Pflanzengenetische Vielfalt für die Welternährung
Aus der formenreichen Organismengruppe der Pflanzen mit schätzungsweise mehr als 700 000 Arten ziehen Menschen einzelne Pflanzenpopulationen heran, die ihren Ernährungsbedürfnissen entsprechen, Heilmittel enthalten, als Tierfutter dienen können oder Rohstoffe für Kleidung, Wohnung und Industrieprodukte liefern. Mit der gezielten Auslese von ertragreichen Pflanzen aus Wildarten begann die Züchtung von Kulturpflanzen. Der Wildweizen Triticum dicoccoides beispielsweise hat brüchige Ähren, was die Ernte mühselig macht; durch Selektion von Pflanzen mit bruchfester Ähre entstand daraus der Kulturweizen Emmer (T. dicoccon). In ähnlicher Weise selektierte der Mensch aus der Wildart Papaver setigerum mit offenen Fruchtkapseln den Kulturmohn (P. somniferum), dessen geschlossene Kapseln eine verlustfreie Ernte der ölhaltigen Samen ermöglichten.
Aber auch Krankheiten, hevorgerufen durch Viren, Bakterien, Pilze und Schädlinge wie Fadenwürmer oder Insekten beeinträchtigen die Erzeugung von Nahrungsmitteln und Agrarrohstoffen. Diesem Problem begegneten unsere Vorfahren durch die Auswahl von widerstandsfähigen Populationen. Domestikation von Wildarten ermöglichte dem Menschen, seßhaft zu werden. Das griechische Wort domos für Haus spiegelt sich auch in dem deutschsprachigem Begriff Hofsorten wider. Darunter versteht man Pflanzenpopulationen oder – im Falle vegetativ vermehrter Arten wie Knoblauch, Kartoffeln, Baum- und Strauchobst – einzelne Genotypen, die sich gut für den Anbau in einer bestimmten Region eignen. Im englischen Sprachraum verwendet man dafür auch den Begriff land race, entsprechend dem deutschen Landsorten.
Bevor die noch an ein Stück Land gebundenen Menschen in der Vergangenheit überregionalen Handel betreiben konnten, waren sie auf die langfristige Erhaltung und allmähliche Verbesserung der eigenen Landsorten beziehungsweise Landrassen von Nutztieren angewiesen. Nur der schonende Umgang mit den regional verfügbaren Ressourcen sicherte auch das Gedeihen der Nachfahren. Es entstand eine immense Vielfalt unterschiedlicher Formen innerhalb vieler Kulturarten – und dies weltweit.
Landsorten waren dennoch keine geschlossenen Populationen. Wir wissen heute, daß Saatgutmuster von Landsorten sehr wohl zwischen Bevölkerungsgruppen und Anbauregionen ausgetauscht wurden – mit erheblichen sozialen und politischen Wirkungen. Die Entfaltung der Song-Dynastie (960 bis 1279) etwa läßt sich auf die Einführung und rasche Verbreitung von frühreifenden Reissorten aus Südostasien zurückführen. Im alten China war man sich der großen Bedeutung einer gesicherten Agrarproduktion bewußt. Man bezeichnete die Landwirtschaft als Stamm des Wirtschaftslebens; Gewerbe und Handel dagegen wurden den Zweigen gleichgesetzt. Auch heute ist dieses Gleichnis gültig. Jeder Mensch und damit die gesamte Weltbevölkerung lebt letztlich von der Agrarproduktion.
Zu Recht werden die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit, der Wasservorräte und der pflanzengenetischen Vielfalt als wichtigste Komponenten der Agrarproduktion im Weltzustandsbericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) über pflanzengenetische Ressourcen genannt. Auch das deutsche Grundgesetz bezeichnet in Artikel 20 a den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als eine Aufgabe des Staates in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen. Nur wenn es gelingt, dem Verlust an biologischer Diversität auf nationaler und globaler Ebene Einhalt zu gebieten, werden unsere Nachfahren in einer Welt wie der unseren leben können.
Doch die Vegetation wird durch menschliches Handeln verletzt und teils unwiederbringlich zerstört. Damit verschwinden auch bereits genutzte oder potentiell nutzbare Arten und Varietäten. Dieser Teil der gesamten Biodiversität wird mit dem Begriff pflanzengenetische Ressourcen beschrieben. In dem französischen Wort ressource steckt der Begriff source, das heißt Quelle; und tatsächlich können Landwirte und Züchter frische genetische Variation für die Verbesserung ihrer Sorten nur schöpfen, solange diese Quellen nicht versiegen.
