Neuer Rekord-Supraleiter mit Quecksilber
In letzter Zeit war es stiller geworden um die 1986 entdeckten keramischen Hochtemperatur-Supraleiter auf Kupferoxid-Basis. Nachdem die maximale Sprungtemperatur für den Übergang zwischen normaler und widerstandsloser elektrischer Leitfähigkeit seit fünf Jahren bei 125 Kelvin (–148 Grad Celsius) stagniert hatte, schienen die Möglichkeiten dieser Substanzklasse ausgereizt. Doch Anfang dieses Jahres brachte eine neue Verbindung der Zusammensetzung HgBa2CuO4+delta; mit Quecksilber (Hg) als entscheidender Komponente wieder Bewegung in das Gebiet ("Nature", 18. März 1993, Seite 226). Ihre Sprungtemperatur von 94 Kelvin war für eine so vergleichsweise einfach aufgebaute Verbindung ungewöhnlich hoch und schien zudem steigerungsfähig.
Bei der Suche nach Kupferoxid-Keramiken, die bei möglichst hoher Temperatur noch supraleitend sind, hatten sich nämlich einige systematische Beziehungen zwischen Struktur und elektrischen Eigenschaften herausgeschält. Eine der wichtigsten betraf die Abfolge der als Leitungsbahnen dienenden Kupfer-Sauerstoff-Schichten im Kristallgitter der keramischen Supraleiter: Je mehr solche Schichten unmittelbar aufeinanderfolgen, desto höher liegt die Sprungtemperatur. Nun enthält das genannte Quecksilbe-Derivat isolierte Kupferoxid-Schichten, die jeweils durch eine Lage aus Quecksilberoxid getrennt sind. Dies weckte von Beginn an Hoffnungen, daß sich die Sprungtemperatur durch chemisches Fein-Tuning vielleicht noch anheben ließe.
Diese Hoffnungen haben sich binnen kürzester Frist erfüllt. Hans R. Ott und seine Mitarbeiter an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich konnten inzwischen ein quecksilberhaltiges Material herstellen, das bis 130 Kelvin supraleitend ist – ein neuer Rekord. Wie die Analyse ergab, besteht es größtenteils aus einem Gemisch der beiden Verbindungen HgBa2Ca2Cu3O8+delta und HgBa2CaCu206+delta, in denen jeweils drei beziehungsweise zwei Kupferoxid-Schichten direkt übereinanderliegen. Eine Komponente dieses Gemisches, bei der es sich vermutlich um die Verbindung mit drei direkt benachbarten Kupferoxid-Schichten handelt, beginnt sogar schon bei ungefähr 133,5 Kelvin supraleitend zu werden.
Dieser Erfolg entbehrt freilich nicht einer gewissen Ironie. Schon der bisherige Rekordhalter TI2Ba2CaCu3O10 enthielt mit Thallium (Tl) ein hochgiftiges Element, das seine kommerziellen Einsatzmöglichkeiten von vornherein einschränkt. Sein Nachfolger ist in diesem Punkt wenig besser. Es scheint, als reiche die Natur den Gral der Höchsttemperatur-Supraleitfähigkeit nur als Giftbecher. (G. T.)
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1993, Seite 24
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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