Nobelpreis für Physik - erfolgreiche Suche nach neuen Leptonen
Für die Entdeckung zweier Teilchen, die zu den Grundbausteinen der Materie gehören, werden dieses Jahr zwei amerikanische Experimentalphysiker ausgezeichnet: Frederick Reines, der die Existenz des Neutrinos bestätigte, sowie Martin L. Perl, der ein dem Elektron ähnliches schweres Teilchen, das Tau-Lepton, entdeckte.
Die beiden Wissenschaftler werden damit für Experimente geehrt, die wesentlich zum Verständnis subatomarer Partikel und Vorgänge beitrugen und mithalfen, das sogenannte Standardmodell der Elementarteilchenphysik zu entwickeln. Mit der Wahl der Preisträger hat die Königlich Schwedische Akademie eine längst überfällige Entscheidung getroffen – wurden doch die ausgezeichneten Forschungsarbeiten bereits vor 40 beziehungsweise vor 20 Jahren durchgeführt und zwischenzeitlich andere Untersuchungen, die auf den Erfolgen der diesjährigen Laureaten aufbauten, mit Nobelpreisen gewürdigt.
Frederick Reines war einer der Physiker, die am Manhattan-Projekt zum Bau der amerikanischen Uran- und Plutoniumbomben teilgenommen hatten. Auch nach dem Krieg arbeitete er zunächst weiter an der Erprobung von Kernspaltungswaffen. Doch eines Tages im Jahre 1951, so erinnerte er sich einmal, ertappte er sich dabei, wie er "die leere Wand anstarrte und nach einer Frage suchte, deren Lösung zu einer neuen Lebensaufgabe werden könnte".
Doch kamen seine Gedanken nicht von der Atombombe los. Die unkontrolliert ablaufende Kernspaltungsreaktion nach dem Zünden eines nuklearen Sprengsatzes, so überlegte er sich, erzeugt eine Vielzahl von radioaktiven Spaltprodukten, die sich über aufeinanderfolgende Beta-Zerfälle in stabilere Kerne umwandeln, sowie freie Neutronen, die ebenfalls zerfallen. Dabei müßte eine Unmenge Neutrinos freigesetzt werden. Gemeinsam mit einem Kollegen aus dem Los-Alamos-Nationallaboratorium, Clyde Cowan, beschloß er, diese illustren Teilchen nachzuweisen.
Das rätselhafte "Gibtsnicht"
Doch niemand wußte zu jenem Zeitpunkt, wie man dies bewerkstelligen könne. Neutrinos waren sozusagen eine Erfindung der Theorie, um zwei der grundlegenden Prinzipien der Physik zu retten: den Energie- und den Drehimpuls-Erhaltungssatz.
Jahrzehntelang hatte die Erscheinung des Beta-Zerfalls den Physikern Kopfzerbrechen bereitet. Manche Atomkerne, so beobachtete man, können sich unter Emission eines Elektrons in diejenigen eines im Periodensystem benachbarten Elements mit höherer Ordnungszahl umwandeln.
Wie bei allen physikalischen Vorgängen sollten auch bei diesem Zerfall bestimmte Größen – wie Ladung, Energie, Impuls und Drehimpuls – erhalten bleiben, also vor und nach dem Ereignis in der Summe denselben Wert haben. Für die Ladung war dies offensichtlich erfüllt, denn die negative Ladung des Elektrons wird durch die zusätzliche positive im Kern ausgeglichen. Um auch dem Energiesatz genüge zu tun, müßte die in Experimenten ermittelte Massendifferenz zwischen Ausgangskern und Zerfallsprodukten vom Elektron als Bewegungsenergie aufgenommen werden. Und weil bei allen Beta-Zerfällen einer bestimmten Kernart immer die gleichen Endprodukte entstehen, sollten der freigesetzte Energiebetrag und somit die kinetische Energie des emittierten Elektrons ebenfalls stets gleich sein.
Doch der englische Physiker James Chadwick (1891 bis 1974), der seit 1913 an der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin tätig war, wies im April 1914 nach, daß die emittierten Elektronen irgendeine Energie zwischen null und einem Maximalwert haben können. Zwei weitere Engländer, Charles D. Ellis und William A. Wooster, bestätigten 1927 experimentell, daß diese kontinuierliche Energieverteilung dem Beta-Zerfall selbst eigen ist und nicht etwa in Sekundärprozessen erzeugt wird. Wenn jedoch das Elektron nicht die gesamte fehlende Massenenergie aufnimmt, müßte eigentlich noch ein zweites Teilchen emittiert werden, damit die Gesamtenergie erhalten bliebe. Nach dem damaligen Kenntnisstand kam dafür nur ein Photon in Frage – doch ein solches war nicht nachzuweisen.
Eine Untersuchung des Spins der zerfallenden Atomkerne und der emittierten Elektronen zeigte, daß offenbar auch der Drehimpuls beim Beta-Zerfall nicht erhalten bleibt. Als Differenz zwischen dem Gesamtspin vor und nach dem Zerfall ergab sich stets ein Wert von 1/2.