Unser Planet beheimatet eine große Formenvielfalt unterschiedlichster Landpflanzen in einer Vielzahl von Lebensräumen von den Polarregionen bis zu den Tropen und von den Meeresküsten bis in die Hochgebirge. Nach Schätzungen von Systematikern werden wir allein durch den Verlust von Regenwäldern, die besonders artenreich sind, in den nächsten 25 Jahren 25 Prozent der weltweit vorhandenen biologischen Diversität verlieren. Die Auslöschungsrate wird auf 100 tierische und pflanzliche Arten pro Tag geschätzt und bewegt sich damit in einer Größenordnung, die nur mit dem Artensterben am Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren vergleichbar ist – mit einem wesentlichen Unterschied: Die moderne, auf Ausbeutung statt Pflege natürlicher Ressourcen ausgerichtete Zivilisation ist die Ursache dieser drohenden Katastrophe erdgeschichtlicher Dimension. Davon betroffen sind unter anderem 250 000 bereits bekannte Pflanzenarten, von denen rund 7000 für Nahrungszwecke oder zur Gewinnung von Rohstoffen gesammelt oder angebaut werden.
Der Verlust von genetischer Variation innerhalb von Arten wird als Gen-Erosion bezeichnet. Wie stark die Formenvielfalt innerhalb von Kulturarten schwinden kann, läßt sich am Beispiel der chinesischen Weizensorten belegen: Seit 1949 hat sich ihre Anzahl von ursprünglich rund 10 000 auf 1000 in den siebziger Jahren reduziert.
Unterschiedliche Faktoren lösen Gen-Erosion aus. Die FAO nennt als Ursachen Achtlosigkeit in Gesetzgebung und Politik, Bürgerkrieg, Bevölkerungsdruck, tierische Schädlinge, Unkräuter und Krankheiten, Umweltzerstörung, Landnutzung einschließlich Abholzung und Brandrodung, Überweidung, verringerten Bracheanteil, Übernutzung der Arten, Änderung des Anbausystems sowie den Ersatz von Landsorten.
Notmaßnahmen
Einzelne Verluste wären noch hinzunehmen, denn die Auslöschung nicht angepaßter Arten gehört zum natürlichen Evolutionsgeschehen. Es ist vielmehr das Ausmaß der Verarmung an pflanzengenetischen Ressourcen, das die Staatengemeinschaft bereits in den sechziger Jahren zu Maßnahmen veranlaßte. Nationale und internationale Organisationen führten Sammelreisen durch und trugen weltweit rund sechs Millionen Muster unterschiedlichster Pflanzenarten zusammen, die in sogenannten Genbanken lagern. Die Bewahrung der Saatgutvitalität ist wegen solcher Mengen ein erhebliches organisatorisches und finanzielles Problem.
Das technische Konzept der Genbank, trockene Samen in Tiefkühlkammern aufzubewahren, stammt aus den fünfziger Jahren. Es war damals die bestmögliche Form der Erhaltung gefährdeter Nutzpflanzen und ist es auch heute noch. Darüber, wieviel Material in Sammlungen zur Gewährleistung eines kontinuierlichen pflanzenzüchterischen Fortschritts eigentlich konserviert werden müsse, wird allerdings sehr kontrovers diskutiert.
Vertreter des sogenannten Arche- Noah-Prinzips lagern von jedweder bedrohten Variante einer potentiell nutzbaren Pflanzenart Muster ein. Für deren Erhaltung spricht, daß in Kulturformen eine Vielzahl von Genen im Verlauf der Domestikation kombiniert wurde. Sollten sehr komplexe Merkmalskombinationen verlorengehen, können sie möglicherweise nur mit äußerst großem züchterischem Aufwand wiederhergestellt werden. Der Rückgriff auf Muster in Genbanken kann Züchtungsarbeit sparen helfen.
Hingegen sind stärker auf Populationsgenetik ausgerichtete Wissenschaftler und mehr noch Vertreter der Gentechnologie der Ansicht, daß ein minimaler Umfang pflanzengenetischer Ressourcen – praktisch jeweils eine repräsentative Stichprobe aller Gene und Allele einer Pflanzenart – genügend Optionen für die Zukunft offenhalte.
