen Harnwege, das andere nur an die des Hundes. Der Grund ist, daß die galabiose-tragenden Glykolipide auf der Zelloberfläche jeweils in ein wenig anderer Weise präsentiert werden.

Zucker und Lektine als Medikamente

Weil bei einer Infektion die Anheftung an die Wirtszelle ein so kritischer Schritt ist, erwägt man ernstlich, Zucker zur Vorbeugung oder zur Behandlung einzusetzen. Geeignete Moleküle könnten als eine Art molekularer Köder pathogene Bakterien abfangen, bevor diese ihr Wirtsgewebe erreichen (Bild 3). Besonderes Interesse gilt dabei den Harnwegsinfektionen, stehen sie doch in ihrer Häufigkeit nach den Atemwegsinfektionen an zweiter Stelle (Bild 4).

Im Jahre 1979 begannen wir in Zusammenarbeit mit Ofek und Mirelmann sowie Moshe Aronson von der Universität Tel Aviv mit derartigen Untersuchungen. So beimpften wir die Harnblase von Mäusen mit einem mannose-spezifischen Coli-Stamm, und ein Teil der Tiere bekam zusätzlich Methyl-alpha-mannosid in die Blase gespritzt. Dieser Zucker, der im Reagenzglas die Adhäsion von Bakterien an Epithelzellen beeinträchtigt, verminderte tatsächlich auch die Ansiedlung von Bakterien im Harnweg.

Von Catharina Svanborg-Edén gibt es analoge Experimente mit Coli-Stämmen, die mit P-Fimbrien ausgestattet sind und eine Niereninfektion hervorrufen. Wenn sie die übertragenen Bakterien mit Globotetraose vorbehandelte, einem Zucker aus dem Oberflächen-Glykolipid der Nierenzellen, konnten sich die Erreger nicht so lange in den Nieren halten wie unbehandelte. Und James A. Roberts von der Tulane-Universität von Louisiana in New Orleans stellte bei Affen fest, daß sich der Beginn von Harnwegsinfektionen deutlich verzögerte, wenn er P-Fimbrien-Stämme mit einem Zucker ähnlich dem Disaccharid Galabiose vorbehandelte.

Auch Glykopeptide sind imstande, die Anheftung von Bakterien an Wirtsgewebe zu beeinträchtigen. Wie Michelle Mouricout und ihre Mitarbeiter von der Universität Limoges (Frankreich) 1990 nachwiesen, können solche aus dem Blutplasma von Kühen als Injektion neugeborene Kälber vor normalerweise letalen Dosen von E. coli schützen. Diese Glykopeptide enthalten Zucker, die von den Bakterien bevorzugt gebunden werden, was offenbar viele an der Adhäsion an Darmzellen hindert.

Um diesen Prozeß zu stören, braucht man jedoch nicht unbedingt ein Kohlenhydrat – jede andere Substanz, die sich kompetitiv entweder an das bakterielle Lektin oder an das Oberflächen-Kohlenhydrat der Wirtszellen zu binden vermag, tut es auch (kompetitiv deshalb, weil sie mit den natürlichen Bindungspartnern um den Platz am Molekül konkurrieren muß). Edwin H. Beachey und seine Kollegen am Medizinischen Zentrum der amerikanischen Veteranen-Behörde und an der Universität von Tennessee in Memphis haben beispielsweise einen Antikörper gegen Mannose verwendet, um bei Mäusen die Infektion mit bestimmten mannose-spezifischen Coli-Bakterien zu verhindern. Durch die Bindung an Mannose auf der Zelloberfläche blockieren diese Abwehrmoleküle die Andockstelle für Bakterien.

Inwieweit anti-adhäsive Therapien auch bei mikrobiellen, darunter viralen Infektionen des Menschen anwendbar sind, wird derzeit eingehend erforscht. Mit genaueren Kenntnissen über die Strukturen von Oberflächenzuckern auf Wirtszellen und von Lektinen auf Bakterien sollten sich noch bessere Adhäsion-Inhibitoren finden lassen.

Eines jedoch ist jetzt schon klar: Da verschiedene Erreger, ja selbst Bakterien ein und desselben Stammes eine breite Palette von Kohlenhydraten spezifisch binden können, wird man einen ganzen Cocktail von Inhibitoren benötigen, um Infektionskrankheiten vorzubeugen oder sie zu behandeln.

