Kosmologie: Parallel-Universen
Nicht nur in Science-Fiction-Romanen ist unser Universum bloß eines unter vielen. Auch ernst zu nehmende kosmologische Theorien und Interpretationen der Quantentheorie postulieren parallele Welten.
Gibt es eine Kopie von Ihnen, die gerade diesen Artikel liest? Jemand, der nicht Sie selbst ist, aber auf einem Planeten namens Erde lebt, mit blauen Ozeanen, schneebedeckten Bergen, fruchtbaren Feldern und großen Städten, Teil eines Sonnensystems mit acht weiteren Planeten? Das Leben dieser Person war bisher in jeder Hinsicht mit Ihrem identisch. Aber vielleicht entscheidet er oder sie sich gerade, diesen Artikel wegzulegen, während Sie weiterlesen.
Die Idee eines solchen Doppelgängers erscheint seltsam und unglaubwürdig – aber offenbar müssen wir uns mit diesem Gedanken anfreunden, denn astronomische Beobachtungen sprechen dafür. Aus dem einfachsten – und neuerdings wieder favorisierten – kosmologischen Modell folgt, dass in einer ungefähr 10 hoch 1028 Meter entfernten Galaxie ein Zwilling von Ihnen lebt. Zwar sprengt diese Entfernung alle astronomischen Maßstäbe, aber darum ist Ihr Doppelgänger nicht weniger real. Die Schätzung beruht auf einer einfachen Wahrscheinlichkeitsüberlegung und kommt ohne spekulative moderne Physik aus.
Den astronomischen Beobachtungen zufolge ist der Weltraum unendlich – oder zumindest genügend groß – und fast gleichmäßig von Materie erfüllt. In einem unendlich großen Raum müssen sogar die unwahrscheinlichsten Dinge irgendwo geschehen. Es gibt eine unendliche Anzahl anderer bewohnter Planeten, und nicht nur auf einem, sondern auf unendlich vielen davon leben Menschen, die genauso aussehen wie Sie, genauso heißen und dieselben Erinnerungen haben. Diese Menschen verwirklichen jede mögliche Variante Ihrer Lebensentscheidungen.
Höchstwahrscheinlich werden Sie Ihre Doppelgänger nie zu Gesicht bekommen. Man vermag maximal die 14 Milliarden Lichtjahre weit zu sehen, die das Licht seit dem Urknall zurückgelegt hat. Die entferntesten heute sichtbaren Objekte sind ungefähr 4´1026 Meter weit weg; diese Entfernung definiert das für uns beobachtbare Weltall, auch Hubble-Volumen, Horizontvolumen oder einfach unser Universum genannt. Die Universen unserer Doppelgänger sind Kugeln des gleichen Durchmessers mit dem Planeten unseres Alter Ego im Zentrum. Dies ist das einfachste Beispiel für Paralleluniversen. Jedes Universum ist nur ein kleiner Teil eines größeren "Multiversums".
Angesichts dieser Definition könnte man meinen, der Begriff des Multiversums gehöre für immer in den Bereich der Metaphysik. Doch die Grenze zwischen Physik und Metaphysik wird dadurch definiert, ob eine Theorie experimentell überprüfbar ist, und nicht dadurch, ob die Theorie ungewohnt ist oder unbeobachtbare Dinge enthält. Die Grenzen der Physik wurden immer weiter ausgedehnt und umschließen immer abstraktere – und ehemals metaphysische – Begriffe wie Erdkugel, unsichtbare elektromagnetische Felder, Zeitdilatation bei hohen Geschwindigkeiten, Quantensuperpositionen, Raumkrümmung und Schwarze Löcher. Das Multiversum gehört seit einigen Jahren auf diese Liste. Es beruht auf bewährten Theorien – insbesondere Relativitätstheorie und Quantenmechanik – und erfüllt beide Grundkriterien einer empirischen Wissenschaft: Es macht Vorhersagen und kann falsifiziert werden. Wissenschaftler diskutieren bis zu vier unterschiedliche Typen von Paralleluniversen. Dabei ist die Frage nicht, ob es das Multiversum gibt, sondern wie viele Ebenen es hat.
Ebene I: Jenseits unseres kosmischen Horizonts
Die Paralleluniversen Ihrer Doppelgänger bilden das Ebene-I-Multiversum. Wir alle akzeptieren die Existenz von Dingen, die wir nicht sehen, die wir aber beobachten könnten, wenn wir unseren Aussichtspunkt verlagerten oder bloß abwarten würden wie Leute, die Schiffe über dem Horizont auftauchen sehen. Mit Objekten hinter unserem kosmischen Horizont verhält es sich ähnlich. Das beobachtbare Universum wird jedes Jahr um ein Lichtjahr größer, weil das Licht von immer weiter entfernten Objekten Zeit hat, uns zu erreichen. Eine Unendlichkeit liegt da draußen und wartet darauf, gesehen zu werden. Wahrscheinlich sind Sie längst tot, bevor Ihre Alter Ego in Sichtweite gelangen, aber im Prinzip – und falls die kosmische Expansion mitspielt – können Ihre Nachkommen sie durch ein entsprechend starkes Teleskop beobachten.
Das Ebene-I-Multiversum mutet eher trivial an. Wie könnte der Raum nicht unendlich sein? Steht irgendwo ein Schild: "Achtung, Raum endet hier"? Falls dem so wäre, was läge dahinter? Tatsächlich stellt Einsteins Gravitationstheorie diese naive Ansicht in Frage. Ein konvex gekrümmter Raum könnte durchaus endlich sein. Ein kugel-, ring- oder brezelförmiges Universum hätte ein endliches Volumen und wäre doch unbegrenzt. Die kosmische Hintergrundstrahlung erlaubt empfindliche Tests solcher Modelle (siehe "Ist der Raum endlich?" von Jean-Pierre Luminet, Glenn D. Starkman und Jeffrey R. Weeks, Spektrum der Wissenschaft 7/1999, S. 50). Doch bislang sprechen alle Indizien dagegen. Die Daten passen viel besser zu unendlichen Modellen.
Eine andere Möglichkeit wäre das früher populäre "Insel-Universum": Der Raum ist unendlich, aber die Materie beschränkt sich auf einen endlichen Bereich, der uns umgibt. Eine Variante dieses Modells besagt, dass die Materie über große Entfernungen gemäß einer fraktalen Verteilung dünner wird. In beiden Fällen wären fast alle Universen im Ebene-I-Multiversum leer und tot. Allerdings zeigen neuere Beobachtungen des kosmischen Mikrowellenhintergrunds und der Galaxienverteilung, dass die Materie in großen Maßstäben höchst einförmig verteilt ist: Es gibt keine zusammenhängenden Strukturen, die größer sind als ungefähr 1024 Meter. Falls dieses Muster sich fortsetzt, wimmelt der Raum jenseits unseres beobachtbaren Universums von Galaxien, Sternen und Planeten.
