Kreispackungen
Zu einer Konstruktion des antiken Geometers Apollonios von Perge gibt es überraschende Neuigkeiten – mehr als 2000 Jahre danach.
Unendlich viele Kreise sind dicht an dicht in einen großen umfassenden Kreis eingebettet – zumindest theoretisch. Irgendwann hat zwar das Programm, das diese Bilder gezeichnet hat, seine Arbeit eingestellt, und wer genau hinschaut, sieht sogar, dass ein paar Kreise fehlen. Aber im Prinzip passt in jeden Zwickel zwischen drei einander berührenden Kreisen noch ein vierter. Der lässt drei noch kleinere Zwickel unbedeckt, und so weiter … Wie ist eine solche Kreispackung konstruiert?
Zwei Kreise beliebiger Größe so in die Ebene zu setzen, dass sie genau einen Punkt – und in diesem Punkt eine Tangente – gemeinsam haben, ist kein Problem. Auch die Größe des dritten Kreises, der die beiden berührt, ist noch frei wählbar.
"Berühren" können sich zwei Kreise von außen wie von innen. Der dritte Kreis darf die beiden ersten auch umschließen oder von zwei Kreisen der eine gänzlich im anderen stecken, sodass der innere Kreis nur in einem Punkt am Umfang des äußeren anliegt. Dass allerdings drei Kreise an einem einzigen Punkt zusammengeklemmt sind, gilt als "langweiliger" Fall, der hier nicht weiter betrachtet werden soll.
Drei Kreise beliebiger Größe kann man stets so anordnen, dass jeder jeden berührt, häufig sogar auf mehrere verschiedene Weisen. Aber der vierte! Der ist in seinen Möglichkeiten stark eingeschränkt. Man werfe ein kreisförmiges Lasso über drei einander von außen berührende Kreise und ziehe es stramm – wobei es streng kreisförmig bleiben muss. Oder man setze einen kreisförmigen Luftballon in den Zwickel zwischen den drei Kreisen und blase ihn auf, bis er überall anstößt.
Irgendwie ist einem klar, dass dieses Verfahren stets funktioniert und zu einem eindeutigen Ergebnis führt. Aber für einen echten Geometer ist das ungefähr wie Spielen im Dreck. Existenz und Eindeutigkeit aus der physikalischen Anschauung entnehmen, Approximieren, am Ende noch Grenzwerte bilden – igitt! Nach dem klassischen griechischen Reinheitsgebot sind für die Konstruktion des vierten Kreises ausschließlich Zirkel und Lineal zu verwenden.
Es geht mit Zirkel und Lineal, wenn auch nicht ganz einfach. Apollonios von Perge (um 262-um 190 vor Christus) hat die Lösung des Problems ausgearbeitet, das heute apollonisches Berührungsproblem heißt: zu drei gegebenen Kreisen einen vierten zu finden, der alle drei berührt. Das Problem hat im Allgemeinen acht Lösungen; wenn aber die drei Kreise sich bereits berühren, sind es nur zwei. Falls einer der drei gegebenen Kreise die anderen umschließt, entstehen zwei Zwickel, die jeder mit einem Kreis gefüllt werden können; im anderen Fall sind die beiden Lösungen, wie oben beschrieben, ein äußerer und ein innerer Kreis.
Im 17. Jahrhundert schuf René Descartes (1596-1650) die Koordinatengeometrie: Aus Punkten in der Ebene wurden Paare reeller Zahlen, und jeder Konstruktionsschritt mit Zirkel und Lineal lief nunmehr auf die Lösung einer linearen (Lineal) oder quadratischen Gleichung (Zirkel) hinaus. Die beiden Lösungen des apollonischen Problems bestehen aus jeweils drei Zahlen,die den gesuchten Kreis vollständig charakterisieren: eine für den Radius und zwei für die Koordinaten des Mittelpunkts.
Die Gleichungen, die zu einer geometrischen Konstruktion gehören, sind im Allgemeinen nicht besonders ansehnlich. Aber für das apollonische Berührungsproblem fand Descartes eine hübsche Formulierung, mit einem Trick: Anstelle der Kreisradien selbst betrachtete er deren Kehrwerte, die so genannten Krümmungen. Wenn b1, b2, b3 und b4 die Krümmungen von vier Kreisen sind, deren jeder jeden berührt, dann gilt
Diese Formel gilt für innen wie außen liegende Kreise gleichermaßen. Nur ist die Krümmung des alle umschließenden Kreises mit dem negativen Vorzeichen zu nehmen. Einer oder zwei der vier Werte dürfen null sein; ein Kreis mit der Krümmung null ist eine Gerade.
