Modellieren von Turbulenzen
Erst seit kurzer Zeit sind Computer leistungsfähig genug, um dieses große klassische Problem der Physik in einfachen Beispielen numerisch zu bewältigen. In einigen Fällen werden solche Simulationen Ingenieuren sogar zeigen, wie sie eine verwirbelte Strömung gezielt beeinflussen können.
Wir alle sind täglich von Strö- mungen umgeben, und unser Leben hängt von ihnen ab: Blut strömt durch die Adern unseres Körpers und Luft in unsere Lungen. Mit diversen Transportmitteln bewegen wir uns durch Luft oder Wasser, angetrieben durch flüssigen Kraftstoff, der vermischt mit gasförmigem Sauerstoff in eine Brennkammer strömt. Vielen der aktuellen Energie- und Umweltprobleme ist ohne detaillierte Kenntnis der Strömungsmechanik nicht beizukommen.
Praktisch alle wissenschaftlich und technisch interessanten Strömungen sind turbulent. Ein fundiertes Verständnis dieses Phänomens hilft deshalb bei der Konstruktion windschlüpfigerer Autos oder Verkehrsflugzeuge, wendigerer Kampfjets oder besserer Turbinen ebenso wie bei medizinischen Untersuchungen der Blutströmung im Herzen, insbesondere in der linken Kammer, in der sie besonders schnell ist.
Aber was genau ist Turbulenz? Einige Alltagsbeispiele mögen zur Illustration dienen. Wenn man den Wasserhahn in der Küche nur ein wenig aufdreht, läuft das Wasser in einem ruhigen, spiegelglatten Strahl ab. Eine solche Strömung nennt man laminar. Öffnet man den Hahn jedoch etwas weiter, beginnt der Wasserstrahl sich ungeordnet zu winden und zu schlängeln: Er wird turbulent. Das gleiche Phänomen ist bei dem Rauch zu beobachten, der von einer glimmenden Zigarette in ruhende Umgebungsluft aufsteigt. Unmittelbar oberhalb der Glut ist die Strömung laminar, doch bald darauf, in etwas größerer Höhe, wird sie wellig und zerfließt.
Eine turbulente Strömung besteht aus Kleinwirbeln, sogenannten Eddies. In diesen Bereichen weicht das Fluid, wie man zusammenfassend für Flüssigkeiten und Gase sagt, in seiner Bewegung zufällig – häufig im Zickzack oder rotierend – von der allgemeinen Strömungsrichtung der Umgebung ab. Dieser chaotische Zustand tritt regelmäßig dann auf, wenn die Strömungsgeschwindigkeit ei-ne gewisse Grenze überschreitet; unterhalb dieser kritischen Geschwindigkeit unterdrücken Reibungskräfte die Ausbildung von Wirbeln.
Turbulenz ist zwar chaotisch, aber keineswegs unter allen Umständen unerwünscht. Im Gegenteil: Manchmal geben sich selbst die ordnungsliebendsten Ingenieure alle Mühe, sie noch zu verstärken. Im Zylinder eines Verbrennungsmotors unterstützt sie die innige Vermischung von Kraftstoff und Luft; dadurch verbrennt das Gemisch vollständiger, also mit höherer Energieausbeute und saubereren Abgasen. Und nur dank der Turbulenz fliegt ein mit Vertiefungen versehener Golfball bis zu 250 Meter weit, während ein glatter Ball allenfalls 100 Meter zurücklegen würde (Bild 3).
Vermutlich hat die Turbulenz einen so schlechten Ruf, weil ihre mathematische Behandlung zu den notorisch schwersten Problemen der klassischen Physik zählt. Für ein solches Allerweltsphänomen ist unsere quantitative Kenntnis erstaunlich kläglich. Der Physiker Richard Feynman (1918 bis 1988, Nobelpreis 1965) nannte die Turbulenz "das wichtigste ungelöste Problem der klassischen Physik". Der englische Mathematiker und Physiker Sir Horace Lamb (1849 bis 1934), Autor eines Standardwerks zur Hydrodynamik, gab 1932 in einem Grußwort an die British Association for the Advancement of Science eine treffliche Einschätzung des Schwierigkeitsgrades: "Ich bin jetzt ein alter Mann, und wenn ich sterbe und in den Himmel komme, dann hoffe ich auf Erleuchtung in zwei Dingen. Das erste ist die Quantenelektrodynamik, das zweite die turbulente Strömung von Fluiden. Was das erste angeht, bin ich ziemlich optimistisch."
