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Raumschiff Neutrino. Die Geschichte eines Elementarteilchens


"Spaceship Neutrino", so der Originaltitel – wer denkt da nicht unwillkürlich an Science-fiction? Und dennoch: Christine Sutton, an der Universität Oxford auf dem Feld der Teilchenphysik tätig, beschreibt die Realität.

Es existiert wirklich, dieses Elementarteilchen, das so schwach wechselwirkt, daß es die Erde durchqueren kann, als ob da gar nichts wäre, dessen Masse wir bisher nicht kennen, von dem wir lediglich wissen, daß es sehr leicht sein muß – und das trotzdem den dominierenden Anteil an der Gesamtmasse unseres Universums ausmachen könnte. Es nimmt eine Schlüsselstellung in ganz verschiedenen Bereichen der Physik ein, obwohl viele seiner grundlegenden Eigenschaften noch immer im verborgenen liegen: Bei der Erforschung der inneren Struktur der Baryonen, bei der Energieerzeugung in der Sonne, bei den Vorgängen, die im Zuge einer Supernova-Explosion ablaufen, ja selbst für die Entwicklung unseres Universums vom Urknall bis heute und schließlich auch für sein künftiges Schicksal – überall spielen Neutrinos eine entscheidende Rolle.

Christine Sutton will, wie sie im Vorwort erläutert, "herausstellen, was wir über Neutrinos wissen und wie wir zu diesem Wissen gelangt sind". Dies ist ihr, obwohl sie nie an einem Neutrino-Experiment mitgearbeitet hat, in erfreulich überzeugender Weise gelungen.

Von der gewagten Postulierung eines neuartigen Teilchens zur Erklärung des beim Beta-Zerfall beobachteten kontinuierlichen Energiespektrums durch Wolfgang Pauli 1930 über den ersten direkten Nachweis des Neutrinos durch Fred Reines und Clyde Cowan 26 Jahre später sowie die Beschreibung der tragenden Rolle, die dieses Elementarteilchen bei der Etablierung des Standardmodells der elektroschwachen Wechselwirkung gespielt hat, bis hin zu den aktuellen Forschungsarbeiten im Zusammenhang mit dem Sonnenneutrino-Rätsel (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1990, Seite 76): Stets werden die wegweisenden Experimente vorgestellt, wobei die in der Regel gut verständlichen Erläuterungen von hervorragenden Illustrationen und klaren Zeichnungen unterstützt und durch zahlreiche Randbemerkungen und Anekdoten aus dem Umfeld der Experimente aufgelockert werden. Dabei besteht leider gelegentlich die Gefahr, daß man die wissenschaftliche Zielsetzung der Experimente vorübergehend aus den Augen verliert.

Wie wohl bei jedem Buch über ein aktuelles und im Fluß befindliches Forschungsgebiet gilt auch hier: Bis zum Erscheinen ist der Inhalt in Teilen schon wieder veraltet. Das Buch spiegelt im wesentlichen den Stand von 1991 wider; das gilt sowohl für den Status der beschriebenen Experimente als auch für das Gewicht, das einzelnen Teilaspekten beigemessen wird. So nimmt die damals hochaktuelle, inzwischen aber wohl als geklärt zu betrachtende Frage nach einem möglichen 17-keV-Neutrino (Spektrum der Wissenschaft, April 1993, Seite 28) breiten Raum ein, während das weite Gebiet der Neutrino-Oszillationen, von eminenter Bedeutung im Zusammenhang mit der Suche nach Neutrinomassen, recht stiefmütterlich behandelt wird.

Hier hätte sich anläßlich des Erscheinens der deutschen Übersetzung eine große Chance geboten. Leider wurde sie nicht genutzt. Zwar sind mehrere kurze Abschnitte neu aufgenommen worden, insbesondere einer über neuere Resultate der Gallium-Experimente zum Nachweis solarer Neutrinos, doch ist die Darstellung unvollständig, in den gezogenen Schlußfolgerungen angreifbar und deshalb nur von sehr eingeschränktem Wert. Eine tiefergehende Diskussion wäre wünschenswert.

Die Übersetzung kann in weiten Teilen nicht überzeugen. Es haben sich mehrere drastische, den Sinn verzerrende oder gar ins Gegenteil verkehrende Fehler eingeschlichen. Ein Beispiel: Der Satz "The neutrinos from the Sun have energies of 14 MeV at most, and then only when they come from the relatively infrequent decays of boron-8; those from SN 1987 A had an average energy of about the same value, in line with theoretical models of Type II supernovae" lautet in der deutschsprachigen Ausgabe: "Die Neutrinos von der Sonne besitzen meist eine Energie von 14 MeV; die Neutrinos von SN 1987 A hatten den theoretischen Modellen für Typ-II-Supernovae zufolge nur dann eine durchschnittliche Energie ähnlicher Größe, wenn sie aus dem relativ seltenen Zerfall von Bor-8 stammten."

Trotzdem ragt das Buch deutlich aus der Masse der populärwissenschaftlichen Sachbücher heraus. Der Inhalt ist schlüssig strukturiert, die Darstellung flüssig lesbar, dabei dennoch hinreichend exakt, die Aufmachung – insbesondere die Bebilderung – ausgezeichnet.

Wer sollte das Buch lesen, wer kann es lesen? Lesen sollte es jeder, der auf dem Gebiet der Neutrinophysik arbeitet. Er findet unterhaltsam präsentiert eine Fülle von Hintergrundinformationen und historischen Querverbindungen, dazu noch exzellentes Bildmaterial. Lesen und verstehen kann es, wer über grundlegendes Wissen in moderner Physik verfügt. Er wird Einblick in ein hochaktuelles Forschungsgebiet gewinnen und sich vielleicht gar von der Faszination anstecken lassen, die das "Geisterteilchen" Neutrino auszuüben vermag.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1995, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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