In späteren Jahrhunderten ist die Descartes’sche Kreisgleichung mehrfach von anderen Mathematikern wiederentdeckt und neu bewiesen worden. Frederick Soddy (1877-1956), im Hauptberuf Chemiker und 1921 mit dem Nobelpreis für die Entdeckung der Isotope geehrt, fand 1936 eine Verallgemeinerung von Kreisen auf Sphären (Hohlkugeln) in drei Dimensionen (Spektrum der Wissenschaft 07/1998, S. 80), und ein Jahr später konnte Thorold Gossett zeigen, dass ein analoger Satz auch im n-dimensionalen Raum gilt.
Sphärenküsse
Bei Kugeln hat es sich eingebürgert, von "küssen" statt von "berühren" zu sprechen. Obendrein mag die Entdeckung, dass im n-dimensionalen Raum jede von n+2 Sphären alle n+1 anderen zugleich küssen kann, bei beiden Forschern romantische Gefühle ausgelöst haben; jedenfalls haben beide Forscher ihre Entdeckungen in der Zeitschrift "Nature" in Gedichtform veröffentlicht.
Damit konnte das Feld als abgegrast gelten. Niemand hätte gedacht, dass eine Formel von der klassischen Schönheit der Descartes’schen Kreisgleichung noch der Entdeckung harrte. Aber es gibt sie. Allan R. Wilks von den AT&T-Laboratorien in Florham Park (New Jersey) ist durch Zufall auf sie gestoßen. Zusammen mit ihm haben seine Kollegen Ronald L. Graham, Jeffrey C. Lagarias und Colin L. Mallows sowie Catherine H. Yan von der Texas A&M University die Entdeckung zu einer großen Theorie ausgearbeitet, die inzwischen weit in andere Gebiete der Mathematik wie Zahlentheorie und Gruppentheorie hineinreicht.
Die neue Formel leistet für die Koordinaten der Kreismittelpunkte dasselbe wie die Descartes’sche Formel für die Krümmungen. Sie verknüpft sie zu einer einzigen, quadratischen Gleichung, in der sie alle vier gleichberechtigt vorkommen. Dabei sind die Kreismittelpunkte z1, z2, z3 und z4 als komplexe Zahlen aufzufassen.
Eine komplexe Zahl ist zunächst nur ein Paar gewöhnlicher (reeller) Zahlen, wie die Koordinaten eines Punktes in der Ebene. Deswegen werden auch die komplexen Zahlen mit den Punkten der Ebene identifiziert. Die x-Achse des klassischen Koordinatensystems entspricht den reellen Zahlen und die y-Achse den "imaginären Zahlen", das heißt den Vielfachen der Wurzel aus -1, die auch miti bezeichnet wird. Man rechnet mit den komplexen Zahlen formal genauso wie mit den reellen, muss sich allerdings gelegentlich daran erinnern, dass i2=-1 ist.
Wenn drei der vier Kreise bekannt sind, dann sind sowohl die klassische als auch die erweiterte Descartes’sche Kreisformel quadratische Gleichungen für die Daten (Krümmung und Mittelpunkt) des vierten Kreises. Zu drei vorhandenen Kreisen ist also ein vierter, apollonischer Kreis mit mäßiger Mühe auszurechnen. Genauer gesagt: zwei vierte Kreise, denn eine quadratische Gleichung hat im Allgemeinen zwei Lösungen.
Es kommt noch schöner. Wenn man schon vier apollonische Kreise (ein "apollonisches Quadrupel") hat, kann man einen beliebigen von ihnen genauer in Augenschein nehmen (und die drei anderen für den Moment als festgelegt ansehen). Er ist dann die eine Lösung einer quadratischen Gleichung, und die andere Lösung berührt ebenfalls die drei festgelegten Kreise. Nun gilt allgemein: Wenn man eine Lösung einer quadratischen Gleichung hat, dann ist die andere nicht mehr schwer. In der berüchtigten "Mitternachtsformel", die man in der Schule für die Lösung einer quadratischen Gleichung lernt, muss man nur das Vorzeichen vor der Wurzel umdrehen; es gibt andere Berechnungsverfahren, die einem ebenfalls das Wurzelziehen ersparen.
Das heißt: Hat man erst ein apollonisches Quadrupel, dann kann man daraus durch relativ einfache Rechenschritte vier weitere machen, die sich von dem ursprünglichen durch jeweils genau einen Kreis unterscheiden: Man ersetzt jeweils einen Kreis durch seinen Kollegen vom anderen Vorzeichen. Aus jedem neuen Quadrupel macht man wieder drei neue (das vierte führt auf das Vorgängerquadrupel zurück), und so weiter. Mit jedem Rechenschritt verdreifacht sich die Anzahl der Kreise. Dabei werden die verbleibenden Zwickel zwar immer mehr, in ihrer Gesamtfläche aber verschwindend gering.