Der aus Österreich stammende Physiker Wolfgang Pauli (1900 bis 1958, Nobelpreis 1945) verfiel 1930 auf einen "verzweifelten Ausweg", um dieses Problem zu lösen: Er postulierte, daß beim Beta-Zerfall außer dem Elektron ein weiteres Teilchen entstehe, das ungeladen sei und den Spin 1/2 habe. Doch erst nachdem Chadwick 1932 das Neutron als weiteren Kernbaustein entdeckt hatte (wofür er 1935 den Physik-Nobelpreis erhielt) und sich damit das Kernmodell vervollständigte, wagte Pauli, seine These zu veröffentlichen. Dem Italiener Enrico Fermi (1901 bis 1954, Nobelpreis 1938) war es dann vorbehalten, aus all diesen Erkenntnissen, einschließlich der neuen quantentheoretischen Überlegungen, eine in sich geschlossene Theorie zu entwickeln. Daraus konnte er 1933 ableiten, daß das Neutrino, wie er das von Pauli postulierte Teilchen nannte, kein Bestandteil des Atomkerns ist, sondern erst beim Beta-Zerfall entsteht und eine nicht wesentlich von null verschiedene Ruhemasse haben kann.
Ein Teilchen ohne Ladung und Masse, wie es das Neutrino sein sollte, kann praktisch nicht mit Materie wechselwirken und folglich auch kaum mit einem Detektor nachgewiesen werden. Die Physiker Hans Bethe und Rudolf Peierls (1907 bis 1995) betrachteten den einzigen Prozeß, der sich womöglich für einen Nachweis eignen würde: den inversen Beta-Zerfall, also die Absorption eines Neutrinos durch ein Proton, wobei dieses sich in ein Neutron umwandelt und ein Positron, das Antiteilchen des Elektrons, emittiert.
Bethe und Peierls fanden für die Wahrscheinlichkeit, daß ein Neutrino tatsächlich absorbiert wird, einen gegenüber anderen Kernreaktionen "phantastisch kleinen Wert": Nach ihren Berechnungen könnte ein Neutrino im Mittel eine Wasserschicht von 1021 Zentimetern Dicke – entsprechend etwa 1000 Lichtjahren – durchqueren, bevor es von einem Proton eingefangen würde. Mit Recht folgerten sie, man werde wohl niemals ein Neutrino beobachten können.
Doch die beiden Theoretiker hatten, wie Peierls später zugab, weder mit dem "Vorhandensein von Kernreaktoren, die Neutrinos in riesigen Mengen produzieren", noch mit dem "Erfindungsreichtum der Experimentatoren" gerechnet.
Projekt "Poltergeist"
Reines und Cowan nahmen tatsächlich 1953 die Herausforderung an, Neutrinos über den inversen Beta-Zerfall nachzuweisen. Anfangs planten sie, eine Atombombenexplosion als Quelle zu nutzen, doch zeigte sich, daß ein Kernreaktor ebenfalls geeignet sein müßte, zumal dann Neutrinos kontinuierlich in großer Anzahl zur Verfügung ständen.
Sollte eines dieser Teilchen (die man nach heutiger Konvention Antineutrinos nennt) von einem Proton absorbiert werden, würde das dabei entstehende Positron binnen kurzem mit einem Elektron in zwei Gamma-Quanten zerstrahlen. In einer geeigneten organischen Flüssigkeit würden diese einige Atome ionisieren und dadurch zwei Lichtblitze auslösen, die sich mit Photomultipliern nachweisen ließen. (Solche Szintillatorflüssigkeiten waren erst 1950 entdeckt worden.)
Erste Messungen an einem der Kernreaktoren in Hanford (US-Bundesstaat Washington) brachten keine eindeutigen Ergebnisse – die Störsignale durch Teilchen aus der kosmischen Höhenstrahlung waren zu zahlreich. Einen verbesserten und für damalige Verhältnisse riesigen Detektor bauten sie schließlich an einem neu errichteten leistungsstarken Reaktor am Savannah River (South Carolina) zwölf Meter unter der Erdoberfläche auf. Die stärkere Abschirmung sollte das Hintergrundrauschen reduzieren; und mit dem Detektor selbst hofften sie nun auch diejenigen Gamma-Quanten nachzuweisen, die ein Cadmium-Kern aussendet, wenn er das beim inversen Beta-Zerfall entstehende und durch Stöße mit anderen Atomen abgebremste Neutron einfängt (Bild). Damit sollten eine charakteristische Zeitspanne nach den ersten Lichtblitzen aus der Elektron-Positron-Zerstrahlung weitere aus dem Neutroneneinfang zu beobachten sein.