Wesen in Ebene-I-Paralleluniversen erleben dieselben physikalischen Gesetze wie wir – freilich unter anderen Anfangsbedingungen. Vermutlich wurde die Materie durch Prozesse kurz nach dem Urknall so zufällig verteilt, dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit alle möglichen Anordnungen entstanden sind. Wie die Kosmologen vermuten, ist unser Universum mit seiner nahezu gleichmäßigen Materieverteilung und seinen anfänglichen Dichtefluktuationen von 1 zu 100000 recht typisch – zumindest für Universen, die Beobachter enthalten. Diese Annahme liegt der Schätzung zugrunde, dass Ihre nächstliegende identische Kopie 10 hoch 1028 Meter weit entfernt liegt. In einer Entfernung von rund 10 hoch 1092 Metern sollte es eine Kugel mit hundert Lichtjahren Radius geben, die mit der entsprechenden uns umgebenden identisch ist, sodass alle Beobachtungen, die wir in den nächsten hundert Jahren machen werden, völlig mit denen unserer Doppelgänger übereinstimmen. Rund 10 hoch 10118 Meter von uns entfernt sollte ein gesamtes Hubble-Volumen liegen, das mit unserem identisch ist.
Die Entfernung des Doppelgängers
Diese äußerst konservativen Schätzungen erhält man einfach durch Abzählen aller möglichen Quantenzustände, die ein Hubble-Volumen annehmen kann, wenn es nicht heißer ist als 108 Kelvin. Man stellt zum Beispiel die Frage, wie viele Protonen in ein Hubble-Volumen dieser Temperatur passen. Die Antwort lautet: 10118 Protonen. Da jedes dieser Teilchen entweder vorhanden sein kann oder auch nicht, gibt es 2 hoch 10118 mögliche Anordnungen von Protonen. Ein Kasten, der so viele Hubble-Volumina enthält, erschöpft sämtliche Möglichkeiten. Ein solcher Behälter misst sehr grob geschätzt 10 hoch 10118 Meter. Jenseits des Kastens müssen sich die Universen – unseres eingeschlossen – identisch wiederholen. Ungefähr dieselbe Zahl lässt sich auch aus thermodynamischen oder quantengravitationstheoretischen Schätzungen für den gesamten Informationsgehalt des Universums herleiten.
Ihr nächster Doppelgänger ist Ihnen höchstwahrscheinlich viel näher, als diese Zahlen vermuten lassen, denn die Prozesse der Planetenbildung und der biologischen Evolution verbessern Ihre Chancen erheblich. Astronomen schätzen, dass unser Hubble-Volumen mindestens 1020 bewohnbare Planeten enthält; einige davon könnten durchaus wie die Erde aussehen.
Das Konzept des Ebene-I-Multiversums wird ständig benutzt, um Theorien der modernen Kosmologie zu bewerten – auch wenn das Verfahren selten explizit erwähnt wird. Zum Beispiel haben die Kosmologen den kosmischen Hintergrund dazu verwendet, eine endliche sphärische Geometrie auszuschließen. Die heißen und kalten Flecken der Mikrowellenstrahlung haben eine charakteristische Größe, die mit der Krümmung des Raumes zusammenhängt, und die beobachteten Flecken scheinen für eine sphärische Gestalt zu klein zu sein.
Streng genommen handelt es sich um eine statistische Aussage. Da die mittlere Fleckengröße von einem zum anderen Hubble-Volumen zufällig variiert, könnte unser Universum uns täuschen: Es könnte sphärisch sein, aber zufälligerweise abnorm kleine Flecken haben. Wenn die Kosmologen sagen, sie hätten das sphärische Modell mit 99,9-prozentiger Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen, dann meinen sie eigentlich: Wenn dieses Modell richtig wäre, würde weniger als eins von tausend Hubble-Volumina so kleine Flecken zeigen wie das unsere.
Offensichtlich lässt sich die Multiversum-Theorie testen und falsifizieren, obwohl wir die anderen Universen nicht sehen können. Man muss das Ensemble der Paralleluniversen eingrenzen und über diesem Ensemble eine Wahrscheinlichkeitsverteilung – oder wie die Mathematiker sagen, ein Maß – definieren. Unser Universum sollte sich dabei als besonders wahrscheinlich erweisen. Andernfalls – wenn wir gemäß der Multiversum-Theorie in einem unwahrscheinlichen Universum leben – gerät die Theorie in Schwierigkeiten. Wie ich später zeigen werde, kann dieses Maßproblem ziemlich kompliziert werden.
Das Ebene-I-Multiversum war schon ein starkes Stück, aber nun versuchen wir uns eine unendliche Menge separater Ebene-I-Multiversen vorzustellen. Einige haben vielleicht andere Raumzeit-Dimensionen oder andere physikalische Konstanten. Diese Multiversen bilden ein Ebene-II-Multiversum und werden durch die Theorie der chaotischen ewigen Inflation vorhergesagt.
Die Inflation, eine Erweiterung der Urknalltheorie, beantwortet die Frage, warum das Universum so groß, so gleichförmig und so flach ist. Eine rapide Raumdehnung kurz nach dem Urknall vermag diese und andere Eigenschaften auf einen Streich zu erklären (siehe "Das selbstreproduzierende inflationäre Universum" von Andrei Linde, Spektrum der Wissenschaft 1/1995, S. 32). Die Adjektive "chaotisch" und "ewig" beziehen sich auf das Geschehen im größten Maßstab. Der Raum als Ganzes dehnt sich aus und wird damit ewig weiter fortfahren, aber einige Raumgebiete koppeln sich ab und bilden separate Blasen, ähnlich den Gasbläschen in einem aufgehenden Brotteig. Unendlich viele solcher kosmischen Blasen entstehen, und jede ist Keim eines Ebene-I-Multiversums – unendlich groß und erfüllt mit Materie, welche von dem Energiefeld, das die Inflation antrieb, abgelagert wurde.
Diese Blasen sind von der Erde sozusagen mehr als unendlich weit entfernt, denn man könnte sie, selbst wenn man unentwegt mit Lichtgeschwindigkeit reisen würde, niemals erreichen. Der Grund ist, dass der Raum zwischen unserer Blase und ihren Nachbarn schneller expandiert, als man ihn zu durchqueren vermag. Unsere Nachkommen werden ihre Doppelgänger in Ebene II prinzipiell nie zu Gesicht bekommen. Übrigens gilt aus demselben Grund: Falls die kosmische Expansion sich beschleunigt – wofür neuere Beobachtungen sprechen –, werden sie nicht einmal ihre Alter Ego in Ebene I sehen können.