Wenn die Turbulenzforschung heute weiter ist, als Lamb sich das ausmalen konnte, so liegt das an der Entwicklung der modernen Superrechner. Diese technischen Meisterwerke verschaffen Ingenieuren und Wissenschaftlern endlich die Gelegenheit zu einem flüchtigen, aber wertvollen Einblick. Bereits jetzt sind dadurch neue Techniken in der Entwicklung, mit denen sich vielleicht eines Tages der Luftwiderstand eines Flugzeugs um einige Prozent vermindern läßt. Damit wären Treibstoffkosten in Milliardenhöhe zu sparen. Gleichzeitig verhelfen die neuen Einsichten zur Konstruktion von Triebwerken mit höherer Leistung und besserem Wirkungsgrad. Eingebettet in das große Gebiet der rechnerischen Erfassung von Strömungen (computational fluid dynamics, CFD) hilft die Simulation der Turbulenz so unterschiedliche Strömungen zu berechnen wie die des Wassers um eine Rennyacht im America's Cup und die des Blutes in einem künstlichen Herzen.
150 Jahre Entwicklungszeit
Was heißt es, eine Strömung im Computer zu simulieren? Vereinfacht ausgedrückt, löst der Rechner für jeden Punkt im Raum eine Reihe wohlbekannter Gleichungen für die Geschwindigkeit und den Druck des Fluids in der Nähe des umströmten Gegenstands. Vor mehr als 150 Jahren haben unabhängig voneinander der französische Ingenieur Claude Navier (1785 bis 1836) und der irische Mathematiker George Stokes (1819 bis 1903) diese Differentialgleichungen aufgestellt, die heute nach ihnen benannt sind. Sie lassen sich direkt aus den Newtonschen Bewegungsgesetzen herleiten. Der gegenwärtige phänomenale Erfolg der CFD rührt daher, daß man Supercomputer zur Lösung der Navier-Stokes-Gleichungen einsetzt.
Bis dahin hat es allerdings sehr lange gedauert. Erst gegen Ende der sechziger Jahre konnten die leistungsfähigsten Computer die Navier-Stokes-Gleichungen in sehr einfachen Fällen lösen, etwa bei sehr langsamer Strömung um ein Hindernis in der Reduktion auf zwei Raumdimensionen. Vor dieser Zeit bot der Windkanal praktisch die einzige Möglichkeit, die Aerodynamik eines neuen Flugzeugentwurfs zu testen. Und selbst die modernsten Superrechner haben ihn noch nicht gänzlich entbehrlich gemacht.
Allerdings haben sie einen stetig steigenden Anteil am Entwurfsprozeß – vor allem in der Frühphase, in der die groben Abmessungen und andere entscheidende Eigenschaften eines Flugzeugs festgelegt werden. Der Prozeß besteht nach wie vor zu einem wesentlichen Teil aus Probieren, und Windkanaluntersuchungen sind teuer, weil für jeden Versuch ein eigenes Modell zu bauen ist. Dank der numerischen Strömungsmechanik genügen heute beim Entwurf eines Tragflügels zwei bis vier statt der früher üblichen zehn bis fünfzehn Windkanaltests.
Kurioserweise kommt die simulierte Strömung im Computer (Bild 2) der Realität häufig näher als die echte im Windkanal. Zum Beispiel unterliegt sie keinen Störungen durch die Kanalwände und die Halterung, an der das Modell im Kanal hängt. Zudem werden einige Flugkörper der Zukunft ein Vielfaches der Schallgeschwindigkeit erreichen, und die Bedingungen eines Hyperschallflugs (mit bis zu 20facher Schallgeschwindigkeit) in extrem dünner Luft oder außerhalb der Atmosphäre sind im Windkanal gar nicht herstellbar. Für diese Verhältnisse sind bereits Effekte der Nichtgleichgewichtschemie und der Teilchenphysik zu berücksichtigen (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1996, Seite 72).