Welche genetische Vielfalt von Nutzpflanzen künftig konserviert und für die Pflanzenzüchtung verfügbar gehalten wird, hängt von der weiteren wissenschaftlichen Entwicklung ab. Insbesondere die Molekulargenetik stellt zunehmend kostengünstigere Methoden für die genetische Charakterisierung von Material bereit. Zudem gewinnt man weltweit stetig mehr Einblick in die Strukturen genetischer Diversität von Arten und Gattungen. Maßnahmen zur Erhaltung pflanzengenetischer Ressourcen sind möglicherweise künftig nicht mehr ausschließlich auf das getrennte Erhalten zahlreicher Einzelpopulationen und Linien gerichtet. Denkbar wäre bei fremdbefruchtenden Arten die Durchkreuzung vieler ähnlicher Populationen, die genetische Charakterisierung dieser neuen variablen Großpopulationen und eine Überprüfung ihrer genetischen Integrität in Nachfolgegenerationen mittels genetischer Marker. Genbanken könnten sich zu Institutionen entwickeln, die mit minimalem Aufwand die genetischen Ressourcen von Nutzpflanzen effizient managen.
Wir können und wollen nicht die gesamte nutzbare Pflanzenwelt fern ihres natürlichen Standortes konservieren; vielmehr müssen wir uns bei unserer Arbeit auf die für die Welternährung und die Produktion agrarischer Rohstoffe wichtigsten Arten konzentrieren, jedoch gleichzeitig versuchen, das dem Verlust an Arten- und Formenvielfalt zugrundeliegende Problem zu lösen.
Züchtung von Hochleistungssorten
Ob die Agrarproduktion nur durch modernste Züchtungsverfahren – einschließlich der Erzeugung völlig neuer genetischer Diversität durch genetische Transformation – und biotechnologische Verfahren sowie Konzentration aller wissenschaftlichen Energie und finanzieller Ressourcen auf wenige, heute bereits besonders leistungsfähige Kulturarten zu sichern ist oder ob alternative Wege angezeigt sind, das wird derzeit heftig diskutiert. Trotz des hoch anzuerkennenden Beitrags der Züchtungsforschung zur Steigerung der Nahrungsmittelerzeugung birgt der Einsatz von Hochleistungssorten auch Gefahren.
Obwohl in der Bundesrepublik und gleichermaßen in anderen Ländern der Europäischen Union zahlreiche Sorten für den Anbau zugelassen sind, verwenden Landwirte aufgrund betriebswirtschaftlicher Überlegungen nur Spitzenertragssorten. Im Extremfall kann, wie bei der vegetativ vermehrten Kartoffel, ein einziger Genotyp auf vielen Hektar Ackerland vorkommen – eine ideale Voraussetzung für die epidemische Ausbreitung von Pilzkrankheitheiten wie der Kraut- und Knollenfäule (Phytophthora infestans), wenn der Landwirt dem nicht mit Fungiziden zuvorkommt.
Der intensive Pflanzenschutz mit chemischen Mitteln birgt andererseits Umwelt- und Gesundheitsrisiken in sich und stößt deshalb in weiten Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung. Zudem sind Schädlinge und Krankheiten genetisch variabel und können Resistenzen gegen chemische Wirkstoffe bilden. So sind insektizidresistente Blattläuse (Mycus persicae), die das Blattvergilbungsvirus bei Zuckerrüben übertragen, nur schwer zu bekämpfen.
Genetische Homogenität bewirkt allerdings nicht zwangsläufig höhere Anfälligkeit für Krankheiten und Schädlinge. Genausowenig bietet genetische Heterogenität, wie sich am Beispiel des Ulmensterbens durch den Pilz Ceratocystis ulmi belegen läßt, nicht ohne weiteres Schutz vor epidemischer Ausbreitung von Krankheiten. Entscheidend ist ausschließlich die genetische Konstitution, die An- oder Abwesenheit bestimmter Erbeigenschaften. In einer Arbeit am Institut für Pflanzenbau der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft hat Siegfried Schittenhelm gezeigt, daß deutsche Gerstensorten vom Beginn dieses Jahrhunderts weniger standfest und stärker anfällig sind als Sorten, die erst in den achtziger Jahren zugelassen wurden. Neuere Gerstensorten enthalten offenbar mehr positive Eigenschaften als ihre Vorläufer.