Spiegelkabinett mit Kreisspiegeln
Wilks und seine Kollegen entdeckten noch mehr: Wenn die Krümmungen des Ur-Quadrupels ganze Zahlen sind, dann gilt das für sämtliche daraus entstehenden Quadrupel. Und nicht nur das: Auch die Koordinaten der Mittelpunkte haben eine besonders einfache Form. Sie sind zwar nicht selbst ganzzahlig – wie sollten auch sonst unendlich viele Kreise in einen großen Kreis passen? –, aber das Produkt aus Krümmung und Mittelpunktskoordinaten ist jeweils eine ganze Zahl. Das hängt damit zusammen, dass man die zweite Lösung einer quadratischen Gleichung mit Hilfe der ersten einfach berechnen kann, ist aber deswegen keineswegs selbstverständlich. Die Frage, welche Quadrupel ganzer Zahlen überhaupt die Descartes’sche Kreisgleichung erfüllen und deshalb als Ur-Quadrupel dienen können, führt in ungeahnte Tiefen der Zahlentheorie.
Das Verfahren, das aus dem einen vierten Kreis den anderen vierten Kreis macht, ist eine Abbildung ("Funktion") im mathematischen Sinne des Wortes, nämlich eine Vorschrift mit eindeutigem Ergebnis, die auf jeden beliebigen und nicht nur auf diesen speziellen Kreis anwendbar ist. Darüber hinaus ist es sogar im geometrischen Sinne eine Abbildung, und zwar eine so genannte Spiegelung am Kreis. Diese auch Inversion genannte Transformation kehrt das Innere eines bestimmten Kreises zuäußerst und umgekehrt. Dabei wird ein Kreis wieder in einen Kreis verwandelt, es sei denn, er ginge durch den Mittelpunkt des Inversionskreises. In diesem Fall wird er zu einer Geraden, und umgekehrt. Zweimal eine Inversion an demselben Kreis führt jeden Punkt auf sich selbst zurück: Die Inversion ist, wie die gewöhnliche Spiegelung, ihre eigene Umkehrabbildung.
Der Inversionskreis für unsere Abbildung ist derjenige eindeutig bestimmte Kreis, der auf den drei festen Kreisen senkrecht steht. Ein Urquadrupel definiert also vier verschiedene Inversionen, denn es gibt vier Möglichkeiten, aus den vier Urkreisen drei auszuwählen. Wendet man nun auf einen Kreis des Urquadrupels (oder einen beliebigen Kreis der apollonischen Packung) diese vier Inversionen in beliebiger Folge an, landet man bei einem anderen Kreis der Packung. Zweimal unmittelbar hintereinander dieselbe Inversion anzuwenden wäre al-lerdings Zeitverschwendung, weil sie dem Nichtstun gleichkäme. Auf diesem Wege kann man systematisch alle Kreise der Packung erzeugen – ein (Kreis-)Spiegelkabinett mit unendlichen vielen Spiegelbildern auf begrenztem Raum! Alle Kombinationen der vier Inversionen bilden eine (sehr interessante) Gruppe im mathematischen Sinne. Das gilt auch dann, wenn die Krümmungen des Urquadrupels nicht ganzzahlig sind.
Mehrere Abbildungen in immer wieder verschiedenen Folgen auf ein Ausgangsobjekt angewendet – das ist ein beliebtes Rezept zur Erzeugung von Fraktalen, das unter dem Namen "iterierte Funktionensysteme" bekannt geworden ist. In der Tat sind apollonische Packungen Fraktale, auch wenn ihnen eine von deren Lieblingseigenschaften fehlt, nämlich die Selbstähnlichkeit.
Die Mathematiker haben auch nicht versäumt, die Menge zu studieren, die übrig bleibt, wenn man all die unendlich vielen Kreise wegnimmt. Ihre Fläche ist null, aber ihre Länge – man kann theoretisch alle Kreisränder zeichnen, ohne den Stift abzusetzen – ist unendlich, und ihre Dimension liegt zwischen 1 und 2: mehr als eine Linie, weniger als eine Fläche – gebrochen eben, wie der Name "Fraktal" sagt. Die neuesten Schätzungen liegen bei 1,30568.
Literaturhinweise
Selbstinverse Fraktale, apollonische Netze und Seife. Von Benoît Mandelbrot. Kapitel 18 in "Die Fraktale Geometrie der Natur", Birkhäuser, Basel 1987.
Circle Game. Von Ivars Peterson in: Science News, Bd. 159, S. 254, 21. April 2001.
Beyond the Descartes Circle Theorem. Von Jeffrey C. Lagarias, Colin L. Mallows und Allan R. Wilks, 2001. Online über www.arxiv.org: math.MG/0101066
Apollonian Circle Packings. Vier Preprints mit verschiedenen Untertiteln von Ronald L. Graham et al., 2001. Online über www.arxiv.org: math.NT/0009113; math. MG/0010298; math.MG/0010302; math. MG/0010324.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2002, Seite 116
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