Wanderung weißer Blutkörperchen

Durch Kohlenhydrate vermittelte Wechselwirkungen zwischen Zellen spielen auch im normalen körperlichen Geschehen eine wichtige Rolle; für ein gesundes Funktionieren des Immunsystems beispielsweise sind sie unerläßlich. Die wichtigsten Abwehrzellen stellt die Gruppe weißer Blutköperchen mit den Lymphocyten, Monocyten und neutrophilen Granulocyten, die in konzentrierter Aktion Bakterien und andere Eindringlinge eliminieren oder in verletztem Gewebe eine Entzündungsreaktion auslösen. Alle diese Zellen zirkulieren im Blut; ihre Hauptaufgaben aber erfüllen sie außerhalb des Blutgefäßsystems – sie müssen also die Gefäßwände passieren können.

Nach den bisherigen Untersuchungen zeichnet sich ab, daß das Endothel – die innere Auskleidung der Blutgefäße – weiße Blutkörperchen regelrecht aktiv aus dem Blut angelt und zu ihrem Bestimmungsort leitet. Dazu bedarf es einer sorgsam geregelten Erkennung zwischen den zirkulierenden weißen Blutkörperchen und den Zellen des Endothels. Sie scheint über eine Familie strukturverwandter Lektine abzulaufen.

Da dieses Forschungsgebiet noch recht neu ist und verschiedene Laboratorien oft gleichzeitig dasselbe Adhäsionsmolekül identifizieren, aber anders benennen, war die Nomenklatur bis vor kurzem noch ziemlich uneinheitlich. Inzwischen hat man sich auf die meistgebrauchte generelle Bezeichnung – Selektine – geeinigt, weil diese Moleküle selektive Zellkontakte vermitteln. Eine andere gängige Bezeichnung war LEC-CAMs, das englische Kürzel für Leukocyten- beziehungsweise Lektin-Zelladhäsionsmoleküle.

Die Selektine sind höchst unsymmetrische, zusammengesetzte Oberflächenproteine mit ungewöhnlicher Mosaikarchitektur. Sie haben drei Funktionsdomänen: Die innere verankert das Molekül in der Zellmembran; die mittlere, noch weiter unterteilte Domäne macht – als Stamm quasi – den größten Teil des Moleküls aus, und die äußere ähnelt in ihrer Struktur calcium-abhängigen tierischen Lektinen. Die Anheftung von Kohlenhydratverbindungen an eben diese dritte Domäne ist der entscheiden- de Schritt bei der selektin-vermittelten Wechselwirkung zwischen Zellen.

Vor etwa zehn Jahren legten Eugene C. Butcher und Irving L. Weissman von der Universität Stanford (Kalifornien) den Grundstein zu unserem heutigen Verständnis, wie die – damals noch unbekannten – Selektine die Wanderung von Lymphocyten steuern. Diese weißen Blutkörperchen patrouillieren durch den Organismus, immer auf der Suche nach immunologisch auffälligen Strukturen, insbesondere den Antigenen von Bakterien, Viren und anderen körperfremden Stoffen. Dazu verlassen sie das Blutgefäßsystem und durchwandern sekundäre lymphatische Organe wie die Mandeln, die Peyerschen Plaques am Ende des Dünndarms oder die Lymphknoten; verschiedene Lymphocyten suchen dabei selektiv jeweils bestimmte Organe auf (Bilder 5 und 6). Für den Austritt aus der Blutbahn müssen sie sich an die Wandung feiner, lichtmikroskopisch nicht mehr sichtbarer venöser Gefäße in den lymphatischen Organen heften; diese Venolen mit Durchmessern von weniger als 30 Nanometern (millionstel Millimetern) zeichnet ein hohes Endothel aus.

Mit einem von anderen Wissenschaftlern entwickelten Verfahren beobachteten Butcher und Weissman bei Mäuse-Lymphocyten, daß die Fähigkeit zum Auffinden der jeweiligen lymphatischen Zielorgane, der spezifische Heimatsinn sozusagen, auf der selektiven Wechselwirkung mit den Hochendothel-Venolen in den entsprechenden Organen beruhte. Die beiden Forscher stellten daraufhin einen monoklonalen Antikörper her, der sich nur an solche Mäuse-Lymphocyten anlagerte, die zu den peripheren Lymphknoten wanderten. Wie die Vorprüfung an Schnitten verschiedener Gewebe ergab, konnten sich die so behandelten Zellen nicht mehr an die Hochendothel-Venolen ihrer Ziele heften, durchaus aber an die anderer lymphatischer Organe. Im lebenden Organismus verhinderte der unter dem Kürzel MEL-14 geführte Antikörper dann tatsächlich die Einwanderung von Lymphocyten in die peripheren Lymphknoten: Er band sich, wie Butcher und Weissman nachwiesen, an ein spezielles Glykoprotein auf der Lymphocytenmembran, dem sie das Kürzel gp90MEL gaben. Heute ist es unter dem Namen L-Selektin (für Lymphocyten) bekannt. Man spricht auch von Heimfinde-Rezeptor; in der Fachliteratur wird er – nach dem englischen Begriff dafür – als Homing-Rezeptor bezeichnet.

