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Neutrinomasse nachgewiesen?

Eine japanisch-amerikanische Wissenschaftlergruppe hat die bisher überzeugendsten Anzeichen dafür gefunden, daß Neutrinos nicht, wie gemeinhin angenommen, masselos sind. Falls korrekt, hätte dieses Ergebnis bedeutende Konsequenzen für Theoretische und Teilchenphysik ebenso wie für Astrophysik und Kosmologie.


Wenn wissenschaftliche Befunde in den Tageszeitungen stehen, bevor sie in Fachjournalen erscheinen, ist Vorsicht geboten – die kalte Fusion mag als warnendes Beispiel dienen. Mit Vorbehalt aufzunehmen ist deshalb auch die Pressemitteilung, mit der die Super-Kamiokande-Kollaboration – eine Gruppe aus 124 japanischen, polnischen und amerikanischen Wissenschaftlern – am 5. Juni ein Resultat verkündete, das die Teilchen- und Astrophysik auf eine neue Grundlage stellen würde, falls es der Überprüfung standhält. Demnach hätte das Neutrino eine von Null verschiedene Ruhemasse – im Widerspruch zum sogenannten Standardmodell, auf dem die heutige Teilchenphysik aufbaut.

Ursprung als Phantasiegebilde


Kühne Behauptungen sind beim Neutrino freilich nichts Neues. Schon seine Aufnahme in die Liste der subatomaren Partikel war mit einem dicken Fragezeichen versehen. Der österreichische Physiker Wolfgang Pauli (1900 bis 1958; Physik-Nobelpreis 1945) postulierte es 1931 kurzerhand, um das kontinuierliche Spektrum beim radioaktiven Betazerfall zu erklären, ohne das fundamentale Prinzip der Energie-Erhaltung zu verletzen. Danach sollte es sich um ein neutrales Teilchen mit halbzahligem Spin und verschwindender Masse handeln.

Es dauerte allerdings mehr als 20 Jahre, bis das Phantasiegebilde auch real in Erscheinung trat. Im Gegensatz zu allen anderen Elementarteilchen unterliegt das "Neutralchen" nämlich einzig der schwachen Wechselwirkung – und die macht ihrem Namen alle Ehre: Die beim Betazerfall entstehenden (Anti-)Neutrinos legen in Blei durchschnittlich eine Strecke von 100 Lichtjahren zurück, ehe sie mit einem Metallatom kollidieren. Entsprechend schwierig gestaltete sich der Nachweis der Teilchen; erst 1952 und 1956 hatten Frederick Reines, heute Mitglied der Kamiokande-Gruppe, und Clyde Cowan bei (Anti-Elektron-)Neutrinos aus Kernreaktoren Erfolg.

Zehn Jahre danach entdeckten amerikanische Physiker am Brookhaven-Nationallaboratorium, daß es eine Variante gibt, die – in der bildhaften Sprache der Teilchenphysiker – ein anderes Flavor ("Aroma") hat: das Myon-Neutrino. Später, als die Existenz von drei sogenannten Quark-Lepton-Familien zum gesicherten Bestandteil physikalischer Erkenntnis wurde, postulierte man als dritten Typ das Tau-Neutrino, für das es aber bis heute noch keinen direkten experimentellen Nachweis gibt.



Das Masseproblem


Indem der italienische Physiker Enrico Fermi (1901 bis 1954; Physik- Nobelpreis 1938) die Betazerfalls-Daten mit seiner 1933/34 entwickelten ersten Theorie der schwachen Wechselwirkung verglich, konnte er zeigen, daß die Ruhemasse des Neutrinos null oder jedenfalls sehr klein sein muß. Ob sie exakt null ist, zählt zu den wichtigsten Fragen der heutigen Physik. Von der Antwort hängt nicht nur die Gültigkeit des Standardmodells der Elementarteilchen ab, sondern auch unser Bild von der Dynamik und Zukunft des Universums. Neutrinos sind die weitaus häufigsten Partikel im Kosmos. Hätten sie eine Masse, könnten sie wesentlich zu jener "dunklen Materie" beitragen, für deren Wirken im All es zahlreiche Hinweise gibt, ohne daß man jedoch wüßte, woraus sie genau besteht. Von der Gesamtmasse dieses unsichtbaren Stoffes hängt es ab, ob sich das Universum endlos ausdehnt oder irgendwann wieder in sich zusammenstürzt.