Auch der Entwurf von Strahltriebwerken findet heute zum größten Teil mit Hilfe der numerischen Strömungsmechanik statt. Das amerikanische Verteidigungsministerium, die Luft- und Raumfahrtbehörde NASA und verschiedene Herstellerfirmen betreiben gemeinsam das Entwicklungsprogramm "Integrated High Performance Turbine Engine Technology" (Technik integrierter Hochleistungsturbinen), in dessen Verlauf bis zum Jahre 2003 das Verhältnis von Schub zu Gewicht auf das Doppelte und die Kraftstoffausnutzung um 40 Prozent verbessert werden sollen.
Die Strömung von Luft und Brennstoff durch die verschiedenen Teile eines Strahltriebwerkes ist äußerst komplex. Ein Gebläse führt Luft einem Kompressor zu. Dort erhöhen Systeme von rotierenden und feststehenden Turbinenschaufeln im Wechsel den Druck ungefähr auf das Zwanzigfache. Derart verdichtet, gelangt die Luft in eine Brennkammer, wo sie mit Brennstoff gemischt und gezündet wird. Schließlich treibt das heiße, stark expandierende Abgas eine Turbine. Diese wiederum treibt das Gebläse und den Kompressor; vor allem aber erzeugt sie Schub, weil das Abgas mit hoher Geschwindigkeit durch die Düse am Ende des Triebwerks ausströmt. Mit Hilfe der numerischen Strömungsmechanik entwerfen die Ingenieure die Form von Turbinenschaufeln, von Einlaßschlitzen, Brennkammern, Nachbrennermischkammern, die Kampfflugzeugen zusätzlichen Schub für größere Manövrierbarkeit verschaffen, und von Triebwerksgondeln – den zylindrischen Ummantelungen der Triebwerke, die unter den Tragflächen moderner Flugzeuge hängen.
Umströmung eines Flugzeugs
In der Theorie ergeben sich aus den Navier-Stokes-Gleichungen die Geschwindigkeit und der Druck der Luft an jedem Punkt in der Umgebung des Flugzeugs. Zwar sind die Computer auch heute noch Jahrzehnte davon entfernt, detaillierte Angaben für ein komplettes Flugzeug zu liefern; aber ihre Leistung reicht immerhin aus, genäherte Werte für die wichtigsten wirksamen Kräfte unter verschiedenen Flugbedingungen zu berechnen: Auftrieb, Luftwiderstand und Drehmomente um die verschiedenen Achsen.
Der Luftwiderstand ist dabei besonders wichtig, weil er den Kraftstoffverbrauch eines Flugzeugs bestimmt. Für die meisten Fluggesellschaften sind die Treibstoffkosten der größte Einzelposten in den Betriebsausgaben. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß die Flugzeughersteller enorme Summen aufwenden, um den Luftwiderstand ihrer Maschinen auch nur geringfügig zu senken. Leider ist er der am schwierigsten zu berechnende Parameter; am einfachsten läßt sich der Auftrieb bestimmen, und die Momente sind nur mäßig komplizierter zu ermitteln.