Das Multiversum der Ebene II
Das Ebene-II-Multiversum ist viel abwechslungsreicher als Ebene I. Die Blasen unterscheiden sich nicht nur in ihren Anfangsbedingungen, sondern auch in vermeintlich unabänderlichen Natureigenschaften. In der modernen Physik herrscht die Meinung vor, dass die Dimensionalität der Raumzeit, die Eigenschaften der Elementarteilchen und viele Naturkonstanten nicht in physikalischen Gesetzen verankert sind, sondern aus so genannten Symmetriebrechungen hervorgingen. Zum Beispiel hatte der Raum in unserem Universum einer Theorie zufolge ursprünglich neun gleichberechtigte Dimensionen – aber nur drei davon nahmen an der kosmischen Expansion teil und wurden zu den uns vertrauten Raumdimensionen. Die übrigen sechs lassen sich heute nicht mehr beobachten, weil sie entweder mikroskopisch klein blieben und sich ringförmig einrollten oder weil die gesamte Materie nur eine dreidimensionale Membran im neundimensionalen Raum belegt. Jedenfalls wurde die ursprüngliche Symmetrie zwischen den Dimensionen gebrochen. Die Quantenfluktuationen, welche die chaotische Inflation antreiben, können in verschiedenen Blasen unterschiedliche Symmetriebrechungen erzeugen. Einige Blasen werden vielleicht vierdimensional, andere enthalten statt drei Quarkfamilien nur zwei und wieder andere haben vielleicht eine stärkere kosmologische Konstante als unser Universum.
Ein Ebene-II-Multiversum könnte aber auch aus der zyklischen Entstehung und Zerstörung von Universen hervorgehen. Wissenschaftlich wurde diese Idee erstmals in den 1930er Jahren von dem Physiker Richard C. Tolman untersucht und kürzlich durch Paul J. Steinhardt von der Princeton University sowie Neil Turok von der Cambridge University verfeinert. Das Steinhardt-Turok-Modell postuliert eine zweite dreidimensionale Membran, die in einer höheren Dimension parallel versetzt zu unserer verläuft (siehe "Die unsichtbaren Dimensionen des Universums" von N. Arkani-Hamed et al., Spektrum der Wissenschaft 10/2000, S. 44). Diese Parallelwelt ist eigentlich nicht wirklich ein eigenes Universum, denn sie steht mit unserer in Wechselwirkung. Aber das Ensemble der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Universen, das diese Membranen erzeugen, bildet ein nicht weniger vielfältiges Multiversum als die chaotische Inflation. Der Physiker Lee Smolin vom Perimeter Institute in Waterloo (kanadische Provinz Ontario) hat sich ein weiteres Multiversum ausgedacht, dessen Vielfalt der Ebene II entspricht. Es geht aber nicht aus Membranen hervor, sondern aus Schwarzen Löchern, in denen neue Universen sprießen.
Das anthropische Prinzip
Obwohl wir nicht mit anderen Paralleluniversen der Ebene II in Kontakt treten können, lässt sich ihre Existenz indirekt erschließen, denn dadurch werden einige seltsame Zufälle in unserem Universum erklärlich. Dafür ein "irdisches" Beispiel: Angenommen, Sie gehen in ein großes Hotel, bekommen das Zimmer mit der Nummer 1967 und bemerken, dass das Ihr Geburtsjahr ist. Was für eine unglaubliche Übereinstimmung, sagen Sie. Doch nach kurzem Nachdenken finden Sie das Ereignis nicht mehr so überraschend. Das Hotel hat Hunderte von Räumen, und Sie hätten keinen Gedanken an die Zimmernummer verschwendet, wenn Sie irgendeine andere bekommen hätten. Das heißt: Selbst wenn Sie gar nichts über Hotels wüssten, könnten Sie, um die Übereinstimmung zu erklären, auf das Vorhandensein vieler anderer Hotelzimmer schließen.
Oder nehmen wir die Masse der Sonne. Die Masse eines Sternes entscheidet über seine Leuchtkraft, und mit einfacher Physik kann man berechnen, dass Leben auf der Erde nur möglich ist, wenn die Masse der Sonne in dem schmalen Bereich zwischen 1,6´1030 und 2,4´1030 Kilogramm liegt. Andernfalls wäre es auf der Erde heute kälter als auf dem Mars oder heißer als auf der Venus. Die Sonnenmasse beträgt 2,0<´30 Kilogramm – auf den ersten Blick ein unglaublicher Glücksfall. Die Sternmassen variieren zwischen 1029 und 1032 Kilogramm, und die Chance, dass für unsere Sonne just der lebensfreundliche Wert herauskommt, ist extrem klein. Doch wie beim Hotelbeispiel lässt sich die Koinzidenz erklären, indem wir ein Ensemble – in diesem Fall eine Menge von Planetensystemen – und einen Auswahleffekt postulieren, nämlich die Tatsache, dass wir auf einem bewohnbaren Planeten leben müssen. Ein solcher beobachterabhängiger Auswahleffekt heißt "anthropisch". Er ist zwar nicht unumstritten, aber die Physiker sind sich einig, dass solche Selektionseffekte beim Überprüfen fundamentaler Theorien nicht ignoriert werden können.
Was für Hotelzimmer und Planetensysteme gilt, trifft auch auf Paralleluniversen zu. Die meisten aus Symmetriebrechung hervorgegangenen Eigenschaften scheinen fein abgestimmt zu sein. Würden ihre Werte nur wenig verändert, so entstünde ein völlig anderes Universum, in dem wir wahrscheinlich nicht existieren könnten. Wären die Protonen um 0,2 Prozent schwerer, könnten sie in Neutronen zerfallen und damit die Atome destabilisieren. Wäre die elektromagnetische Kraft um 4 Prozent geringer, gäbe es weder Wasserstoff noch Sterne. Wäre die schwache Wechselwirkung viel schwächer, gäbe es keinen Wasserstoff; wäre sie viel stärker, könnten Supernovae das interstellare Medium nicht mit schweren Elementen anreichern. Und bei einer viel größeren kosmologischen Konstante wäre die Expansion des Universums so rapide, dass keine Galaxien entstehen könnten.
Auch wenn der Grad der Feinabstimmung noch diskutiert wird, legen diese Beispiele die Existenz von Paralleluniversen mit anderen physikalischen Konstanten nahe. Die Theorie des Ebene-II-Multiversums sagt voraus, dass Physiker die Werte dieser Konstanten niemals aus Grundprinzipien werden herleiten können. Sie vermögen nur Wahrscheinlichkeitsverteilungen zu berechnen, indem sie Auswahleffekte berücksichtigen. Das Ergebnis ist nur so allgemein wie die Tatsache unserer Existenz.
