Vogelevolution: Neue Verwandte von Archaeopteryx
Eine verwirrende Fülle neu aufgetauchter Fossilien zeichnet ein immer komplexeres Bild von der Entstehung der Vögel. Es bestätigt jedoch zwei Dinge: Die Herkunft der Federtiere aus dem Dinosaurier-Reich und die herausragende Stellung des "Urvogels" Archaeopteryx.
Im Frühjahr ging die Meldung von einem neu entdeckten, kleinen, vogelähnlichen Dinosaurier, den Fossiliensammler in Montana (USA) gefunden hatten, durch die Weltpresse. Das Raubtier aus der Gruppe der Theropoden erhielt den Namen Bambiraptor feinbergi. Er zeigt eine Reihe von Merkmalen, die ihn als nahen Vogelverwandten ausweisen. Dies gab den Diskussionen um die Abstammung und frühe Evolution der Vögel neue Nahrung. Das Graves Museum of Archaeology and Natural History in Dania Beach (Florida) hatte das wertvolle Fossil 1999 erworben, und das zugehörige Florida Institute of Paleontology präsentierte es bei einem Symposium über die Dinosaurier-Vogel-Evolution im April dieses Jahres in Fort Lauderdale.
Von Bambiraptor feinbergi liegen etwa 90 Prozent des Skeletts eines noch nicht voll ausgewachsenen, knapp einen Meter langen Individuums sowie Teile von zwei weiteren, größeren Skeletten vor. Die Fossilien stammen aus etwa 80 Millionen Jahre alten Flussablagerungen der jüngeren Kreidezeit. Der gute Erhaltungszustand ermöglichte eine räumliche Rekonstruktion des Schädels sowie eine Analyse der Gelenkfunktionen des Bewegungsapparates. Demnach war Bambiraptor ein kleiner, leicht gebauter, zweibeinig laufender Raubdinosaurier aus der Familie der Dromaeosauriden – ein naher Verwandter von Velociraptor, den Kinobesucher aus dem Film "Jurassic Park" kennen. In seinen Skelettproportionen, insbesondere mit seinen relativ langen Armen und Fingern, kommt er dem "Urvogel" Archaeopteryx deutlich näher als andere Theropoden.
Weitere typische Vogelmerkmale von Bambiraptor sind ein Gabelbein (Furcula), ein großflächiges Brustbein, ein zur Seite orientiertes Schultergelenk und andere Skelettmerkmale, wie sie sich zum Teil auch bei frühen Vögeln finden. Den halbmondförmigen Handwurzelknochen teilte Bambiraptor hingegen nicht nur mit den primitiven Vögeln, sondern auch mit den Angehörigen seiner eigenen Dromaeosauriden-Familie. Dieses "Carpale" brauchten die Raubdinosaurier mit ihrer dreifingerigen Hand für die Rotationsbewegungen beim Ergreifen und Manipulieren von Beute; bei Archaeopteryx und den späteren Vögeln ermöglichte es statt-dessen die vogeltypischen Drehungen beim Flügelschlag. Rein theropodenartig ist schließlich die zweite Fußzehe mit einer sehr beweglichen, sichelförmigen, scharfen Kralle – der für die Dromaeosauriden typischen "Killerklaue".
Nach einer ersten Merkmalsanalyse und Vergleichen mit anderen Theropoden und frühen Vögeln halten die Wissenschaftler des Florida Institute of Paleontology Bambiraptor für den Vertreter einer "Schwestergruppe" der Vögel. Damit würde er mit diesen in einer gemeinsamen Stammgruppe wurzeln. Mit seinem Alter von nur 80 Millionen Jahren ist er allerdings sehr viel jünger als Archaeopteryx, der schon vor 150 Millionen Jahren im Jura lebte – der erdgeschichtlichen Epoche, die der Kreidezeit vorausging.
Befiederte Dinosaurier
In die frühe Vogelverwandtschaft gehören zweifellos auch einige "befiederte" kreidezeitliche Dinosaurier aus China, die in den letzten Jahren beschrieben worden sind. Besonders interessant ist Caudipteryx mit Federn an Armen und Schwanz, ein früher Vertreter derDinosauriergruppe derOviraptorosaurier. Der vogelähnliche Schädel mit Hornschnabel sowie andere Skelettmerkmale lassen es denkbar erscheinen, dass es sich gar nicht um Dinosaurier, sondern um sekundär flugunfähige Laufvögel handelt.
Jüngste Entdeckungen bestärken diese Vermutung. Das gilt etwa für das versteinerte Skelett eines Oviraptoriden aus der Wüste Gobi, das in vogeltypischer Bruthaltung auf seinen Eiern hockte. Ein anderer Fund, erst kürzlich als Nomingia gobiensis benannt, hatte am Ende seines kurzen Wirbelschwanzes einen Steißknochen: ein wie bei Vögeln aus den letzten Schwanzwirbeln verwachsenes Pygostyl, das möglicherweise einen Federfächer trug. Der chinesische Caudipteryx lebte vor etwa 124 Millionen Jahren. Hätte es damals tatsächlich bereits flugunfähige Vögel gegeben, wäre die frühe Evolution der Vögel weit komplizierter verlaufen, als bisher angenommen.