Das liegt daran, daß gerade der Luftwiderstand am stärksten von der Turbulenz abhängt. Gemeint sind nicht die heftigen Luftbewegungen, die zuweilen das ganze Flugzeug durchschütteln. Innerhalb der sogenannten Grenzschicht, in wenigen Zentimetern Abstand von der Oberfläche des Flugzeugs, ist selbst bei ruhigstem Flug die Strömung turbulent. Dadurch wird die mit hoher Geschwindigkeit am Flugzeug vorbeiströmende Luft an die Oberfläche transportiert, wo sie abrupt verzögert wird und dadurch einen großen Teil ihres Impulses an das Flugzeug überträgt. (Alle Fluiddynamiker denken sich das Flugzeug in Ruhe und die Luft in Bewegung; das ist physikalisch ebenso zulässig wie die umgekehrte, aus der Bodenperspektive gespeiste Vorstellung.) Nach dem Impulserhaltungssatz (actio gleich reactio) erfährt das Flugzeug dadurch eine rückwärtsgerichtete Kraft; diese ist die Ursache des Luftwiderstands. Also kommt es darauf an, die Turbulenz so gut zu verstehen, daß man weiß, was man zu ihrer Abwendung tun muß (siehe auch "Laminarflügel" von Horst Körner, Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1989, Seite 50).
Wie löst man nun die Navier-Stokes-Gleichungen mit dem Computer? Zunächst muß man sie durch weitere Angaben ergänzen. Die Differentialgleichungen bestimmen das Verhalten des physikalischen Systems nicht allein, sondern erst im Verein mit weiteren Größen: den Anfangs- und den Randbedingungen. Erstere sind für ein Flugzeug in stabiler Fluglage weniger entscheidend; man kann davon ausgehen, daß sich unabhängig von ihrem Wert sehr rasch ein nahezu stationärer Strömungszustand einstellt. Zu den Randbedingungen gehört die genaue Form des Flugzeuges, die in mathematischen Koordinaten zu beschreiben ist.
Als nächstes sind Gleichungen, Anfangs- und Randbedingungen in eine dem Rechner zugängliche Form zu bringen. Dazu repräsentiert man die Oberfläche des Flugzeugs und seine Umgebung durch eine Anzahl diskreter – nicht beliebig dicht benachbarter – Punkte: ein sogenanntes Rechengitter. Die Koordinaten und weitere Parameter des Gitters übergibt man an ein Computerprogramm. Dieses berechnet aus den Daten eine Lösung der Navier-Stokes-Gleichungen, das heißt einen Wert für Geschwindigkeit und Druck der Luft an jedem Gitterpunkt.
Dahinter steckt eine räumliche Zerlegung des Gesamtproblems in endlich viele diskrete, miteinander verkoppelte Probleme: eine Diskretisierung (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Juli 1996, Seite 72). Außerdem wird die Lösung nur für Zeitpunkte berechnet, zwischen denen ein gewisses Intervall liegt: Auch in der Zeit wird diskretisiert. Je dichter die Punkte im Rechengitter liegen (je mehr Punkte also das Gitter hat) und je öfter die Berechnungen durchgeführt werden (je kleiner die Zeitintervalle sind), desto genauer und realitätsnäher ist die numerische Simulation. Für kompliziert geformte Körper kann bereits die Definition der Oberfläche und die Erzeugung des Rechengitters sehr schwierig sein.
Leider funktionieren die Programme nicht wie Automaten, in die man oben die Anfangs- und Randbedingungen hineinstecken könnte, und unten käme zuverlässig die richtige Lösung heraus. Das kann auch mit den heute oder in absehbarer Zeit verfügbaren Computern nicht gelingen. Die Schwierigkeiten rühren letztendlich daher, daß die Navier-Stokes-Gleichungen nichtlinear sind: Die Änderung einer Größe ist nicht anderen Größen direkt proportional, sondern deren zweiter oder gar höherer Potenz. Eine Folge der Nichtlinearität ist, daß sich Strukturen in einem weiten Bereich von Größenskalen ausbilden, was wiederum die Lösung der Gleichungen noch schwieriger macht. Insbesondere gibt es im Fall turbulenter Strömungen Eddies, die tausendmal so groß sind wie andere.
Weitere Schwierigkeiten kommen hinzu, etwa globale Abhängigkeiten: Es liegt in der Natur der Gleichungen, daß der Druck des Fluids an einem Punkt von der Strömung an sehr vielen anderen Punkten abhängt. Wie in einem sehr dicht und unübersichtlich geknüpften Netz kann eine Änderung an einem einzigen Knoten weitreichende und unerwartete Änderungen im ganzen Netz zur Folge haben; entsprechend mühsam ist es, alle Knoten miteinander in Einklang zu bringen.