Ebene III: Viele Quantenwelten
Die Paralleluniversen in den Ebenen I und II sind so weit entfernt, dass nicht einmal Astronomen zu ihnen Zugang haben. Doch die nächste Multiversumsebene liegt direkt vor unserer Nase. Sie entstammt der berühmt-berüchtigten Vielwelten-Interpretation der Quantenmechanik. Die Idee besagt, dass das Universum sich durch zufällige Quantenprozesse in unzählige Kopien verzweigt – je eine Kopie für jedes mögliche Ergebnis.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts revolutionierte die Theorie der Quantenmechanik die Physik, indem sie den atomaren Bereich erklärte – denn er gehorcht nicht den klassischen Regeln der Newton’schen Mechanik. Trotz des offensichtlichen Erfolgs der Theorie entbrannte eine hitzige Debatte über die richtige Interpretation. Die Theorie beschreibt den Zustand des Universums nicht mehr mit klassischen Größen wie Ort und Geschwindigkeit sämtlicher Teilchen, sondern mithilfe eines mathematischen Objekts namens Wellenfunktion. Gemäß der Schrödinger-Gleichung entwickelt sich dieser Zustand im Laufe der Zeit in einer von den Mathematikern als "unitär" bezeichneten Weise. Damit ist gemeint, dass die Wellenfunktion in einem abstrakten unendlichdimensionalen Raum namens Hilbert-Raum rotiert. Obwohl die Quantenmechanik oft als zufällig und unbestimmt charakterisiert wird, entwickelt sich die Wellenfunktion deterministisch. An ihr ist nichts zufällig oder unbestimmt.
"Kollaps" der Wellenfunktion?
Das Problem ist, wie diese Wellenfunktion mit unseren Beobachtungen zusammenhängt. Viele zulässige Zustandsfunktionen beschreiben Situationen, die der Intuition widersprechen – etwa Schrödingers berühmte Katze, die als so genannte Superposition gleichzeitig lebendig und tot ist. In der 1920er Jahren entledigten sich die Physiker des Problems, indem sie postulierten, die Wellenfunktion "kollabiere" bei jeder Beobachtung zu einem bestimmten klassischen Ergebnis. Dieser Zusatz vermochte zwar den Übergang von der Theorie zu den Beobachtungen zu erklären, aber er verwandelte eine elegante unitäre Theorie in ein nicht unitäres Flickwerk. Die prinzipielle Zufälligkeit, die der Quantenmechanik üblicherweise zugeschrieben wird, ist ein Ergebnis dieses Postulats.
Mit der Zeit haben viele Physiker diese Interpretation zugunsten einer anderen aufgegeben; sie wurde 1957 von Hugh Everett III entwickelt, als er Doktorand an der Princeton University war. Wie er zeigte, ist das Kollaps-Postulat unnötig. Die unverfälschte Quantenmechanik erzeugt in der Tat keine Widersprüche. Obwohl sie besagt, dass eine klassische Realität sich sukzessive in Superpositionen vieler solcher Realitäten aufspaltet, nehmen Beobachter diese Aufspaltung subjektiv nur als eine geringfügige Zufälligkeit wahr, wobei die Wahrscheinlichkeiten exakt mit denen des alten Kollaps-Postulats übereinstimmen. Diese Superposition von klassischen Welten ist das Ebene-III-Multiversum.
Everetts Vielwelten-Interpretation sorgt seit mehr als vier Jahrzehnten innerhalb und außerhalb der Physik für Verwirrung. Doch sie lässt sich recht einfach begreifen, wenn man zwei Standpunkte beim Betrachten einer physikalischen Theorie unterscheidet: den externen Standpunkt des Physikers, der seine mathematischen Formeln studiert wie ein Vogel, der von hoch oben die Landschaft überblickt, und den internen Standpunkt des Beobachters, der inmitten der von den Gleichungen beschriebenen Welt lebt wie ein Frosch in der Landschaft, die der Vogel überfliegt.
Vogelwarte und Froschperspektive
Aus der Vogelperspektive ist das Ebene-III-Multiversum einfach. Es gibt nur eine Wellenfunktion. Sie entwickelt sich glatt und deterministisch und zeigt keinerlei Anzeichen von Aufspaltung oder Parallelismus. Die abstrakte Quantenwelt, die von dieser sich entwickelnden Wellenfunktion beschrieben wird, enthält eine riesige Menge von parallelen klassischen Geschichtslinien, die sich unentwegt trennen und wieder verschmelzen, sowie zahlreiche Quantenphänomene, die sich einer klassischen Beschreibung entziehen. Die Beobachter nehmen aus ihrer Froschperspektive nur einen winzigen Teil dieser Gesamtrealität wahr. Sie können zwar ihr Ebene-I-Universum sehen, aber ein Prozess namens Dekohärenz – der den Kollaps der Wellenfunktion vortäuscht, ohne die Unitarität zu verletzen – verhindert, dass sie ihre Ebene-III-Kopien sehen. Immer wenn Beobachter vor eine Entscheidung gestellt werden und eine Auswahl zwischen den Alternativen treffen, führen Quanteneffekte in ihrem Gehirn zu einer Superposition der Ergebnisse – zum Beispiel "Lies den Artikel weiter" und "Lege den Artikel weg". Aus der Vogelperspektive betrachtet, verursacht dieser Entscheidungsprozess die Aufspaltung der Person in mehrere Kopien: in eine, die weiterliest, und eine, die aufhört. Aus der Froschperspektive jedoch ist sich kein Alter Ego des anderen bewusst und bemerkt das Verzweigen nur als geringfügige Zufälligkeit – eine gewisse Wahrscheinlichkeit, weiterzulesen oder nicht.
So seltsam dies klingen mag, genau die gleiche Situation tritt sogar im Ebene-I-Multiversum auf. Sie haben sich offensichtlich entschieden, diesen Artikel weiterzulesen, aber eines Ihrer Alter Ego in einer entfernten Galaxie hat die Zeitschrift nach dem ersten Absatz weggelegt. Der einzige Unterschied zwischen Ebene I und Ebene III ist der Ort, an dem sich Ihre Doppelgänger aufhalten. In Ebene I leben sie irgendwo im guten alten dreidimensionalen Raum. In Ebene III leben sie auf einem anderen Quantenzweig des unendlichdimensionalen Hilbert-Raums.
Die Existenz der Ebene III hängt entscheidend von der Annahme ab, dass die zeitliche Entwicklung der Wellenfunktion ausnahmslos unitär ist. Bis jetzt konnte im Experiment keine Abweichung von der Unitarität festgestellt werden. In den letzten Jahren wurde sie an immer größeren Systemen bestätigt, unter anderem an Fulleren-Molekülen aus sechzig Kohlenstoffatomen und an kilometerlangen optischen Fasern. Theoretisch erhielt die Unitarität durch die Entdeckung der Dekohärenz Auftrieb (siehe "100 Jahre Quantentheorie" von Max Tegmark und John Archibald Wheeler, Spektrum der Wissenschaft 4/2001, S. 68).