Andere kleine Raubdinosaurier aus China – wie Sinosauropteryx oder Sinornithosaurus – trugen zwar keine Federn, aber eine faser- oder haarartige Körperbedeckung. Ob sie als Modell für Protofedern gelten kann, wie vielfach behauptet, ist umstritten; Klarheit können nur biochemische Analysen möglicher organischer Reste bringen. Zur Zeit laufen in den USA auch biomolekulare Untersuchungen zu der Frage, ob sich die Vogelfeder von Reptilschuppen herleitet oder eine völlige Neubildung der Vögel ist. Da auch die Flugsaurier des Erdmittelalters, die mit den Vögeln nicht näher verwandt sind, eine haarartige Körperbedeckung trugen, ist sie offenbar in verschiedenen Reptilgruppen unabhängig entstanden.
Archaeopteryx, immer noch der unzweifelhaft älteste bekannte Vogel, hatte jedenfalls schon in der Jurazeit, vor 150 Millionen Jahren, "modern" strukturierte, echte Vogelfedern und insgesamt eine Flügel- und Körperbefiederung, die auch in ihrer Anordnung derjenigen heutiger Flugvögel entsprach; eine Ausnahme ist nur der zweizeilig befiederte lange Wirbelschwanz. Der bayerische Urvogel war sicherlich flugfähig und hatte die frühen Stadien der Federevolution schon weit hinter sich. Diese Entwicklung muss sich in den Jahrmillionen davor, also im Ober- oder Mitteljura vollzogen haben. Leider ist dieser geologische Zeitabschnitt weltweit kaum durch geeignete Fossilschichten dokumentiert, und auch wo sie vorliegen, haben sie bisher keine entsprechenden Fossilien geliefert. Wegen dieser vor allem geologisch begründeten Überlieferungslücken sind die Chancen eher gering, jemals Vorstufen der Vogelevolution zu finden.
Bei dem erwähnten Symposium in Florida wurde auch ein anderer kleiner, noch namenloser Theropode aus der Unterkreide von China vorgestellt, bei dem der dritte, Krallen tragende Finger der Hand stark verlängert ist – offensichtlich eine Kletteranpassung. Eine derartige Spezialisierung war bei den normalerweise bodenständigen Raubdinosauriern bisher unbekannt. Die Existenz von kleinen, baumkletternden Formen könnte jedoch zwanglos die Entstehung des Vogelfluges "von den Bäumen herab" erklären. Gegen diese nahe liegende Hypothese war bisher eingewandt worden, dass sie sich schlecht mit der Abstammung der Vögel von den am Boden lebenden Theropoden vertrüge.
Dreiste Fälschung
Als Fälschung entlarvt wurde mittlerweile ein Fossil, das unter dem Namen Archaeoraptor liaoningensis im November 1999 als "wahres Missing Link" zwischen Dinosauriern und Vögeln Schlagzeilen gemacht hatte. Angeblich stammte es ebenfalls aus den inzwischen berühmten Unterkreideschichten in der nordostchinesischen Provinz Liaoning. Tatsächlich hatten jedoch geschickte Präparatoren einem fossilen Vogelskelett mit Federabdrücken den langen Wirbelschwanz und die Hinterbeine eines kleinen Theropoden angefügt.
Eine gründliche Untersuchung ergab nun, dass der Vogelteil eine neue, bezahnte, primitive Art repräsentiert. Ihrem hoch entwickelten Schultergürtel, dem Flügelskelett und der Befiederung zufolge konnte sie jedoch bereits gut fliegen. Inzwischen wurde das offenbar illegal in die USA exportierte Fossil offiziell an China zurückgegeben; Paläontologen in Peking bemühen sich zur Zeit um eine genaue Klassifizierung.
Warum schien eine solche Chimäre zunächst glaubhaft? Offenbar war die Fachwelt durch die zuvor entdeckten, "behaarten" und "befiederten" Dinosaurier an solche "Missing Links" aus China gewöhnt, sodass ein weiterer "Dinosaurier mit Vogelmerkmalen" zunächst nicht sonderlich überraschte.
Gerade die neuen chinesischen Fossilfunde machen kritischen Paläontologen zunehmend bewusst, dass eine Klassifizierung von Übergangsformen zwischen Reptilien und Vögeln schwierig, wenn nicht unmöglich ist. In den fossilen Überresten lassen sich befiederte, vogelähnliche Dinosaurier kaum von dinosaurierähnlichen Vögeln unterscheiden – es sei denn, man hält an der Feder als einem diagnostischen Merkmal fest, das nur den Vögeln zukommt. Das aber ist eine Frage der Definition, die nicht von der Natur vorgegeben ist, sondern von unserem menschlichen Schubladendenken.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2000, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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