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Artenschutz: Kultur bei Schimpansen

Die Forschungsarbeiten von Jane Goodall tragen Früchte: Wissenschaftler plädieren dafür, Menschenaffen auf der Grundlage von Respekt, Recht und Würde zu schützen.


Ja, was ist eigentlich "Kultur" beim Menschen? Ein Blick in die Literatur verrät: Die Wissenschaft ist sich da nicht einig. Mehr als ein Dutzend verschiedene Definitionen lassen sich im naturwissenschaftlichen Kontext aufzählen. Ist es Werkzeuggebrauch und Sprache, die Erfindung der Schrift? Ist es die Bearbeitung von Gegenständen, deren ästhetische Veränderung und Zweckentfremdung – die beschauliche Kontemplation? Oder ist es die Fähigkeit, sich Erkenntnisse und Verhalten durch soziales Lernen und kognitive Beobachtung anzueignen? Legen wir letztere Definition zu Grunde, dann müsste jedes Lebewesen mit diesen Eigenschaften kulturfähig sein – also auch Schimpansen, Delfine, Wale, Vögel und andere Tiere. Was also unterscheidet Mensch und Tier?

In den frühen 1960er Jahren berichtete die junge Schimpansenforscherin Jane Goodall in der US-Zeitschrift "National Geographic" über mehrere Persönlichkeiten: David Graybeard, Faben, Fifi, Flo und Goliath. Sie stellte deren Freunde und Familien vor, gewährte Einblicke in Familienstreitigkeiten und beschrieb emotionale Regungen wie Freude und Tränen. Auf einmal erschienen diese Schimpansen nicht mehr als Tiere, sondern als Lebewesen mit Gefühlen und mit Würde. Sie verfügten über ein großes Repertoire verschiedenster Laute (kann man es wohl "Sprache" nennen?), führten "Kriege", benutzten Heilpflanzen und waren – in Ausnahmesituationen – sogar kannibalisch. Dass auch Werkzeugherstellung und -gebrauch nicht allein eine menschliche Fähigkeit ist, hatte Goodall erkannt, als sie beobachtete, wie Schimpansen mithilfe eines zuvor entsprechend präparierten Zweiges oder Grashalms in einem Termitenbau stocherten, um dann die daran krabbelnden Termiten abzulecken.

"Culture in chimpanzees" betitelten denn auch neun namhafte Schimpansenforscher einen Artikel, der die Ergebnisse von sieben Forschungsprojekten beschreibt ("Nature", 17. Juni 1999). Die Autorengruppe unter Federführung von Andrew Whiten von der Universität St. Andrews in Schottland fasst hierin insgesamt 151 Jahre Feldstudium an Schimpansen zusammen. Allein die Mitautorin Jane Goodall hat hierzu 38 Jahre beigetragen. In der kürzlich erschienenen "Encyclopedia of Evolution" (Oxford University Press, 2002) geht sie auf die Kernaussagen des "Nature"-Artikels ein und erweitert diese um eine umfassende Diskussion des Begriffs "Kultur".

Das Verhalten von Schimpansen ist mittlerweile so gut untersucht, dass auch die Unterschiede erfasst sind, die in den einzelnen Populationen trotz ähnlicher Umweltbedingungen auftreten. So konnten 39 erlernte Verhaltensmuster ausgemacht werden, die je nach Population ganz unterschiedlich ausgeprägt sein können. Ob und wie Nüsse geknackt, Termiten "gefischt" oder ausgegraben werden, Körperpflege betrieben wird und Begattungsrituale ablaufen, scheint rein kulturell begründet zu sein. Es gibt also offenbar unterschiedliche "Traditionen" in den einzelnen Gesellschaftsgruppen der Schimpansen. Und dies betrifft eine Vielzahl von Verhaltensmustern, wie die Forscher in der gemeinsamen Stellungnahme in "Nature" konstatieren.

