Mathematik zum Anfassen
Eine Ausstellung realisiert erfolgreich die Idee, Mathematik ohne ihr Charakteristikum – die Formelsprache – dem jugendlichen Publikum nahezubringen.
Auf den ersten Blick scheinen Form und Inhalt einander kraß zu widersprechen: Acht- bis Zwölfjährige füllen in großer Zahl und mit dem altersüblichen Lärm eine Halle. Viele Exponate laden unmittelbar zum Experimentieren oder auch nur zum Staunen ein: Der Besucher sieht ein großes Möbiusband, auf dem ein Spielzeugauto seine Runden dreht; er kann Experimente mit Seifenhäuten machen und die Faszination der Minimalflächen erfahren, er erlebt sich selbst als Graph einer Funktion, kann am Computer einen Geheimcode knacken oder beliebige Gebilde aus drei-, vier- und fünfeckigen Plastikplättchen zusammensetzen. Offensichtlich haben alle großen Spaß – obwohl im Titel der Ausstellung das Wort "Mathematik" steht.
Wie paßt das zusammen? Wo bleibt die fachtypische Sprache aus Formeln, Symbolen und eigens definierten Fachausdrücken, welche die Mathematiker zu Recht als Arbeitswerkzeug hochschätzen? Die Ausstellung verzichtet bewußt auf sie. Denn diese Sprache ist eben auch das Haupthindernis für Laien, in die Mathematik einzudringen. Die meisten erkennen ohne weiteres an, daß es sich um eine bedeutende, anwendungsrelevante und anspruchsvolle Wissenschaft handelt; aber nur eine verschwindende Minderheit ist bereit, sich so intensiv mit ihr zu befassen, wie es für ein Verständnis erforderlich ist.
Jeder Versuch, die mathematische Sprache eingängiger darzustellen, wird deshalb wenig Resonanz finden. Vielmehr geht es darum, eine neue Tür zu dieser Wissenschaft zu öffnen, und zwar über direkte sinnliche Erfahrungen und durch interaktive Experimente. Die Grundphilosophie heißt: nicht (primär) Vermittlung von Wissen, sondern Ermöglichung von Erlebnissen. Im englischen Sprachraum hat sich dafür das Schlagwort hands on etabliert.
Seit 1994 arbeitet eine Gruppe von Mathematikerinnen und Mathematikern an der Universität Gießen unter meiner Leitung an diesem Konzept. Erster Erfolg ist eine Serie von Ausstellungen mit dem Titel "Mathematik zum Anfassen".
Die primäre Zielgruppe sind Schülerinnen und Schüler, speziell die Altersgruppe 8 bis 12 Jahre, also die Jahrgangsstufen 4 bis 7. Viele von ihnen wirken als Multiplikatoren: Sie kommen nachmittags und am Wochenende wieder und bringen ihre Familien mit.
Zur Vorbereitung der Ausstellungen informieren wir die Schulen der Umgebung und bieten außerdem Lehrerfortbildungsveranstaltungen an. Dies ist wichtig, nicht nur um die Lehrkräfte auf die für sie neue Präsentationsform vorzubereiten, sondern um ihnen auch zu zeigen, welches Potential in den Exponaten steckt und für den Unterricht nutzbar ist.
Ein Grundprinzip der Ausstellungsgestaltung ist, die Erlebnisebene als solche zu belassen und nicht durch Hintergrundinformation zu entwerten. Man darf den Besuchern nicht die Freude am Experimentieren nehmen, indem man ihnen erklärt, daß das Exponat "eigentlich" nur eine Formel oder ein Satz sei. Eine wesentliche Eigenschaft eines in der Ausstellung aufgebauten Zeltes, das Annette Kraus im Rahmen einer Staatsexamensarbeit berechnet und hergestellt hat (Bild 2), könnte man auch so ausdrücken: "Die Automorphismengruppe des Rhombenikosidodekaeders operiert transitiv auf der Menge der Ecken." Wir verzichten nicht nur auf solche Satzungetüme, sondern sogar auf den Namen des geometrischen Körpers. Der mathematische Hintergrund ist über andere Medien wie Vorträge oder einen Katalog zu vermitteln.