Züricher, Mainzer und Moskauer Gruppen versuchten über viele Jahre, anhand des Betazerfalls von Tritium (einem schweren Wasserstoff-Isotop) die Masse des Elektron-Neutrinos direkt zu bestimmen. Dabei ergeben sich jedoch nur obere Grenzwerte; unter Berücksichtigung methodischer Unsicherheiten liegen sie derzeit bei etwa vier Elektronenvolt (da Masse und Energie proportional zueinander sind, drücken Physiker sehr kleine Massen oft durch ihr Energie-Äquivalent aus). Das ist zwar ein extrem niedriger Wert, wenn man ihn mit den 510999 Elektronenvolt für das Elektron vergleicht. Trotzdem läßt sich anhand der Beta-Zerfalls-Untersuchungen nicht entscheiden, ob die Masse womöglich exakt null ist.

Bessere Chancen zur Beantwortung dieser Frage bietet eine indirekte Methode, die zahlreiche Gruppen gleichfalls schon seit vielen Jahren anwenden. Wenn die Ruhemasse der Neutrinos von Null abweicht, entsprechen die drei bekannten Neutrino-Arten nämlich verschiedenen Masse-Eigenzuständen. In diesem Fall aber können sie oszillierend ineinander übergehen – und zwar um so schneller, je "schwerer" sie sind. Die Beobachtung solcher Oszillationen wäre damit der Beweis, daß die Neutrinomasse nicht null sein kann.

Vier unterschiedliche Neutrinoquellen wurden für entsprechende Untersuchungen benutzt: die Sonne, die Erdatmosphäre, Kernreaktoren und Teilchenbeschleuniger. Am bekanntesten sind sicherlich die Messungen der solaren Neutrinos – beispielsweise im Rahmen des GALLEX-Experiments (Spektrum der Wissenschaft, August 1992, Seite 16) –, die im Vergleich zur theoretischen Erwartung durchweg zu niedrige Werte ergeben. Dieses Defizit könnte daher rühren, daß sich die in der Sonne erzeugten Elektron-Neutrinos sowohl im Sonneninnern (dort verstärkt) als auch während des rund acht Minuten dauernden Flugs zur Erde teilweise in die anderen Neutrino-Arten umwandeln und so dem Nachweis entziehen. Möglich wäre aber auch, daß bei den Kernreaktionen innerhalb der Sonne weniger Neutrinos gebildet werden als theoretisch vorhergesagt. Somit liefern die Ergebnisse zwar Hinweise auf die gesuchten Oszillationen, aber keinen unzweideutigen Beweis dafür. Dasselbe gilt für andere Experimente. Um so brisanter ist die Erfolgsmeldung in der Presseerklärung der Super-Kamiokande-Gruppe.



Das Super-Kamiokande-Resultat


Die Wissenschaftler beziehen sich dabei auf Messungen an atmosphärischen (Anti-)Neutrinos. Diese entstehen, wenn kosmische Strahlen auf die Erdatmosphäre treffen. Sie sind anhand ihrer hohen Energie, die mehr als 10 Milliarden Elektronenvolt betragen kann, klar von den solaren Neutrinos zu unterscheiden, die nur bis etwa 20 Millionen Elektronenvolt erreichen.

Als Detektor verwendet die Super-Kamiokande-Gruppe einen 41 Meter hohen Tank mit 50000 Tonnen Wasser rund 1000 Meter unter der Erde in einem ehemaligen Bergwerk in Japan (Bild 1). Ein kleiner Teil der einfallenden Neutrinos erzeugt, je nach Flavor, bei der Kollision mit einem Quark in den Atomkernen der Wassermoleküle Elektronen oder Myonen. Diese Teilchen bewegen sich – in Flugrichtung der ursprünglichen Neutrinos – schneller als Licht durch das Wasser. Ähnlich der Schockfront beim Überschallflug entsteht dadurch ein (als Tscherenkow-Strahlung bezeichneter) Lichtkegel, der von den mehr als 13000 Photomultipliern, die rund um den Tank angebracht sind, registriert wird.