Nach einem Jahr Meßbetrieb und zahlreichen Kontrollexperimenten, die Mißdeutungen ausschließen sollten, waren sich Reines und Cowan sicher: Im Mittel registrierten sie pro Stunde drei Zählereignisse (bei etwa 1013 Antineutrinos, die pro Quadratzentimeter und Sekunde den Detektor durchdrangen). Am 14. Juni 1956 schließlich sandten sie ein Telegramm an Pauli: "Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, daß wir durch Beobachtung des inversen Beta-Zerfalls von Protonen eindeutig Neutrinos aus Spaltfragmenten entdeckt haben ...".
In der Folgezeit lösten Untersuchungen des Beta-Zerfalls und der Neutrinos weitere bedeutende Entdeckungen aus. So zeigte sich, daß bei Prozessen, an denen Myonen (sozusagen schwere Verwandte der Elektronen) beteiligt sind, ebenfalls Neutrinos entstehen. Diese sind jedoch von den Elektron-Neutrinos verschieden, wie Leon Lederman, Melvin Schwartz und Jack Steinberger 1962 nachweisen konnten. Für diese Entdeckung erhielten die drei amerikanischen Physiker 1988 den Nobelpreis, wohingegen dieselbe Ehrung Reines erst in diesem Jahr zuteil wird (Cowan, 1920 geboren, starb bereits 1974).
Ein neues Lepton: das Tau
Heute weiß man, daß das Elektron, das Myon und die beiden ihnen zugeordneten Neutrinos zu einer Teilchengruppe – den Leptonen – gehören, die der sogenannten schwachen Wechselwirkung unterliegt. Bis Mitte der siebziger Jahre waren nur diese vier Leptonen bekannt (und ihre vier Antiteilchen, nämlich das Positron, das positive Myon sowie ihre beiden Antineutrinos). Diesen vier "leichten" Partikeln – so die Bedeutung des Begriffs Lepton – standen vier schwere Quarks (und vier Antiquarks) gegenüber, die der starken Wechselwirkung unterliegen und zwischen 1968 und 1974 in Experimenten mit Teilchenbeschleunigern entdeckt wurden. Zusammen bildeten diese acht Teilchen zwei Familien, bestehend aus jeweils zwei Leptonen und zwei Quarks. Das System fundamentaler Teilchen war damit sehr übersichtlich und schien komplett zu sein.
Doch diese Ordnung wurde gestört, als Martin L. Perl von der Universität Stanford (Kalifornien) und seine Mitarbeiter Hinweise auf ein weiteres Lepton fanden. Diese Arbeitsgruppe ging der grundlegenden Frage nach, warum es überhaupt eine zweite Familie von Partikeln gibt, wo doch alle beobachtete Materie – von exotischen Experimenten mit Beschleunigern einmal abgesehen – nur aus Teilchen der ersten Familie besteht. Wozu wiederholt sich die Natur? Und: Gibt es gar noch weitere Familien?
Als 1972 in Stanford der Elektron-Positron-Collider SPEAR in Betrieb ging, verfügte Pearls Team über eine geeignete Maschine, um diese Fragen untersuchen zu können. Bei der Kollision von hochenergetischen Elektronen und Positronen entsteht ein Energieblitz, aus dem Teilchen rematerialisieren können – darunter vielleicht auch einige neue.
Unter den beobachteten Teilchenreaktionen waren einige, bei denen Elektronen und Antimyonen beziehungsweise Positronen und Myonen entstanden, also Paare verschiedener Leptonenarten. Um nicht einem weiteren Erhaltungssatz der Physik, der Leptonenzahl-Erhaltung, zu widersprechen, mußten – wie beim Beta-Zerfall – weitere Teilchen entstanden sein, die aber keine sichtbaren Spuren hinterließen. Bis 1975 hatten die Forscher so viele dieser Reaktionen registriert, um schließlich belegen zu können, daß bei der Annihilation von Elektronen und Positronen zunächst ein Teilchen-Antiteilchen-Paar entsteht, das sofort in die bereits bekannten Leptonen zerfällt. Das neue Partikel nannten sie Tau, nach dem ersten Buchstaben des griechischen Wortes triton ("das Dritte"), weil es der erste entdeckte Vertreter einer dritten Teilchenfamilie sein mußte.
Das Tau erwies sich in der Tat wie das Myon als dem Elektron ähnlich, nur mit dem Unterschied, daß es die 3500fache Masse hat und nach etwa 10-13 Sekunden zerfällt. Auch die Quarks der dritten Familie wurden mittlerweile gefunden. Aus Symmetriegründen muß es ebenfalls ein Tau-Neutrino geben, doch konnte dieses bislang nicht entdeckt werden.
Damit geben die Neutrinos weiterhin Rätsel auf. Insbesondere ist ungewiß, ob sie wirklich masselos sind, wie im Standardmodell angenommen. Bereits eine geringe Masse hätte bedeutende Konsequenzen nicht nur für die Teilchen-, sondern auch für die Astrophysik; denn aufgrund ihrer immensen Anzahl könnten sie dann einen erheblichen Teil der Masse des Universums ausmachen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1995, Seite 21
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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