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Bioinformatik: Proteinfaltung als Computerspiel

Mehr als 50 000 Teilnehmer eines Onlinespiels hatten nicht nur ihren Spaß, sondern leisteten zugleich nützliche Forschungsarbeit. Mit ihrer menschlichen Intuition übertrafen sie Computerprogramme bei einer notorisch schwierigen Aufgabe: der Vorhersage der Proteinfaltung.
Protein
Die Abfolge der Aminosäurebausteine bestimmt im Prinzip die dreidimensionale, vielfach gewundene Anordnung, zu der sich ein kettenförmiges Proteinmolekül in Sekundenbruchteilen verknäult – oder "faltet", wie Biologen sagen. Es gibt inzwischen Computerprogramme, die diesen Vorgang durch Optimierung der Energie des Gesamtsystems (Molekül plus Wasser als Lösungsmittel) simulieren und bisweilen auch die richtige Struktur herausbekommen. Erfolgreich sind solche Programme allerdings nur bei den kleinsten der vielen bekannten, sich unabhängig faltenden Untereinheiten von Proteinen, in der Fachsprache als Domänen bezeichnet. Viele biologisch oder medizinisch interessante Problemfälle, auch und gerade solche, bei denen sich die Struktur des gefalteten Moleküls nicht experimentell – etwa mittels Röntgenbeugung – ermitteln lässt, sind damit bisher nicht lösbar.

David Baker von der University of Washington in Seattle ist deshalb auf eine ungewöhnliche, zunächst paradox anmutende Idee verfallen. Der Forscher, der auch eines der erfolgreichsten Faltungsprogramme namens Rosetta entwickelt hat, begann vor einigen Jahren damit, statt Computeralgorithmen das riesige Reservoir menschlicher Internetnutzer für die Energieoptimierung einzusetzen. Damit diese auch Lust bekommen, ohne Bezahlung stundenlang an einem elektronischen Molekülmodell herumzudrehen, hat Baker gemeinsam mit Zoran Popović von derselben Universität die Aufgabe in ein Computerspiel gekleidet.



Foldit genannt, erfordert es keinerlei biochemische Vorkenntnisse. Wie üblich, erreicht der Spieler mit zunehmendem Erfolg immer höhere Schwierigkeitsstufen. Die beiden untersten Niveaus dienen dem Erlernen der nötigen Fertigkeiten im Verdrehen und Optimieren von Molekülmodellen. Erst dann geht es darum, echte Probleme zu lösen. Dabei muss ein Spieler nicht im Alleingang knobeln, sondern kann sich auch mit anderen zu einem Team zusammentun. Eine Punktwertung belohnt die Mühe. Als Anreiz zur Teilnahme fungieren auch soziale Komponenten wie Chat- und Wiki-Seiten, auf denen die Spieler sich austauschen und einander kennen lernen können.

Mitte 2008 hatten Baker und Popović die erste Version von Foldit fertig gestellt und begannen Freiwillige zu rekrutieren. Anhand der Rückmeldungen der frühen Teilnehmer verbesserten sie das Spiel stetig weiter: Der Erwartungsdruck der Forscher, nützliche Strukturprognosen für echte Proteine zu erhalten, förderte eine fruchtbare Symbiose von Mensch und Computerprogramm.

Zwei Jahre nach dem Start haben bereits über 57 000 Spieler mitgemacht. Und die Forscher ziehen eine positive Bilanz. Tatsächlich können Teilnehmer, welche die höchste Stufe erreichen, die Faltung von Proteinen zutreffender voraussagen als die besten Computerprogramme. Das ließ sich an Strukturen, die zwar ermittelt, aber noch nicht veröffentlicht worden waren, ganz exakt nachweisen. Die durchschnittliche Abweichung der tatsächlichen dreidimensionalen Gestalt des Proteins von der Vorhersage, in Nanometern gemessen, war bei den Algorithmen in der Regel größer als bei den menschlichen Spielern der höchsten Rangstufe.

Intuition kontra Rechenleistung

Wie schafften es diese, das Computerprogramm zu schlagen? Ein großes Handikap der bisherigen Algorithmen besteht darin, dass sie zwar naheliegende Verbesserungen der Gesamtenergie leicht und schnell finden, aber versagen, wenn sie in einer relativ günstigen, aber dennoch falschen Anordnung feststecken. Einem menschlichen Spieler fällt es in solchen Fällen leichter, radikale Entscheidungen zu treffen – etwa größere Teile der bereits geordneten Proteinkette aufzutrennen und neu zusammenzulegen. Ein Mensch erkennt oft intuitiv auch relativ weit entfernte Lösungen. Dadurch kann er Wege beschreiten, die dem strikt mit energetischen Gewinnen und Verlusten kalkulierenden Programm versperrt bleiben.

Überdies legt ein Ensemble aus Tausenden von Spielern eine Fülle an Vorgehensweisen und Strategien an den Tag, wie sie ein Computerprogramm unmöglich alle anwenden kann. Zwar sind die meisten Ansätze letztlich nicht erfolgreich, doch die Vielfalt erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ein Weg dabei ist, der zur Lösung führt.

Wo liegen die Schwächen der menschlichen Spieler? Am schwersten tun sie sich offenbar mit einer völlig entfalteten, ausgestreckten Kette. Wie sich erwies, empfiehlt sich deshalb eine gemischte Vorgehensweise, bei der ein Computerprogramm die erste Phase der Faltung, den "Kollaps" zu einem kompakten, aber noch nicht korrekt strukturierten Zustand, erledigt. Die Foldit-Spieler übernehmen dann die kniffligen Umordnungen, die zur energetisch günstigsten dreidimensionalen Gestalt führen.

Im nächsten Schritt plant Baker, die Vorgehensweise umzukehren: Statt für eine Proteinkette bekannter Zusammensetzung das korrekte Faltungsmuster zu finden, sollen die Spieler eine Aminosäuresequenz entwerfen, die sich zu einer vorgegebenen Struktur verknäuelt. Das wäre von großem Nutzen für die Entwicklung neuer Medikamente; denn es würde die Herstellung maßgeschneiderter Wirkstoffe ermöglichen, die sich an eine gewünschte Zielstruktur heften – etwa einen Rezeptor oder die Bindungstasche eines Enzyms – und so eine therapeutisch sinnvolle physiologische Reaktion auslösen. Einige der am höchsten bewerteten Foldit-Cracks haben bereits Gelegenheit, sich – rein spielerisch, versteht sich – dieser neuen Aufgabe zu widmen.

Michael Groß

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