Das Prinzip, die Besucher selbst -und ohne ständig präsente Erwachsene – an den Exponaten spielen zu lassen, erfordert gewisse Konzessionen. Harmlos ist die Zweckentfremdung von Exponaten: Es stört nicht, wenn aus den eingangs genannten Plastikplättchen Ritterburgen oder Nachbildungen des Fernsehserien-Raumschiffs Enterprise gemacht werden. Computerprogramme hingegen müssen außergewöhnlich sorgfältig geschrieben werden, denn nicht wenige Besucher setzen ihren ganzen Ehrgeiz darin, sie zum Absturz zu bringen. Andere an sich geeignete Exponate mußten wir entfernen, weil regelwidrige Benutzung den Effekt verderben konnte. So entsteht durch Aufkleben kleiner Farbkreise auf eine weiße Fläche nach einer gewissen Regel ein Sierpi´nski-Dreieck (Spektrum der Wissenschaft, September 1989, Seite 52). Aber wenn auch nur ein Besucher kreativ ein Herzchen auf die Fläche klebt, kommt eine sichtbare Struktur nicht mehr zustande.
Unsere Erfahrungen sind überaus positiv: Wir konnten die Anzahl der Besucher kaum bewältigen. Aber auch die qualitative Resonanz überzeugte: In ihrer großen Mehrzahl waren die Schülerinnen und Schüler begeistert und wollten die Ausstellung nicht so schnell verlassen. Den schönsten Kommentar schrieb eine Schülerin auf einen Fragebogen: "In meinem mathematischen Brett vor dem Kopf öffnete sich ein Astloch."
Offensichtlich hat die Ausstellung allgemein die Einstellung der Besucher zu diesem Schulfach positiv beeinflußt. Das scheint mir angesichts der Ergebnisse des internationalen Schulleistungsvergleichs TIMSS (Spektrum der Wissenschaft, April 1998, Seite 106) wichtig zu sein. Zwar wird über die Ursachen des enttäuschenden Abschneidens der deutschen Schüler gestritten; unbestritten aber scheint, daß die Einstellung zum Fach eine entscheidende Rolle spielt.
Zusammenfassend kann man sagen: Es gibt einen Markt für diese Art der Präsentation von Mathematik. Dies ist insofern keine Überraschung, als die in der Regel physikalisch, technisch oder biologisch orientierten Science Centers in den USA und im europäischen Ausland außerordentlich erfolgreich sind. Dagegen ist Deutschland in diesem Bereich ein Entwicklungsland. Das erste moderne Science Center war das 1969 eröffnete Exploratorium in San Francisco, das bis heute ein Vorbild ist für das lustvolle, selbstbestimmte Erfahren naturwissenschaftlicher Zusammenhänge.
Mittlerweile werden wir immer häufiger gebeten, unsere Ausstellung auf Reisen zu schicken. Unter anderem wird sie im Rahmenprogramm des mathematischen Weltkongresses ICM (International Congress of Mathematicians) gezeigt werden, der vom 18. bis 27. August 1998 in Berlin stattfindet.
Darüber hinaus verfolgt das Gießener Team sehr energisch den Plan, eine ständige Ausstellung anzubieten. Unter dem Stichwort "Mathematikmuseum" macht dieses Vorhaben seit etwa zwei Jahren Furore, ein Förderverein wurde bereits 1996 gegründet. Näheres findet sich im World Wide Web unter www.math.de. Wir wollen dieses erste mathematische Science Center der Welt im Jahre 2000 eröffnen, dem Jahr, das die UNESCO zum Jahr der Mathematik erklärt hat.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1998, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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