Werden Hochendothel-Venolen mit einer L-Selektin-Lösung vorbehandelt, so können sich keine Lymphocyten mehr anlagern, weil sämtliche Anlegestellen des Endothels bereits mit Selektin-Molekülen besetzt sind. Die Anheftung unterbleibt auch, wie Steven D. Rosen von der Universität von Kalifornien in San Francisco nachwies, wenn man umgekehrt die Lymphocyten vorbehandelt, und zwar mit bestimmten kleinen Zuckern oder größeren Polysacchariden; dabei besetzen die Zucker das zellständige L-Selektin und sättigen es ab.

Unabhänig voneinander konnten 1989 schließlich Weissman sowie Laurence A. Lasky von der Firma Genentech in San Francisco zusammen mit Rosen schlüssig belegen, daß der Homing-Rezeptor die Adhäsion von Lymphocyten an Endothelzellen vermittelt. Das Gen für das endotheliale Glykoprotein, an das dieser sich bindet, ist vor kurzem kloniert worden, die präzise Zuckerstruktur der Kohlenhydrat-Komponente aber bislang noch nicht geklärt.

Außer dem Homing-Rezeptor sind zwei weitere Selektine bekannt. Anders als er kommen sie hauptsächlich auf Endothelzellen vor, aber nur dann, wenn diese gerade aktiv Leukocyten anlocken. Eines der beiden Moleküle, das E-Selektin (früher ELAM-1), hat Michael P. Belvilacqua von der Medizinischen Fakultät der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) 1987 entdeckt. Das andere, das P-Selektin (früher GMP-140 oder PADGEM), haben einige Jahre später unabhängig voneinander Roger P. McEver von der Oklahoma-Stiftung für Medizinische Forschung sowie Bruce und Barbara Furie von der Medizinischen Hochschule der Tufts-Universität in Medford (Massachusetts) beschrieben.

Inzwischen hat man recht genaue Vorstellungen davon, wie Gewebe mit ihren Selektinen weiße Blutkörperchen dorthin lenken, wo sie gebraucht werden. Wenn ein Gewebe infiziert ist, schüttet es Cytokine wie Interleukin1 und den Tumor-Nekrose-Faktor aus. Diese Proteine regen die Zellen der Hochendothel-Venolen an, P- und E-Selektine auf ihrer Oberfläche auszuprägen. Die wie Angelhaken in den Blutstrom ragenden Moleküle fangen zirkulierende weiße Blutkörperchen ab, deren Kohlenhydratmantel komplementäre Strukturen enthält. Einmal an die Gefäßwand gebunden, kann ein solcher Leukocyt sich durch die Lücken zwischen benachbarten Endothelzellen quetschen, um so die Blutbahn zu verlassen. Die beiden endothelialen Selektine erscheinen zu verschiedenen Zeiten auf der Zelloberfläche und rekrutieren auch verschiedene Arten weißer Blutkörperchen. P-Selektin ist in Endothelzellen stets vorrätig und damit innerhalb von Minuten nach Infektionsbeginn auf der Oberfläche verfügbar. Es kann also Leukocyten anziehen, die an den ersten Phasen der Abwehrreaktion beteiligt sind. E-Selektin hingegen wird von den Endothelzellen erst bei Bedarf hergestellt. Es scheint denn auch erst ungefähr vier Stunden nach Infektionsbeginn den Höhepunkt seiner Konzentration und damit Aktion zu erreichen; danach verschwindet es allmählich wieder.

Unterbinden unerwünschter Wanderung

Der Mechanismus, der weißen Blutkörperchen die endotheliale Barriere zu überwinden hilft, ist zwar zur Bekämpfung von Infektionen unerläßlich, kann aber fehlgehen und dann Schädigungen verursachen: Wenn die Abwehrzellen sich in den falschen Geweben sammeln, sind Zerstörungen, Schwellungen und Schmerzen die Folge.