Indem man ermittelt, wieviele Photomultiplier wann an welchen Positionen ansprechen, läßt sich feststellen, wo ein Neutrino mit einem Quark kollidiert ist, aus welcher Richtung es kam und welche Energie es hatte. Elektron-Neutrinos kann man von ihren Myon-Pendants unterscheiden, weil die bei der Kollision gebildeten Elektronen stärker gestreut werden als Myonen und deshalb ein verwascheneres Signal liefern. Tau-Neutrinos sind dagegen in diesem Detektor nicht nachweisbar; denn sie würden bei der Wechselwirkung mit einem Quark ein Tau-Lepton erzeugen, das aber so schwer und kurzlebig ist, daß dieser Vorgang nur äußerst selten auftritt und daß selbst in den wenigen Fällen, in denen er stattfindet, das entstehende Tau-Lepton zu langsam wäre, um Tscherenkow-Strahlung zu erzeugen.

Das Verhältnis der atmosphärischen Myon- zu Elektron-Neutrinos (einschließlich der jeweiligen Antiteilchen) läßt sich bis auf etwa 5 Prozent genau berechnen. Die Super-Kamiokande-Gruppe fand in 414 Tagen Beobachtungszeit bei Neutrinos mit mehr als einer Milliarde Elektronenvolt Energie jedoch beträchtliche Abweichungen von der Vorhersage: Der Anteil der Myon-Neutrinos betrug im Mittel nur 66 Prozent des theoretisch erwarteten Wertes (mit einem statistischen Fehler von 6 und einem systematischen Fehler von 8 Prozent). Dagegen ergab sich für Elektron-Neutrinos der berechnete Fluß.

Noch bemerkenswerter als der zu niedrige Durchschnittswert ist allerdings, daß die gemessene Anzahl von Myon-Neutrinos in hohem Maße von der Richtung abhing, aus der die Teilchen kamen (Bild 2). Stammten sie aus der Atmosphäre über Japan, so daß sie nur etwa 20 Kilometer Wegstrecke bis zu dem unterirdischen Detektor hatten, entsprach ihr Fluß im Vergleich zu dem der Elektron-Neutrinos exakt dem theoretischen Wert, waren sie jedoch auf der entgegengesetzten Seite des Erdballs entstanden, so daß sie ungefähr 12700 Kilometer bis zum Nachweisgerät zurücklegen mußten, wurden nur halb so viele registriert wie erwartet.

Die Super-Kamiokande-Gruppe deutet diese Diskrepanz als klares Indiz für Oszillationen. Myon-Neutrinos können offenbar über Strecken von einigen tausend Kilometern ihr Flavor ändern und dabei unter anderem in nicht nachweisbare Tau-Neutrinos übergehen. Eine entsprechende Umwandlung für Elektron-Neutrinos findet nach den Ergebnissen von Reaktor-Experimenten über so geringe Entfernungen dagegen praktisch ebensowenig statt wie Oszillationen zwischen Myon- und Elektron-Neutrinos.

Auch wenn die neuen Resultate also nahelegen, daß die beteiligten Neutrinos eine Masse haben, läßt sich deren Absolutwert nicht daraus ableiten. Was man findet, ist lediglich ein Wert von 0,005 Elektronenvolt zum Quadrat für die Differenz zwischen den Quadraten der Massen von Tau- und Myon-Neutrino.

Ähnliche Ergebnisse für atmosphärische Neutrinos wurden 1994 bereits mit dem Vorgänger-Detektor Kamiokande erzielt, und für niederenergetische Solar-Neutrinos mit anderen Detektoren noch früher. Das Resultat als solches ist also keineswegs neu. Es ist nur statistisch besser abgesichert, weil insgesamt viel mehr Teilchen registriert wurden.

Anders als in der Presseerklärung behauptet die Super-Kamiokande-Gruppe in ihrem zur Veröffentlichung vorgesehenen Fachartikel denn auch nicht, Neutrino-Oszillationen nachgewiesen zu haben, sondern schlägt sie lediglich als Erklärung für die Meßergebnisse vor. Fazit: ein wichtiges Ergebnis, das den bisher deutlichsten Hinweis auf eine von Null verschiedene Neutrinomasse geliefert hat; das letzte Wort in dieser Sache aber ist es noch nicht.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1998, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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