Konventionell arbeitende Landwirte in den Industriestaaten erwarten vom Züchter, daß er Sorten, deren Resistenz durch neue Genotypen eines Krankheitserregers gebrochen wurde, durch neue ersetzt. Vereinfacht dargestellt, fügt der Züchter der alten Sorte ein neues Resistenzgen hinzu. In Ländern mit einer gut organisierten Forschung und Praxis auf diesem Gebiet ist dies in der Regel auch schnell möglich.
Die dahinter stehende Strategie könnte man als Anhäufen erwünschter Merkmale beschreiben. Besonders deutlich wird dies bei der Kartoffel: Züchter müssen, abgesehen von vererbten quantitativen Vorzügen wie hohem Ertrag oder Stärkegehalt, bis zu 30 verschiedene Eigenschaften und mindestens ebenso viele Gene im Zuchtprogramm handhaben. Deren Anhäufen ist äußerst zeitaufwendig und gelingt nur mit besten Zuchtpopulationen und dem Aufbieten modernster wissenschaftlicher Kenntnisse.
Ertragssicherung durch genetische Diversität
Die Verfügbarkeit genetischer Diversität ist Voraussetzung für eine flexible Anpassung von Sorten durch Züchtung, wie sich am Beispiel der Blattdürre-Epidemie bei Mais durch Helminthosporium maydis in den USA in den Jahren 1970/71 zeigen läßt. Auf 80 bis 90 Prozent der Anbaufläche waren Hybridmais-Sorten kultiviert worden, die gegenüber einer vorher bedeutungslosen Form des Erregers besonders anfällig sind. Zusätzlich begünstigten Umweltbedingungen dessen massenhafte Vermehrung. Infolgedessen minderte der Pilzbefall landesweit die Erträge um 15 Prozent.
Aus Erfahrung klug geworden, sorgen nun die Saatgut-Hersteller bei vielen Pflanzenarten für breitere genetische Diversität, unter anderem bei Sonnenblumen und Möhren. Hilfreich bei Zuckerrüben war der Rückgriff auf eine entlang der Küsten des Nordwestatlantik und des Mittelmeers verbreitete Wildrübe. Und es gelang auch beim Mais, in vergleichsweise kurzer Zeit das Hybridzuchtprogramm umzustellen, weil dafür im Zuchtmaterial selbst oder in Sammlungen pflanzengenetische Ressourcen zur Verfügung standen.
Katastrophen wie die Blattdürre-Epidemie beim Mais in den USA, Mehltau-Befall von Hybridhirse in Indien oder Schwarzrost-Befall von Weizen in Mexiko dienen häufig als Argument gegen die Entwicklung von Hochleistungssorten. Deren Anbau ist sicherlich mit Risiken verbunden. Trotz Ertragseinbrüchen von 15 bis 75 Prozent im Einzelfall ist aber die Nahrungsmittelerzeugung in der intensiv betriebenen Landwirtschaft durch konsequenten Einsatz aller pflanzengenetischen Kenntnisse gestiegen; in der Europäischen Gemeinschaft bewirkten engagierte Forschung, Ausbildung und Beratung sowie begleitende Marktregelungen sogar eine kostenträchtige Überproduktion. Daß die Widerstandskraft von Weizensorten in Mexiko zwischen 1943 und 1965 durch neue Schwarzrost-Genotypen sechsfach durchbrochen wurde, ist im Umkehrschluß auch ein Beweis dafür, daß Pflanzenzüchter es verstanden haben, die Resistenz jedesmal wiederherzustellen.
Acker- und Pflanzenbau gleich welcher Ausrichtung sind in jedem Falle ein erheblicher Eingriff in das Biosystem, auf den die natürlichen Regulationsmechanismen entsprechend reagieren. Nicht der Anbau leistungsstarker Sorten ist das eigentliche Problem, sondern die Frage, ob die Landwirtschaft eines Landes damit verbundene Maßnahmen zur Risikoabsicherung organisieren und durchführen kann. Staaten, deren Landwirtschaft Überschüsse erzeugt, können Ertragsausfälle in einzelnen Jahren recht gut ertragen. Wo keine staatlich organisierten Nahrungsmittelreserven gebildet werden, ist sorgfältig zu erwägen, ob Hochleistungssorten und entsprechend kostenintensive Produktionsverfahren geeignet sind, die Agrarproduktion nachhaltig zu steigern. Das landwirtschaftliche System der Industrieländer läßt sich nicht bedingungslos auf Entwicklungsländer übertragen. Wo man dies erfolglos versucht hat, stößt das Modell der Grünen Revolution heute auf Ablehnung.