Schimpansen sind enorm lernfähig: In Gefangenschaft können sie menschliche Zeichensprache wie zum Beispiel ASL (American Sign Language) erlernen und diese an ihre Kinder weitergeben. So wie wir Menschen schützen sich Schimpansen vor Krankheit und Vergiftung – etwa durch Auswahl bestimmter Heilpflanzen oder durch Ausgraben und Essen spezieller Tonerden. Das sind erworbene Kenntnisse, die auch an andere Gruppenmitglieder weitergegeben werden können. Die Forscher verzeichnen hier ebenfalls erhebliche regionale und umweltbedingte Unterschiede in den untersuchten Gruppen. Michael Wink, Biologe und Pharmazeut in Heidelberg, kennt das Erdeessen, die so genannte Geophagie, auch bei Vögeln, Huftieren und Elefanten – vor allem bei Pflanzenfressern: "Dieses Verhalten könnte sich auch konvergent entwickelt haben", sagt er, also mehrmals und unabhängig voneinander im Laufe der Evolution.

War der Neandertaler ein Tier? Sind Schimpansen menschenartig? Der Unterschied zwischen Mensch und Tier verschwimmt. Viele Wissenschaftler erwägen, Schimpansen in die Gattung Homo neben dem Menschen und dessen unmittelbaren Vorfahren einzuordnen. Für kein anderes Lebewesen wären derart geringe Unterschiede in Genom und Verhalten gewichtig genug, eine Trennung in unterschiedliche Gattungen zu rechtfertigen.

Der Tierrechtsexperte Steven M. Wise von der Harvard Law School in Cambridge (Massachusetts) setzt sich dafür ein, Menschenaffen Würde und somit den Rechtsstatus von Personen zuzuschreiben. Entsprechend wären sie mit Grundrechten auszustatten, um sie vor Verfolgung und Missbrauch zu schützen. Unsere nächsten Verwandten seien sozusagen "Weltkulturerbe" – sie zu schützen sei geradezu kulturelles Gebot. Ein erster Schritt auf nationaler Ebene war die Verankerung des Tierschutzes im deutschen Grundgesetz. Der Artenschutz ist zwar international gesetzlich geregelt; aber viele Arten bleiben nach wie vor vom Menschen bedroht, unter anderem deshalb, weil vorhandene Gesetze nicht oder nur unzureichend umgesetzt werden.

Die meisten Menschen kennen Schimpansen nur aus dem Zoo oder Zirkus: entwürdigende Unterhaltung für Spaßhungrige, Bildungsprogramm für Wissbegierige oder notwendiges Übel zum Artenschutz. Eine Diskussion über Ethik in der Tierhaltung ist unter Primatenforschern in vollem Gange.

Erfreulich ist, dass sich in letzter Zeit einige Zoos um artgerechtere Haltung von Menschenaffen bemühen. So errichtet zum Beispiel der Allwetterzoo Münster gegenwärtig das "Affricanum", ein großes Menschenaffengehege, das – angeschlossen an das "ChimpanZoo"-Projekt des Jane-Goodall-Instituts – für angemessene Lebensbedingungen sorgen will. In freier Wildbahn lassen sich Schimpansen und andere Menschenaffen nur erhalten, wenn Schutzmaßnahmen auf eine breite Grundlage gestellt und auch durchgesetzt werden.

Im Rahmen des "Great Ape Survival Project", das die Umweltorganisation der Vereinten Nationen entwickelt hat, äußerte Jane Goodall auf dem Weltgipfel von Johannesburg letzten September ihre Sorge: "Ohne sofortige Maßnahmen werden nach höchstens 15 Jahren anhaltender Lebensraumzerstörung und ungebremster Jagd von Wildtieren sowohl Schimpansen als auch Gorillas und Orang-Utans ausgerottet sein." Nur durch sofortigen aktiven politischen und wirtschaftlichen Einsatz ließe sich diese Tragödie verhindern.

Unser kulturelles und existenzielles Selbstverständnis hat auch etwas damit zu tun, wie wir unsere nächsten Verwandten achten.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 2002, Seite 94
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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