Turbulenz: das widerspenstige Phänomen
In einer strömungsmechanischen Simulation, so wie wir sie bis jetzt in den Grundzügen beschrieben haben, sind turbulente Effekte nicht automatisch berücksichtigt; denn das Rechengitter kann nur Phänomene von der Größenordnung höchstens der Gitterweite auflösen, und turbulente Eddies unterschreiten diese Größe auf jedem praktikablen Gitter. Damit sind die Möglichkeiten, Strömungen realitätsnah zu simulieren, schmerzlich eingeschränkt. Was kann man tun?
Vielleicht die einfachste Definition von Turbulenz arbeitet mit der Reynolds-Zahl (nach dem britischen Ingenieur Osborne Reynolds, 1842 bis 1912), einem Parameter, der die Natur einer Strömung in kompakter Form charakterisiert. Er bezeichnet das Verhältnis der Trägheitskräfte der Strömung – das sind die zur kinetischen Energie gehörigen Kräfte – zu den Reibungskräften. Dominieren die Trägheitskräfte, neigt eine Strömung zur Turbulenz; durch starke Reibungskräfte dagegen wird sie geglättet. Turbulenz setzt also ein, wenn das Verhältnis der beiden Einflußfaktoren einen bestimmten kritischen Wert überschreitet.
Die Reynolds-Zahl einer Strömung ist proportional zur Strömungsgeschwindigkeit und zur Größe des umströmten Objekts; das ist zum Beispiel bei der Umströmung eines Tragflügels die Flügeltiefe, also der Abstand zwischen Vorder- und Hinterkante. Für die Umströmung eines Flugzeugrumpfes im Reiseflug liegt sie bei etwa 100 Millionen, für die eines schnellen Balles bei rund 200000 und für den Blutstrom in einer Arterie mittlerer Größe im Bereich von 1000.
Ein wesentliches Charakteristikum turbulenter Strömungen sind, wie erwähnt, die Eddies über einen großen Bereich von Längenskalen hinweg. Diese Wirbel bilden sich ständig neu und zerfallen wieder in kleinere, die wiederum in weitere aufbrechen, und so fort. Sind sie klein genug geworden, werden sie durch innere Reibung in Wärme umgewandelt: Sie dissipieren. Der britische Meteorologe Lewis F. Richardson hat diesen Prozeß in Verse gefaßt.
Big whorls have little whorls,
That feed on their velocity,
And little whorls have lesser whorls,
And so on to viscosity.
Frei ließe sich das etwa so übertragen:
Aus Wirbeln werden Wirbelkinder,
kleiner, feiner und geschwinder,
noch ein Weilchen, und nicht minder
wirbeln Wirbelkindeskinder,
und am End' nach kurzem Lauf
frißt die Reibung alle auf.
Um noch die kleinsten Eddies beschreiben zu können, bräuchte man, etwa bei der Simulation der Strömung um ein Flugzeug, ein extrem feines Rechengitter. Das Größenverhältnis zwischen den größten und den kleinsten Eddies ist ungefähr gleich der Reynolds-Zahl hoch 3/4. So viele Punkte, wie diese Zahl angibt, müßte also ein Gitter mindestens haben, um nur alle Eddies zu erfassen, und zwar in jeder Raumrichtung – ganz zu schweigen davon, daß es auch das ganze Flugzeug und zumindest einen Teil seiner Umgebung überdecken soll. Für eine echt dreidimensionale Simulation ist die erforderliche Gitterpunktanzahl also proportional zur Reynolds-Zahl hoch 9/4, so daß eine Verdoppelung dieses Parameters fast die fünffache Anzahl an Gitterpunkten erfordert.