Züchtungsstrategien für Grenzertragsgebiete
Landwirte in weniger entwickelten Regionen verfolgen eine seit Generationen erprobte Strategie der Risikostreuung. Sie kultivieren mehrere Sorten mit unterschiedlichen Eigenschaften, die zudem große genetische Variabilität aufweisen. Versagt in einem Jahr eine der Sorten wegen für sie nachteiliger Wuchsbedingungen, so kann von einer anderen zumindest genug zum Überleben geerntet werden. Robustheit des angebauten Arten- und Sortenspektrums ist wichtiger als Maximalerträge.
Tatsächlich erprobt man seit einigen Jahren in den Internationalen Agrarforschungszentren neue, den Bedürfnissen der Dritten Welt besser angepaßte Methoden der landwirtschaftlichen Entwicklung. Leitbegriff dabei ist participatory plant breeding, was sich mit "interaktive Pflanzenzüchtung" übersetzen ließe; gemeint ist die Nutzung von Erfahrungen der Landbevölkerung vor Ort.
In großen Teilen der Welt wird Landwirtschaft in Grenzertragsregionen betrieben, auf schlechten Böden und in Gebieten mit geringen jährlichen Niederschlägen, die oft nicht zum richtigen Zeitpunkt fallen. Moderne Hirsesorten etwa, die für die hochertragreichen Regionen Indiens entwickelt wurden, sind an die rauhen Umweltbedingungen der westlichen Provinzen Barmer, Jodhpur und Bikaner nicht angepaßt; Landsorten aus dem westlichen Rajasthan sind ihnen in der Tendenz überlegen.
Durch stärkere Einbindung der Landwirte in den Züchtungsprozeß versucht man gegenwärtig, den regionalen Anforderungen besser entsprechende Sorten aus den traditionell angebauten zu entwickeln. Dabei ergeben sich, wie Eva Weltzien-Rattunde vom International Crops Research Institute for the Semi-Arid Tropics in Hyderabad (Indien) erläutert, fruchtbare Wechselwirkungen zwischen der modernen Züchtungsforschung und dem Erfahrungsschatz der Dorfgemeinschaften. Insbesondere in Grenzertragsregionen können Ertragssicherheit durch Anpassung der Nutzpflanzen an Umweltbedingungen wie Klima, Boden und spezifische biotische Stressfaktoren und auch sozioökonomische Rahmenbedingungen wie Verwendungszweck und Märkte wichtiger sein als Maximalertrag in einzelnen Jahren.
Selbst innerhalb einer Familie gibt es manchmal unterschiedliche Auffassungen über die relative Bedeutung einzelner Sorteneigenschaften. Wenn etwa der Vater durch den Verkauf von Hirsestroh Geld verdienen kann, ist er mehr an hochhalmigen Sorten interessiert als seine Frau, die zur Versorgung der Familie auf hohen Kornertrag sieht.
Die Beteiligung der Bauern in einer Region bei der Sortenentwicklung kann sich von der gemeinsamen Definition von Zuchtzielen über die selbständige Auslese von Elitepflanzen aus einzelnen Populationen bis hin zur dezentralen Prüfung von Zuchtstämmen auf ihren Feldern erstrecken. Nehmen die Landwirte derart an der Entwicklung ihres eigenen Materials teil, schätzen sie dessen Wert um so höher. Sie werden kritisch die Werbung des kommerziellen Saatguthandels prüfen und ihre Hofsorten als anders, aber nicht mehr als minderwertig betrachten. Interaktive Züchtung trägt somit auch zur Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt bei. Bedeutsam ist dabei, daß lokale Saatgutmärkte entstehen. In weiten Teilen der Dritten Welt gibt es zu wenig qualitativ gutes Saatgut von einheimischen Gemüsearten und traditionell angebauten Feldfrüchten. So können keniansche Gärtner die Spinnenpflanze (Gynandropsis gynandra) – in der Nutzung vergleichbar mit unserem Blattspinat – nicht immer anbauen, weil auf den Wochenmärkten das Saatgut nur sporadisch angeboten wird. Es ließe sich viel für die Gesundheit der Bevölkerung erreichen, wenn sie stets ausreichend mit Vitaminen durch den Verzehr von Gemüse versorgt wäre.