Wenn die Physik unitär ist, muss sich die gängige Vorstellung von der Rolle der Quantenfluktuationen beim Urknall ändern. Diese Fluktuationen haben nicht zufällig Anfangsbedingungen erzeugt. Vielmehr schufen sie eine Quantensuperposition aller möglichen Anfangsbedingungen, die gleichzeitig koexistierten. Die Dekohärenz sorgte dann dafür, dass diese Anfangsbedingungen sich auf separaten Quantenzweigen klassisch verhielten. Nun kommt der entscheidende Punkt: Die Verteilung der Ergebnisse auf unterschiedliche Quantenzweige in einem bestimmten Hubble-Volumen (Ebene III) ist identisch mit der Verteilung der Ergebnisse auf unterschiedliche Hubble-Volumina innerhalb eines einzigen Quantenzweigs (Ebene I). Diese Eigenschaft der Quantenfluktuationen ist in der statistischen Mechanik als Ergodizität bekannt. Nichts Neues auf Ebene III
Dieselbe Überlegung gilt für Ebene II. Die Symmetriebrechung erzeugte nicht ein eindeutiges Ergebnis, sondern eine Superposition aller Ergebnisse, die rasch ihre eigenen Wege gingen. Wenn also die Naturkonstanten, die Dimensionalität der Raumzeit und anderes zwischen parallelen Quantenzweigen auf Ebene III variieren können, dann variieren sie auch zwischen den Paralleluniversen im Multiversum der Ebene II.
So gesehen fügt das Ebene-III-Multiversum nichts Neues zu Ebene I oder II hinzu. Es liefert nur noch mehr ununterscheidbare Kopien derselben Universen – dieselben alten Geschichten spielen sich wieder und wieder in anderen Quantenzweigen ab. Der heftige Streit um Everetts Theorie dürfte sich darum mit der Entdeckung der ebenso großen, aber weniger umstrittenen Multiversen der Ebenen I und II ganz von selbst beruhigen.
Dennoch sind die Folgen gravierend, und die Physiker fangen gerade erst an, sie zu erforschen. Nehmen wir zum Beispiel die Frage: Wächst die Anzahl der Universen exponentiell mit der Zeit? Die überraschende Antwort ist nein. Aus der Vogelperspektive gibt es natürlich nur ein einziges Quantenuniversum. Aus der Froschperspektive zählen nur die zu einem gegebenen Zeitpunkt unterscheidbaren Universen – das heißt, die merklich verschiedenen Hubble-Volumina, in denen etwa Planeten willkürlich an andere Orte verschoben sind oder Sie ein anderes Leben führen. Es gibt auf der Quantenebene 10 hoch 10118 Universen, deren Temperatur unter 108 Kelvin liegt. Dies ist eine zwar riesige, aber dennoch endliche Zahl.
Aus der Froschperspektive entspricht die Entwicklung der Wellenfunktion einem unaufhörlichen Übergang von einem der 10 hoch 10118 Zustände zum anderen. Jetzt sind Sie im Universum A, in dem Sie diesen Satz lesen – und jetzt im Universum B, wo Sie diesen anderen Satz lesen. Universum B hat einen Beobachter, der mit einem in Universum A identisch ist – bis auf eine zusätzliche Erinnerung. In jedem Augenblick existieren alle möglichen Zustände, und das Vergehen der Zeit ist Ansichtssache. So betrachtet hängt das Konzept des Multiversums eng mit dem Wesen der Zeit zusammen.
Zwar können in den Multiversen der Ebene I, II und III die Anfangsbedingungen und die Naturkonstanten variieren, doch die Naturgesetze bleiben gleich. Warum eigentlich? Warum dürfen nicht auch die Gesetze selbst variieren? Was wäre mit einem Universum, das nur der klassischen Physik gehorcht, ohne Quanteneffekte? Wie wäre es, wenn die Zeit nicht kontinuierlich abliefe, sondern in diskreten Schritten wie in einem Computer? Oder ein Universum, das einfach nur ein leerer Dodekaeder ist? Im Multiversum der Ebene IV existieren all diese Varianten tatsächlich.
Ebene IV: Andere mathematische Strukturen
Dafür, dass ein solches Multiversum nicht nur wilde Spekulation ist, spricht die überraschend gute Übereinstimmung zwischen abstraktem Denken und Wirklichkeit. Mathematische Strukturen wie Zahlen, Vektoren, Gleichungen und geometrische Objekte beschreiben die Welt erstaunlich wahrheitsgetreu. In einem berühmten Vortrag sagte der Physiker Eugene P. Wigner 1959, die enorme Brauchbarkeit der Mathematik für die Naturwissenschaften grenze an ein Wunder. Umgekehrt muten mathematische Gebilde seltsam real an. Sie erfüllen eine Grundbedingung für objektive Existenz: Sie sind für jeden, der sie untersucht, gleich. Ein Theorem ist wahr unabhängig davon, ob es von einem Menschen, einem Computer oder einem intelligenten Delfin bewiesen wird. Außerirdische Zivilisationen würden die gleichen mathematischen Strukturen finden, die wir kennen. Dementsprechend meinen die allermeisten Mathematiker, dass sie mathematische Strukturen nicht erfinden, sondern entdecken.
Es gibt über diesen Zusammenhang zwischen Mathematik und Physik zwei diametral entgegengesetzte Meinungen, die bis auf die antiken Philosophen Platon und Aristoteles zurückgehen. Nach Aristoteles ist die physikalische Realität grundlegend und die mathematische Sprache nur eine nützliche Annäherung. Platon zufolge ist die mathematische Struktur das eigentlich Reale, das von den Betrachtern nur unvollkommen wahrgenommen wird. Mit unseren Worten: Die beiden Philosophen streiten sich darüber, ob die Froschperspektive des Beobachters oder die Vogelperspektive der Naturgesetze grundlegend ist. Aristoteles bevorzugt die Frosch-, Platon die Vogelperspektive.
Kinder, die noch nie von Mathematik gehört haben, sind spontane Aristoteliker. Die platonische Sicht wird erst allmählich erworben. Theoretische Physiker neigen zum Platonismus: Sie vermuten, dass die Mathematik das Universum so gut beschreibt, weil es an sich mathematisch ist. Demnach ist die gesamte Physik letztlich ein mathematisches Problem. Ein grenzenlos fähiger Mathematiker könnte im Prinzip die Froschperspektive ausrechnen – das heißt, welche Beobachter mit Selbstbewusstsein das Universum enthält, was sie wahrnehmen und welche Sprachen sie erfinden, um einander ihre Wahrnehmungen mitzuteilen.
Stellen wir uns eine Welt aus punktförmigen Teilchen vor, die sich im dreidimensionalen Raum umherbewegen. In der vierdimensionalen Raumzeit – der Vogelperspektive – ähneln diese Teilchentrajektorien einem Spagettiknäuel. Wenn der Frosch ein Teilchen beobachtet, das sich mit konstanter Geschwindigkeit fortbewegt, sieht der Vogel eine schnurgerade rohe Nudel. Hat der Frosch zwei einander umkreisende Teilchen vor sich, so sieht der Vogel zwei zu einer Doppelhelix verdrillte Spagetti. Für den Frosch wird die Welt durch die Newton’schen Gesetze für Bewegung und Gravitation beschrieben. Der Vogel hat als Welt die Geometrie der Nudeln vor sich – eine mathematische Struktur. Der Frosch ist nur ein dickes Nudelknäuel, wobei dessen komplexe Verschlingungen einem Teilchenverbund entsprechen, der Information zu speichern und zu verarbeiten vermag. Unser Universum ist wesentlich komplizierter als dieses Beispiel, und die Wissenschaftler haben noch längst nicht herausgefunden, welcher mathematischen Struktur es entspricht.