Die Entzündung bei akuter Polyarthritis zum Beispiel ist darauf zurückzuführen, daß weiße Blutkörperchen in die Gelenke gelangen und dort proteinspaltende Enzyme, Sauerstoffradikale und andere toxisch wirkende Faktoren ausschütten. Ein weiteres Beispiel sind Gewebeschäden, wie sie nach einer zeitweiligen Unterbrechung der Blutzufuhr – bei einem Herzinfarkt etwa – auftreten; sobald das Blut wieder zu fließen beginnt, treten die weißen Blutkörperchen in das durch Sauerstoffmangel geschädigte Gewebe über und zerstören es völlig.

Forscher, Mediziner und Pharma-Unternehmen haben erhebliches Interesse an der Entwicklung von Medikamenten, die solch unerwünschte Entzündungsreaktionen verhindern könnten. Theoretisch sollte jeder Wirkstoff entzündungshemmend sein, der die Adhäsion von weißen Blutkörperchen am Endothel und damit den Austritt aus der Blutbahn behindert. Entscheidend wird es sein, die Gestalt der komplementären Strukturen aufzuklären: der Bindungsstellen der Selektin-Moleküle einerseits und der dazu passenden Kohlenhydrate andererseits. Dabei macht man derzeit enorme Fortschritte. Parallel dazu versucht man intensiv, Kohlenhydrat-Inhibitoren für das P- und das E-Selektin herzustellen.

Für eine sinnvolle anti-adhäsive Therapie müßten die Medikamente freilich scheinbar Unvereinbares leisten: Einerseits sollten sie weiße Blutkörperchen daran hindern, den Blutstrom an den falschen Stellen zu verlassen, andererseits müssen sie die Zellen weiterhin dorthin gelangen lassen, wo sie gebraucht werden. Beides ist möglicherweise erreichbar, denn Gewebe unterscheiden sich in der Palette ihrer Adhäsionsmoleküle und ihrer Andockstellen für andere Moleküle. Somit ist beispielsweise denkbar, daß ein Medikament weiße Blutkörperchen zwar hindert, in die Gelenke zu wandern, nicht aber in andere Bereiche des Körpers.

Metastasierung

Zelladhäsionsmoleküle könnten auch bei anderen Krankheitsprozessen bedeutsam sein, etwa bei der Abwanderung von Krebszellen aus dem Primärtumor und ihrer Ausbreitung im Körper (Bild 7). Jenes Kohlenhydrat zum Beispiel, das von E-Selektin erkannt wird, kommt auf verschiedenen Tumorzellen – darunter bösartigen – vor. Zumindest ein Typ von menschlichen Tumorzellen heftet sich, wie Bevelacqua kürzlich berichtete, spezifisch an E-Selektin-Moleküle auf aktiviertem Endothel. Vielleicht machen sich also gewisse maligne Zellen die in die Immunabwehr involvierten Adhäsionsmoleküle zunutze, um ihre eigene Metastasierungsfähigkeit zu fördern; dann könnten eventuell anti-adhäsive Medikamente zugleich anti-metastatisch wirken.

Kürzlich haben Hakomori und seine Mitarbeiter bei stark metastasierenden Melanomzellen von Mäusen ein Lektin blockiert, das den Milchzucker Lactose erkennt. Wurden die Melanomzellen vor der Injektion in gesunde Tiere mit lactose-haltigen Verbindungen vorbehandelt, breiteten sie sich nur noch halb so stark aus wie unbehandelte Zellen. Allerdings gibt es im Organismus viele andere Lektine, die durch Lactose gehemmt werden, so daß eine systemische Anwendung nicht in Frage kommt.

Die Bedeutung von Kohlenhydraten bei der Zellerkennung ist zweifelsohne sehr groß. Doch gibt es andere Erkennungsmechanismen, und zwar in der „Peptidsprache“. Dabei werden kurze Abfolgen von Aminosäuren – Peptide – erkannt. Manche Anheftungsprozesse laufen zum Beispiel über sogenannte Integrine; das sind Oberflächenproteine, die passende Peptide erkennen. Mit mehr als einem Bindungssystem wird eine Zelle eben auch flexibler in ihren Interaktionen.

Die biomedizinische Forschung bemüht sich weiterhin um ein besseres Verständnis von Zuckerstrukturen auf Zelloberflächen und den Spezifitäten passender Lektine. Je mehr man darüber weiß, desto eher wird man imstande sein, hochselektive wirkungsvolle Hemmstoffe für unerwünschte zelluläre Wechselwirkungen zu entwickeln.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1993, Seite 66
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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