Die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit fördert denn auch derzeit in der Südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft die Gründung von kleinen Saatgut-Unternehmen, die schrittweise Aufgaben der oft schwerfälligen staatlichen Sortenzüchtung übernehmen könnten. Durch Rückbesinnung auf die Vorteile traditionell angebauter einheimischer Nutzpflanzen und ihre Verbesserung kann viel für die Kulturartenvielfalt in Entwicklungsländern getan werden.
Hochleistungssorten verbessern Landsorten
Mit dem Begriff pflanzengenetische Ressource assoziiert man gemeinhin Landsorten und Wildarten sowie deren Nutzung in industrialisierten Ländern. Züchtung ist jedoch ein dynamischer Prozeß.
In Mexiko etwa findet seit kurzem ein interessantes Wechselspiel zwischen alten und neuen Sorten statt. Zehn Prozent der globalen Maisanbaufläche liegen in den Hochländern dieses Staates und Südamerikas sowie Ost- und Zentralafrikas. Landsorten dieser Regionen sind extrem vielfältig und ihrer jeweiligen Umwelt angepaßt. Sie haben aber ein nur mäßig entwickeltes Wurzelsystem, sind deshalb weniger standfest als Sorten der gemäßigten und subtropischen Regionen. Das International Maize and Wheat Improvement Centre in Mexiko-Stadt entwickelte durch Einkreuzung von Material aus Hybridzuchtprogrammen in Landsorten aus dem Hochland offen bestäubte Sorten und Testhybriden, die den alten Landsorten im Ertrag um 50 Prozent überlegen sind und von Wind und Regen nicht so leicht umgebrochen werden. Sie enthalten gleichwohl fast 60 Prozent des Erbgutes der Landsorten. So wird die genetische Vielfalt in der Region nicht durch kommerzielle Hochleistungshybriden ausgelöscht, sondern durch Kreuzung, Rekombination und Auslese schrittweise verbessert.
Durch die Einführung solcher und einer Reihe anderer Eigenschaften aus modernen Zuchtstämmen in Landsorten von Mais hofft man, die wirtschaftliche Situation in den lateinamerikanischen und afrikanischen Hochländern zu verbessern. Gleichzeitig wird durch Sammlung und Konservierung von Landsorten das ursprüngliche Material gesichert.
Damit setzt man mit zeitgemäßen Methoden nur fort, was Bauern schon immer geleistet haben. Begleitende ethnobotanische Untersuchungen zeigten nämlich, daß traditionelle Saatgutproduktionssysteme offener und dynamischer sind als gemeinhin angenommen. Die Einführung von Genen aus anderen Teilen der Welt in Hochlandmais entspricht also durchaus einer Tradition in den Entwicklungsländern, wo erfolgreich pflanzengenetische Innovationen geschaffen worden sind.
Die Erhaltung pflanzengenetischer Vielfalt für die Ernährung und Agrarproduktion ist freilich nur ein Aspekt der globalen Umweltkrise. Wenn es nicht gelingt, nachhaltiges Wirtschaften zu einem Grundprinzip menschlichen Handelns zu machen, brauchen wir auch keine umfangreiche Arche Noah, weil es für die geretteten Arten bald keine Lebensräume mehr geben würde. Nachhaltigkeit darf man sich allerdings nicht vom Rückgriff auf die Bewirtschaftungsmethoden unserer Vorväter versprechen. Erforderlich ist die Entwicklung umweltverträglicher Produktionsstrategien unter Einsatz all unserer biologischen Kenntnisse und technischen Fähigkeiten. Pflanzengenetische Ressourcen sind besonders verwundbar und erfordern deshalb besondere Aufmerksamkeit und pflegliche Verwendung. Eines immerhin ist der Agrarwissenschaft inzwischen bewußt: Es gibt nicht nur eine Strategie – die der Industrieländer –, sondern eine Vielzahl von Variationen, wie es Völker und Wirtschaftssysteme auf unserem Planeten gibt.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1996, Seite 82
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