Radikaler Platonismus
Das platonische Paradigma wirft die Frage auf, warum das Universum so ist, wie es ist. Für einen Aristoteliker ist die Frage sinnlos: Das Universum existiert einfach. Doch ein Platoniker kann sich nur darüber wundern, warum es gerade so und nicht anders ist. Wenn das Universum an sich mathematisch ist, warum wurde dann nur eine der vielen mathematischen Strukturen ausgewählt, um ein Universum zu beschreiben? Die Wirklichkeit scheint eine fundamentale Asymmetrie zu bergen.
Als Lösung für dieses Rätsel habe ich vorgeschlagen, dass ungebrochene mathematische Symmetrie herrscht: Sämtliche mathematischen Strukturen existieren auch physikalisch. Jede mathematische Struktur entspricht einem Paralleluniversum. Die Elemente dieses Multiversums liegen nicht im selben Raum, sondern außerhalb von Raum und Zeit. In den meisten gibt es vermutlich keine Beobachter. Diese Hypothese kann als eine Form von radikalem Platonismus angesehen werden, denn sie behauptet, dass die mathematischen Strukturen in Platons Ideenwelt in physikalischem Sinne existieren. Dies ähnelt dem, was der Kosmologe John D. Barrow von der Universität Cambridge in seinem gleichnamigen Buch einen "Himmel voller Zahlen" genannt hat und David K. Lewis, der verstorbene Philosoph an der Princeton University, modalen Realismus. Ebene IV schließt die Hierarchie der Multiversen ab, denn jede fundamentale physikalische Theorie lässt sich durch eine mathematische Struktur ausdrücken.
Die Hypothese des Ebene-IV-Multiversums macht prüfbare Voraussagen. Wie in Ebene II gibt es auch hier ein Ensemble – die Gesamtheit der mathematischen Strukturen – und Auswahleffekte. Im Zuge der Kategorisierung von mathematischen Strukturen sollte sich herausstellen, dass die Struktur, die unsere Welt beschreibt, die allgemeinste ist, die mit unseren Beobachtungen übereinstimmt. Ebenso sollten unsere zukünftigen Beobachtungen die allgemeinsten sein, die zu unseren vergangenen passen, und diese wiederum die allgemeinsten, die mit unserer Existenz vereinbar sind.
Diesen Sinn von "allgemein" zu quantifizieren, ist freilich äußerst schwierig. Aber ein ermutigendes Merkmal der mathematischen Strukturen ist, dass die Symmetrie- und Invarianzeigenschaften, die für die Einfachheit und Ordnung unseres Universums verantwortlich sind, allgemein zu sein scheinen – eher die Regel als die Ausnahme. Mathematische Strukturen besitzen diese Eigenschaften anscheinend von selbst, und man muss komplizierte Zusatzannahmen machen, um sie zum Verschwinden zu bringen.
Die wissenschaftlichen Theorien der Paralleluniversen bilden eine vierstufige Hierarchie, in der die Universen immer fremdartiger werden. Sie können andere Anfangsbedingungen haben (Ebene I); andere Naturkonstanten, Elementarteilchen und Symmetrien (Ebene II); oder sogar andere Naturgesetze (Ebene IV). Seltsamerweise wurde ausgerechnet Ebene III in den letzten Jahrzehnten am meisten kritisiert, obwohl sie als einzige keine qualitativ neuen Universen hinzufügt.
Im kommenden Jahrzehnt werden die drastisch verbesserten kosmologischen Messungen des Mikrowellenhintergrunds und der großräumigen Materieverteilung die Krümmung und Topologie des Raumes genau bestimmen und dadurch Ebene I bestätigen oder verwerfen. Diese Messungen werden auch Ebene II testen, indem sie die Theorie der chaotischen ewigen Inflation überprüfen. Fortschritte in Astro- und Teilchenphysik werden auch klären, wie fein die Naturkonstanten abgestimmt sind, und dadurch Argumente für oder gegen Ebene II liefern.
Falls die Versuche, Quantencomputer zu bauen, eines Tages Erfolg haben, werden sie weitere Indizien für Ebene III liefern, denn solche Geräte sollen den Parallelismus des Ebene-III-Multiversums für paralleles Rechnen nutzen. Andererseits suchen einige Experimentatoren aber auch nach einer Verletzung der Unitarität – wodurch Ebene III ausgeschlossen würde.
Und schließlich wird Erfolg oder Versagen bei der größten Herausforderung der modernen Physik – der Vereinigung von Allgemeiner Relativitätstheorie und Quantenfeldtheorie – die Meinung über Ebene IV bestimmen. Entweder finden wir eine mathematische Struktur, die exakt auf unser Universum passt, oder wir stoßen an eine Grenze für die unglaubliche Wirksamkeit der Mathematik. Dann müssen wir Ebene IV aufgeben.
Sollte man also an Paralleluniversen glauben? Die Hauptargumente dagegen lauten: Sie sind erstens verschwenderisch und zweitens extravagant. Das erste Argument besagt, dass die Theorie der Multiversen gegen Ockhams Rasiermesser – das erkenntnistheoretische Sparsamkeitsprinzip des englischen Theologen Wilhelm von Ockham (1285-1349) – verstößt, denn sie postuliert die Existenz von Welten, die wir niemals beobachten können. Warum sollte die Natur so verschwenderisch sein, sich eine unendliche Anzahl unterschiedlicher Welten zu leisten? Doch dieses Argument lässt sich zugunsten der Multiversen umkehren. Was genau würde die Natur denn verschwenden? Gewiss nicht Raum, Masse oder Atome – schon das unumstrittene Ebene-I-Multiversum enthält bereits unendlich viel davon, also sollte es auf ein bisschen mehr nicht ankommen. Doch eigentlich geht es um den scheinbaren Verlust an Einfachheit. Den Skeptiker stört die ungeheure Menge an Information, die zur Beschreibung all dieser ungesehenen Welten nötig ist.
Ockhams stumpfes Rasiermesser
Aber ein komplettes Ensemble ist oft einfacher zu beschreiben als einer seiner Teile. Dieses Prinzip lässt sich durch den Begriff des algorithmischen Informationsgehalts ausdrücken. Die algorithmische Information einer Zahl ist grob gesagt die Länge des kürzesten Computerprogramms, das diese Zahl als Output liefert. Betrachten wir die Menge der ganzen Zahlen: Was ist einfacher, die gesamte Menge oder eine einzelne Zahl? Intuitiv würde man sagen, die einzelne Zahl. Aber die gesamte Menge kann mit einem trivialen Computerprogramm generiert werden, während eine einzelne Zahl beliebig lang sein kann. Deshalb ist die gesamte Menge tatsächlich einfacher.