Für ein Transportflugzeug mit einem 50 Meter langen Rumpf und einer Flügeltiefe von 5 Metern, das mit 250 Metern pro Sekunde in einer Höhe von 10000 Metern fliegt, wären 1016 Gitterpunkte erforderlich, um die Turbulenz nahe der Oberfläche hinreichend genau zu simulieren. Bei einem so gigantischen Gitter hätte – heute vorhandene Software vorausgesetzt – ein Teraflop-Computer für eine Sekunde Flugzeit einige tausend Jahre zu rechnen! Dabei sind solche Computer mit einer Rechenleistung von 1012 Gleitkomma-Operationen pro Sekunde derzeit nicht einmal allgemein verfügbar (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, März 1991, Seite 82): Erst im Sommer dieses Jahres hat in den Sandia National Laboratories in Albuquerque (New Mexico) eine Zusammenschaltung aus 9072 Pentium-Pro-Prozessoren diese Leistung erbracht. Kommerziell erhältliche Supercomputer liegen bei einem Zehntel dieser Geschwindigkeit.
Der Widerspenstigen Zähmung
Selbst wenn eine solche Mammut-Berechnung praktisch möglich wäre, würde sie so viele Daten liefern, daß wir vermutlich gar nichts damit anzufangen wüßten. Glücklicherweise kommt man an nützliche Information auch mit weniger Aufwand. Den Ingenieur interessiert weniger die turbulente Bewegung selbst als ihr Einfluß auf andere, entscheidende Größen, etwa eine gemittelte Strömung oder beim Flugzeug eben Auftrieb, Luftwiderstand und Wärmefluß: Man möchte sichergehen, daß die Luftreibung das Flugzeug nicht zu sehr aufheizt. Bei einem Triebwerk kommt es vor allem darauf an, wie die Turbulenz die Vermischung von Treibstoff und Oxidator (Sauerstoff oder im luftleeren Raum ein anderer chemischer Stoff) beeinflußt.
Statt der echten Navier-Stokes-Gleichungen rechnet man deshalb häufig mit Gleichungen, die über die Skalen der turbulenten Schwankungen gemittelt sind. Man versucht also gar nicht erst, die Bewegung der kleinsten Wirbel zu berechnen. Vielmehr simuliert man nur die großen und versucht, den Einfluß der kleinen global und einigermaßen korrekt zu berücksichtigen. Die Drücke und Geschwindigkeiten dieses gemittelten Strömungsfelds variieren viel langsamer als die des echten, weswegen ein weitaus gröberes Rechengitter ausreicht.
Wie aber berechnet man den Einfluß der kleinen Wirbel? Welcher Art ist der Mittelungsprozeß? Zur Zeit experimentiert man mit sogenannten Ad-hoc-Modellen, die nicht auf theoretischen Ableitungen beruhen, sondern schlicht empirisch gewonnene Zusammenhänge widerspiegeln und bei Testproblemen, deren Lösung man kennt, funktionieren. Das reicht von einfachen Formeln zur Veränderung der Viskositätskoeffizienten bis zu ganzen Gleichungssystemen, die zu den Navier-Stokes-Gleichungen hinzutreten. In all diesen Modellen stecken vereinfachende Annahmen über die Natur der Turbulenz; sie enthalten einstellbare Parameter, deren Werte durch Abgleich mit Experimenten gewonnen wurden. Gegenwärtig sind deshalb alle numerischen Simulationen gemittelter turbulenter Strömungsfelder nur so gut wie die verwendeten Modelle.
Mit weiterer Leistungssteigerung der Computer geraten immer kleinere Größenordnungen in den Bereich des Berechenbaren. Dies ermöglicht Kompromißverfahren zwischen einer direkten numerischen Simulation der Turbulenz, in der alle Größenordnungen aufgelöst werden, und einer reinen Mittelung.
Seit Jahren schon verwenden Meteorologen eine Form dieser gemischten Strategie, die large eddy simulation (LES), zur Wettervorhersage. Großräumige turbulente Strömungen sind in der Meteorologie von besonderem Interesse und werden deshalb im allgemeinen direkt simuliert. Kleine Eddies sind nur insoweit wichtig, als sie die großen beeinflussen können. Das pflegt man durch Mittelungsmodelle zu erfassen. Vor kurzem wurde die LES-Technik auf andere Strömungen übertragen, etwa die im Inneren eines Verbrennungsmotors.
