Editorial: Neutrinos als Botenteilchen
Liebe Leserin, lieber Leser,
bevor Sie diesen ersten Satz zu Ende gelesen haben, sind bereits zwei Billiarden Neutrinos durch Ihren Körper hindurchgeflogen. Haben Sie etwas davon gemerkt? Nein? Können Sie auch gar nicht. Denn Neutrinos ist es egal, ob ihnen Materie im Weg steht oder nicht – sie sausen mit Lichtgeschwindigkeit hindurch. Vielleicht einmal in Ihrem Leben wird es passieren, dass eines dieser Neutrinos von einem »Ihrer« Atomkerne gestoppt wird. Und selbst dann wird lediglich ein Proton in ein Neutron umgewandelt. Das merken Sie ebenfalls nicht.
Diese hohe Durchdringungsfähigkeit macht die geisterhaften Neutrinos für die Forschung interessant. Denn sie entstehen im Innern von Sternen ebenso wie im Umfeld von massereichen Schwarzen Löchern – überall dort, wo hohe Energien im Spiel sind und Kernreaktionen ablaufen. Sie sind die einzigen Boten, die uns direkte Informationen über die energiereichsten Prozesse im Universum liefern. Mit ihrer Hilfe sehen wir unmittelbar in die astrophysikalischen Quellen hinein. – Wenn da nur nicht ein Problem wäre: Wie lassen sich Teilchen nachweisen, die ähnlich schwer zu fassen sind wie die sprichwörtlichen Geister?
Hinzu kommt, dass hochenergetische Neutrinos von fernen Himmelsobjekten, denen die Wissenschaftler auf die Spur kommen wollen, weit weniger zahlreich sind, als die oben genannte Zahl suggeriert. (Die Neutrinos, die Ihren Körper durchdringen, stammen fast alle von unserer Sonne und haben vergleichsweise wenig Energie.) Mit ausgeklügelten Verfahren haben die Forscher auch dieses Hindernis bewältigt. Und nun beginnen sie, die Früchte ihrer Arbeit zu ernten: Vor Kurzem ist ihnen ein Neutrino ins Netz gegangen, das hilft, ein hundert Jahre altes Rätsel zu lösen – nämlich woher die kosmische Teilchenstrahlung stammt, die unaufhörlich auf die Erde einprasselt. Wie es gelungen ist, aus einem einzigen Neutrino solch weit reichende Erkenntnisse zu erschließen, lesen Sie ab Seite 24.
Herzlichst grüßt Ihr
Uwe Reichert
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