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Biologie: Rechts oder links.

In der Natur und anderswo. Wiley-VCH, Weinheim 1999. 214 Seiten, DM 68,–.


Wer nur Chemie macht, macht auch die nicht richtig." Getreu dieser Erkenntnis des Philosophen Georg Christoph Lichtenberg hielt Henri Brunner, Professor für Anorganische Chemie an der Universität Regensburg, in den vielen Jahren seiner akademischen Tätigkeit die Augen über die Grenzen seiner Disziplin hinweg geöffnet, um dem Phänomen von Bild und Spiegelbild auf die Schliche zu kommen. Das vorliegende Buch dokumentiert dieses Strukturmerkmal an vielen alltäglichen und weniger alltäglichen Dingen in 227 eindrucksvollen Abbildungen.

So kommen Spielewürfel üblicherweise nur in einer von zwei möglichen Händigkeiten vor: Die Flächen mit den Augenzahlen 1, 2 und 3 sind für den Betrachter, der auf die gemeinsame Ecke schaut, gegen den Uhrzeigersinn angeordnet. Die spiegelbildliche Anordnung würde keine Nachteile bringen, sie kommt nur so gut wie nicht vor – durch Konvention. Andere Konventionen unterscheiden sich kurioserweise diesseits und jenseits des Atlantiks, so die Laufrichtung der Schrift auf Buchrücken und die Orientierung der Krawattenstreifen.

Anhand unzähliger weiterer Beispiele gelingt es Henri Brunner, den Leser rechts-links-bewusst und rechts-links-suchend zu machen. Die Gehäuse von Schnecken und Muscheln können im Prinzip eine Rechtshelix oder auch eine Linkshelix beschreiben. Bei fast allen Schnecken- und Muschelarten dominieren allerdings die rechtshändigen Gehäusestrukturen. Offensichtlich benutzt die belebte Natur – den Menschen mit seinen Schrauben, Würfeln und Krawatten eingeschlossen – häufig nur eine der zwei möglichen spiegelbildlichen Konfigurationen. In der unbelebten Natur entstehen helikale Strukturen hingegen in der Regel in einem racemischen Verhältnis, das heißt zu gleichen Anteilen rechts wie links gewunden, wie es Brunner in den Abschnitten "Einführung" und "Beispiele" eindrucksvoll belegt.

Aber warum produziert die belebte Natur einhändige (homochirale) Strukturen? War es Zufall oder vorherbestimmt, dass sich gerade die "Rechts-Schne-cken" herausbildeten? Ein emsiger russischer Wissenschaftler sortierte Abertausende von Schnecken in der damals großen Sowjetunion nach dem Breitengrad ihres Fundortes. Er vermutete die Erdrotation als Ursache der Händigkeit; demnach hätte sich das Verhältnis von rechts- zu linksgängigen Schneckengehäusen bei Annäherung an den Äquator allmählich der Gleichheit annähern müssen. Einen Beleg für seine Hypothese blieb er jedoch schuldig.

Brunner geht auf solch tiefergehende Fragen in dem Abschnitt "Erklärung" nur mit der kurzen Feststellung ein, dass die Asymmetrie genetisch fixiert sei. Grundsätzlichere Dinge behandelt er überhaupt nur kurz. So stellt er noch nicht einmal die klassische Denkfrage, warum ein Spiegel rechts und links vertauscht, nicht aber oben und unten.

Dabei gibt es durchaus bemerkenswerte Denkansätze: Graham Cairns-Smith in Glasgow befasst sich in theoretischen wie experimentellen Arbeiten mit dem eigentlichen Ursprung der Händigkeit in belebter Materie. Wenn während der chemischen Evolution die ersten organischen Moleküle an einem Ort entstanden sind, an dem zufällig die – sagen wir – linksgewundenen Moleküle eines anorganischen Stoffes in der Überzahl waren, dann mag die chirale Information tatsächlich von anorganischen in organische Moleküle übertragen worden sein. Cairns-Smith bezeichnet einen solchen Migrationsprozess als "genetic takeover". Den Übergang in umgekehrter Richtung, von organisch nach anorganisch, realisieren zum Beispiel die Schnecken, indem sie ihren asymmetrischen Körperbau ihrem anorganischen Gehäuse aufprägen.

Wenn sich im interstellaren Raum oder auf anderen Planeten oder Monden des Sonnensystems in der chemischen Evolution Vorstufen von Biomolekülen wie zum Beispiel Aminosäuren entwickelt haben, wäre es interessant zu erfahren, ob in ihnen, wie in lebenden Organismen der Erde, die Rechts- oder die Links-Form organischer Substanzen überwiegt, und wenn ja, welche. Brunner spricht gegen Ende des Kapitels "Erklärung" Missionen zum Mars, zum Jupitermond Europa und zum Saturnmond Titan an. Anzufügen ist, dass bislang keine der Missionen ein Messinstrument mitführte, das händige organische Komponenten in außerirdischem Material analysieren könnte. Eine solche Untersuchung wird erst mit dem Experiment Cosac auf der Esa-Mission Rosetta durchgeführt werden, bei der im Jahre 2012 ein Landeroboter versuchen soll, auf dem Kern eines Kometen zu landen und dessen Materie auch auf chirale Bestandteile hin zu analysieren.

Fazit: Als Einführung in die interdisziplinären Themen Asymmetrie und Chiralität in der Natur sei das reich illustrierte Buch von Henri Brunner jedem nachdrücklich empfohlen. Für diejenigen, die sich noch intensiver mit der Materie befassen wollen, sei auf den Klassiker zu diesem Thema (Dieter Rein: "Die wunderbare Händigkeit der Moleküle", Birkhäuser, Basel 1992) verwiesen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2000, Seite 107
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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