Ein anderer moderner Zweig der numerischen Strömungsmechanik, der seine Existenz ebenfalls der immer größeren Leistungsfähigkeit der Computer verdankt, ist die vollständige direkte Simulation relativ einfacher Strömungen. Eine Strömung mit niedriger Reynolds-Zahl durch ein Rohr beispielsweise ist alles andere als erregend; gleichwohl liefert ihre Simulation unschätzbare Einsichten in die Natur der Turbulenz. Durch sie wurden die Struktur turbulenter Eddies in Wandnähe und Einzelheiten ihres Einflusses auf den Strömungswiderstand geklärt. Zugleich dienen die Ergebnisse zur Verfeinerung der oben genannten Ad-hoc-Modelle.
In letzter Zeit ist die Zahl der an solchen Daten interessierten Wissenschaftler und Ingenieure derart angewachsen, daß das Ames-Forschungszentrum der NASA ein umfangreiches Datenarchiv allgemein zugänglich gemacht hat. Die meisten Forscher verfügen nicht über ausreichend Rechnerkapazität für direkte Simulationen der Turbulenz, aber immerhin über hinreichend leistungsstarke Workstations, um die archivierten Daten zu analysieren.
Von der Vorhersage zur Beherrschung
Mit immer schnelleren Superrechnern kommen die Strömungsmechaniker dem Ziel immer näher, die Einflüsse der Turbulenz nicht mehr nur vorherzusagen, sondern sogar zu steuern. Das kann von enormer finanzieller Bedeutung sein: Wenn es gelingen sollte, den Luftwiderstand eines Verkehrsflugzeugs um 10 Prozent zu vermindern, würde sich der Gewinn der Fluggesellschaft um 40 Prozent erhöhen. In einem neuen Projekt konnten Wissenschaftler am Langley-Forschungszentrum der NASA zeigen, daß V-förmige Längsrillen, sogenannte Riblets, auf der Oberfläche eines Flugzeuges den reibungsinduzierten Widerstand um fünf bis sechs Prozent mindern (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1991, Seite 36) – und das, obgleich sich die Gesamtoberfläche erhöht. Für die typischen Geschwindigkeiten des Reiseflugs müssen die Riblets mit ungefähr 40 Mikrometern (tausendstel Millimetern) Abstand sehr dicht liegen, etwa wie Rillen auf einer Schallplatte. Größere Riblets würden den Luftwiderstand dagegen erhöhen.
Im Zuge dieses Projektes stieß man auf eine sowjetische Arbeit über gezahnte Strukturen auf der Haut von Haien, die Riblets verblüffend ähneln. Damit sah man das Konzept der Riblets in der Natur bestätigt; ihre Wirkungsweise wurde jedoch erst durch die direkte numerische Simulation der turbulenten Strömung aufgedeckt. Offensichtlich hindern sie die Eddies, der Oberfläche näher zu kommen als etwa 50 Mikrometer (Bild 5). Dadurch unterbinden sie den Transport schnell bewegten Fluids zur Wand und damit den Impulsaustausch, der für den Geschwindigkeitsverlust verantwortlich ist.
Eine weitere vielversprechende Anwendung ist die aktive Beeinflussung der Turbulenz durch bewegliche Teile (im Gegensatz zur passiven durch Riblets). Mit ihnen könnte man die Oberfläche eines Tragflügels in Reaktion auf die turbulenten Schwankungen der Strömung jeweils geringfügig verformen. In die Haut des Flügels müßten dazu Millionen von Sensoren und Verstellmechanismen eingebettet sein, die auf Änderungen von Druck und Strömungsgeschwindigkeit so rasch reagieren, daß die kleinsten Eddies beeinflußt werden.