Ebenso ist die Menge aller Lösungen der Einstein’schen Feldgleichungen einfacher als eine spezielle Lösung. Erstere wird durch ein paar Gleichungen beschrieben, während Letztere die Spezifikation einer riesigen Anzahl von Anfangswerten auf einer Hyperfläche erfordert. Daran sehen wir, dass die Komplexität zunimmt, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Element eines Ensembles konzentrieren: Dabei opfern wir die der Gesamtheit aller Elemente eigene Symmetrie und Einfachheit. In diesem Sinne sind die Multiversen der höheren Ebenen einfacher.
Wenn wir von unserem Universum zu einem Ebene-I-Multiversum übergehen, müssen wir keine Anfangsbedingungen mehr spezifizieren. Beim Übergang zu Ebene II entfällt das Spezifizieren von Naturkonstanten, und für Ebene IV müssen wir gar nichts mehr spezifizieren. Das Übermaß an Komplexität steckt nur in der subjektiven Wahrnehmung der Beobachter – in der Froschperspektive. Aus der Vogelperspektive könnte das Multiversum kaum einfacher sein.
Der zweite Vorwurf – Extravaganz – ist eher ästhetischer als wissenschaftlicher Natur und hat eigentlich nur vom aristotelischen Standpunkt überhaupt Sinn. Aber was haben wir erwartet? Wenn wir eine tiefgründige Frage nach dem Wesen der Realität stellen, müssen wir dann nicht mit einer Antwort rechnen, die seltsam anmutet? Die Evolution hat uns mit einer Intuition für Alltagsphysik ausgestattet, die dem Überleben unserer urtümlichen Vorfahren nützte. Wir sollten uns nicht wundern, wenn jenseits der Alltagswelt die Aussicht bizarr erscheint.
Allen vier Ebenen ist gemeinsam, dass die eleganteste Theorie von selbst zu Paralleluniversen führt. Um die Existenz dieser Universen zu leugnen, muss man der Theorie experimentell unbestätigte Prozesse und Ad-hoc-Annahmen hinzufügen: endlichen Raum, Kollaps der Wellenfunktionen und ontologische Asymmetrie. Letztlich müssen wir uns entscheiden, was wir verschwenderischer und uneleganter finden: viele Welten oder viele Worte. Vielleicht werden wir uns allmählich mit der Seltsamkeit unseres Kosmos anfreunden und finden, dass seine Extravaganz einen Teil seines Zaubers ausmacht.
Literaturhinweise
Inflation, Quantum Cosmology and the Anthropic Principle. Von Andrei Linde in: Science and Ultimate Reality: From Quantum to Cosmos. Von J.D. Barrow, P.C.W. Davies und C.L. Harper (Hg.). Cambridge University Press, 2003.
Our Cosmic Habitat. Von Martin Rees. Princeton University Press, 2001.
In Kürze
- Paralleluniversen sind neueren kosmologischen Beobachtungen zufolge nicht bloß eine extravagante Idee. Da der Weltraum sich offenbar unendlich weit erstreckt, wird irgendwo dort draußen alles irgend Mögliche verwirklicht – und sei es noch so unwahrscheinlich. Jenseits der Reichweite unserer Teleskope gibt es Raumregionen, die mit unserer identisch sind. Die mittlere Entfernung solcher Paralleluniversen kann sogar berechnet werden.
- Aus kosmologischen und quantenphysikalischen Überlegungen schließen Forscher auf mehrere Ebenen von Multiversen mit vielfältigen Eigenschaften und Naturgesetzen. Ihre Existenz vermag gewisse Besonderheiten unseres Universums zu erklären und vielleicht sogar fundamentale Fragen zu beantworten – etwa die nach dem Wesen der Zeit oder nach der mathematischen Beschreibbarkeit der physikalischen Welt.
Der Weltraum: unendliche Weiten
Neuere kosmologische Daten besagen, dass der Raum sich weit jenseits unserer Beobachtungsgrenzen fortsetzt. Kürzlich lieferte der Satellit WMAP die bisher detailreichste Karte der Fluktuationen im kosmischen Mikrowellenhintergrund. Die stärksten Fluktuationen sind nur ein halbes Winkelgrad groß. Dies spricht für einen flachen, unendlichen Raum (Mitte). Nur wenige Kosmologen deuten den "Ausreißer" links unten im Diagramm als Indiz für ein sphärisches Universum mit endlichem Volumen. Zudem zeigen die WMAP-Daten und die Galaxiendurchmusterung 2dF Galaxy Redshift Survey, dass der Raum auch im Großen gleichmäßig mit Materie erfüllt ist . Somit dürften andere Universen im Grunde unserem gleichen.
Das Problem der Wahrscheinlichkeit – Wie stehen Ihre Chancen im vierfachen Multiversum?
Zwar lässt der Widerstand gegen Multiversum-Theorien allmählich nach, doch zugleich wächst sich die lästige Frage, wie man darin Wahrscheinlichkeiten berechnet, zu einem echten Problem aus. Wenn es mehrere identische Kopien von mir gibt, taugt die herkömmliche Vorstellung von Determinismus nichts mehr. Selbst wenn man den gesamten Zustand des Multiversums kennen würde, könnte man die eigene Zukunft nicht berechnen, denn man vermag nicht festzustellen, welche Kopie man selbst ist – alle Kopien denken, sie wären das Original. Darum sind nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich. Hat ein Ergebnis eine Wahrscheinlichkeit von fünfzig Prozent, so bedeutet dies, dass die Hälfte aller Beobachter dieses Ergebnis beobachten.
Leider ist es gar nicht einfach zu berechnen, welcher Bruchteil der unendlich vielen Beobachter welches Ereignis beobachtet. Die Antwort hängt von der Reihenfolge ab, in der man die Beobachter zählt. Zum Vergleich: Der Bruchteil der ganzen Zahlen, die gerade sind, beträgt fünfzig Prozent, wenn man sie numerisch ordnet (1, 2, 3, 4, ...), jedoch fast hundert Prozent, wenn sie nach Ziffern sortiert werden (1, 10, 100, 1000, ...). Für Beobachter in separaten Universen gibt es kein natürliches Verfahren, sie zu sortieren. Stattdessen muss man aus den Universen Stichproben auswählen und mit einem statistischen Maß gewichten.
Dieses Problem lässt sich in Ebene I halbwegs bändigen, wird in Ebene II ernst, ist in Ebene III heftig umstritten und in Ebene IV monströs. Alexander Vilenkin von der Tufts Universität hat für Ebene II die Wahrscheinlichkeitsverteilung kosmologischer Parameter behandelt. Er plädiert dafür, den unterschiedlich expandierten Paralleluniversen statistische Gewichte proportional zu ihrem Volumen zu geben. Dagegen wird jeder Mathematiker einwenden, dass zweimal unendlich immer noch unendlich ist. Welchen Sinn hat die Aussage, ein um den Faktor zwei expandiertes unendliches Universum sei größer geworden? Außerdem ist ein endliches ringförmiges Universum äquivalent zu einem perfekt periodischen Universum mit unendlichem Volumen – sowohl aus der mathematischen Vogelperspektive als auch aus der Froschperspektive eines innerhalb sitzenden Beobachters. Warum sollte sein unendlich viel kleineres Volumen ihm das statistische Gewicht null geben? Immerhin wiederholen sich sogar im Ebene-I-Multiversum die Hubble-Volumina – wenn auch nicht periodisch, sondern zufällig – nach rund 10 hoch 10118 Metern.