Noch vor drei Jahren schien eine solche Technologie in weiter Ferne zu liegen. Unter der Schirmherrschaft der amerikanischen Luftwaffe sind je-doch mikroelektromechanische Systeme (MEMS) bis nahe zur Realisierbarkeit gediehen (Bild 4): Die Mikrosensoren, die Rechenleistung zum Ansteuern und die aktiven Bauteile sind zusammen auf einem integrierten Schaltkreis untergebracht. Anscheinend hat auch dieses Prinzip ein Vorbild in der Natur: Schon seit langem vermuten die Strömungsmechaniker, daß Delphine ihren ungewöhnlich guten Wirkungsgrad beim Schwimmen durch gezielte Bewegungen ihrer Haut erreichen.
Auch die oben erwähnten Golfbälle sind eindrucksvolle Beispiele dafür, wie die Struktur einer Oberfläche eine Strömung vorteilhaft beeinflussen kann. Der wichtigste Beitrag zum Luftwiderstand kommt von der Differenz zwischen hohem Druck vor und niedrigerem hinter dem Golfball. Die durch die Einkerbungen erzeugte Turbulenz mindert durch Umlenkung der Strömung diese Differenz erheblich; dadurch fliegt ein solcher Ball etwa zweieinhalbmal so weit, als wenn er glatt wäre (Bild 3).
Die numerische Strömungsmechanik ist in der letzten Zeit sehr populär geworden, einerseits weil die in sie gesetzten Hoffnungen sich zu erfüllen beginnen, andererseits weil ihre Möglichkeiten in gleichem Maße anwachsen wie die Leistungsfähigkeit moderner Computer. Teraflop-Computer sollten in den nächsten Jahren komplexere Strömungen mit höheren Reynolds-Zahlen berechenbar machen. Bis zum Ende des kommenden Jahrzehnts wird man vermutlich die Strömungsverhältnisse im Inneren einer Verbrennungskraftmaschine simulieren können – einschließlich der Verbrennung selbst sowie der Ein- und Ausströmvorgänge. Durch solche und andere Simulationen wird man endlich einigen der Geheimnisse auf die Spur kommen, die in den 150 Jahre alten Gleichungen von Navier und Stokes stecken.
Literaturhinweise
- Physical Fluid Dynamics. Von D. J. Tritton. Oxford Science Publications, 1988.
– Turbulent Time for Fluids. Von Tom Mullin in: Exploring Chaos: A Guide to the New Science of Disorder. Herausgegeben von Nina Hall. W. W. Norton, 1993.
– Feedback Control of Turbulence. Von Parviz Moin und Thomas Bewley in: Applied Mechanics Review, Band 47, Heft 6, Teil 2, Seiten S3 bis S13, Juni 1994.
– Grenzschicht-Theorie. Von Hermann Schlichting und Klaus Gersten. Bearbeitet von Egon Krause und Herbert Oertel jr. 9. Auflage, Springer, Berlin 1997.
– Ein Führer durch die Strömungslehre. Von Ludwig Prandtl, Klaus Oswatitsch und Karl Wieghard. Korrigierter Nachdruck der 9. Auflage, Vieweg, Braunschweig 1993.
– Turbulente Strömungen. Von Julius C. Rotta. Teubner, Stuttgart 1972
Kasten: Ein früher Erfolg der numerischen Simulation
Bis etwa 1980 hatten sich nur sehr wenige Forscher an der direkten numerischen Simulation selbst einfacher turbulenter Strömungen versucht. In diesem Jahr verwendeten wir und unsere Mitarbeiter am Ames-Forschungszentrum der NASA einen der ersten Parallelrechner, die ILLIAC-IV, für die bis dahin umfangreichste Turbulenzsimulation. Diese Arbeit wurde in Fachkreisen sehr gut aufgenommen; ernüchternderweise war es allerdings nicht die Qualität der Daten, die unsere Kollegen überzeugte, sondern ein Fünf-Minuten-Film, der die Bahnkurven ausgewählter Teilchen in der simulierten Strömung zwischen zwei parallelen Platten zeigte (links). Immerhin zeigte er bemerkenswerte Übereinstimmung mit einem Film, der etwa 20 Jahre vorher in einem Labor in Stanford (Kalifornien) mit echtem Wasser gedreht worden war (rechts).
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1997, Seite 92
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