Doch all das ist noch gar nichts gegen das Problem, den mathematischen Strukturen in Ebene IV statistische Gewichte zuzuschreiben. Da unser Universum relativ einfach zu sein scheint, könnte das korrekte Maß etwas mit Komplexität zu tun haben.
Das Ebene-I-Multiversum
Der einfachste Typ eines Paralleluniversums ist eine Raumregion, die für unsere Beobachtungen zu weit entfernt ist. Derzeit können wir höchstens 4´1026 Meter oder 42 Milliarden Lichtjahre weit sehen. Diese Entfernung konnte das Licht seit dem Urknall vor 14 Milliarden Jahren zurücklegen; sie ist größer als 14 Milliarden Lichtjahre, weil die kosmische Expansion die Abstände gedehnt hat. Jedes Paralleluniversum der Ebene I gleicht im Prinzip unserem Universum. Sämtliche Unterschiede stammen von Variationen der anfänglichen Materieverteilung.
Wie weit ist ein Zwillingsuniversum entfernt?
Modelluniversum
Stellen wir uns ein zweidimensionales Universum vor, das nur vier Teilchen Platz bietet. Ein solches Universum hat 24=16 mögliche Anordnungen der Materie. Gibt es mehr als 16 dieser Universen, so müssen sie sich wiederholen. Die Entfernung zur nächsten Wiederholung ist ungefähr der vierfache Durchmesser eines Universums.
Unser Universum
Das gleiche Argument gilt für unser Universum, das rund 10118 Elementarteilchen Platz bietet. Deshalb sind 2 hoch 10118 Anordnungen möglich, oder rund 10 hoch 10118. Durch Multiplikation mit dem Durchmesser des Universums ergibt sich ein mittlerer Abstand zum nächsten Duplikat von 10 hoch 10118 Metern.
Das Ebene-II-Multiversum
Aus der Theorie der kosmischen Inflation folgt ein komplizierterer Typ von Paralleluniversen. Das Ebene-I-Multiversum – unser Universum und die benachbarten Raumbereiche – ist demnach eine Blase in einem noch riesigeren, aber größtenteils leeren Volumen. Dort gibt es andere Blasen, die zu unserer Welt keinerlei Verbindung haben. Sie kondensieren wie Regentropfen in einer Wolke. Während der Kondensation wird jede Blase durch Variationen der Quantenfelder mit spezifischen Eigenschaften ausgestattet, durch die sie sich von anderen Blasen unterscheidet.
Kondensation der Blasen
Ein Quantenfeld namens Inflaton verursacht eine rapide Expansion des Raumes. Durch zufällige Fluktuationen verliert das Feld in einigen Raumregionen seine Kraft und die Expansion verlangsamt sich. In solchen Gebieten entstehen Blasen.
Indizien
Für die Existenz von Paralleluniversen der Ebene II spricht die unwahrscheinliche Feinabstimmung der Naturkräfte (Mitte) sowie der Raumzeit-Dimensionen (rechts) in unserem Universum. Diese Größen haben gerade passende Werte für die Entstehung von Leben. Die plausibelste Erklärung ist, dass diese Werte das Resultat von Zufallsprozessen bei der Entstehung unseres Universums sind, während unzählige andere Universen mit anderen Werten existieren, in denen Leben nicht möglich ist.
Das Ebene-III-Multiversum
Die Quantenmechanik postuliert eine gigantische Anzahl von Paralleluniversen, die aber nicht im üblichen Raum liegen, sondern in einem abstrakten Raum aller möglichen Zustände. Jeder im Rahmen der Quantenmechanik vorstellbare Zustand der Welt entspricht einem eigenen Universum. Diese Paralleluniversen machen sich im Laborexperiment durch typische Quanteneffekte bemerkbar, etwa durch Interferenzen von Quantenwellen.
Quantenwürfel
Ein idealer Würfel, der nur den Gesetzen der Quantenmechanik unterworfen ist, wird durch jeden Wurf in eine Superposition aller sechs möglichen Wurfresultate versetzt – doch ein Beobachter sieht stets nur eines davon. Um diesen Widerspruch aufzulösen, stellen wir uns vor, dass der Wurf in verschiedenen Universen verschiedene Augenzahlen ergibt. In einem Sechstel aller Universen zeigt der Würfel Eins, in einem anderen Sechstel Zwei und so weiter. Da wir in einem Universum gefangen sind, können wir nur einen Bruchteil der vollständigen Quantenrealität wahrnehmen.
Ergodizität
Nach dem Prinzip der Ergodizität sind die quantenmechanischen Paralleluniversen äqivalent zu weniger exotischen Typen von Parallelwelten. Ein Quantenuniversum spaltet sich mit der Zeit in viele Universen auf. Doch diese neuen Welten unterscheiden sich nicht von Paralleluniversen, die bereits anderswo im Raum existieren – beispielsweise andere Welten der Ebene I. Die Grundidee ist, dass alle Typen von Paralleluniversen verschiedene Wege verkörpern, auf denen sich Ereignisse hätten abspielen können.
Das Wesen der Zeit
Für die meisten Menschen ist die Zeit ein Mittel, um Veränderung zu beschreiben: Zu einem Zeitpunkt ist die Materie auf eine bestimmte Weise geordnet, einen Augenblick später anders. Das Konzept der Multiversen legt eine andere Sichtweise nahe. Wenn die Paralleluniversen jede mögliche Anordnung der Materie enthalten, dann ist die Zeit einfach eine Möglichkeit, diese Universen als Folge anzuordnen. Die Universen selbst sind statisch, Veränderung eine Illusion.
Das Ebene-IV-Multiversum
Die höchste Form des Multiversums umfasst alle überhaupt denkbaren Möglichkeiten. Seine Universen unterscheiden sich nicht nur durch ihren Ort, die kosmologischen Eigenschaften oder ihre Quantenzustände, sondern auch durch die jeweils geltenden Naturgesetze. Da diese Welten außerhalb von Raum und Zeit existieren, ähneln sie am ehesten abstrakten, statischen Skulpturen, die für die mathematische Struktur der jeweils gültigen physikalischen Gesetze stehen. Als einfaches Beispiel dient ein Universum aus Erde, Mond und Sonne, das den Newton’schen Gesetzen gehorcht. Einem außenstehenden Beobachter erscheint dieses Universum als ein kreisförmiger Ring (Erdbahn), der mit einem Band umwickelt ist (Mondbahn). Andere Formen verkörpern andere physikalische Gesetze (a, b, c, d). Diese Betrachtungsweise macht plausibel, warum unser Universum sich überhaupt mathematisch beschreiben lässt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2003, Seite 34
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