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Informatik: Roboter, heile dich selbst!

Sich selbst reparierende Computer bilden die ersten Anwendungen von künstlicher Fortpflanzung.


Ein Forscher schätzt es in der Regel nicht, wenn sein Gerät mutwillig zerstört wird. Daniel Mange aber ist es gerade recht, wenn Besucher an einer seiner Schöpfungen den dort angebrachten "Kill"-Knopf drücken. Im Mai vergangenen Jahres stellte seine Arbeitsgruppe ihr jüngstes Werk auf einer Wissenschaftsmesse der Öffentlichkeit vor und lud die Besucher ein, das System nach Kräften zu beschädigen.

Mange will elektronische Schaltkreise mit der Fähigkeit ausstatten, trotz einiger Schrammen weiter zu funktionieren, wie Kreaturen aus Fleisch und Blut eben. Die Genauigkeit und Geschwindigkeit digitaler Hardware mit der gesunden Robustheit organischen Gewebes – das ist eins der Traumziele der modernen Elektronik.

Fehlertolerante Schaltkreise sind nichts Neues. Das Space Shuttle hat sogar fünf Prozessoren, von denen vier die gleichen Berechnungen ausführen, während der fünfte kontrolliert, ob die Ergebnisse übereinstimmen, und jeden Abweichler abschaltet. Allerdings stehen und fallen diese Systeme mit der zentralen Kontrollinstanz. Was passiert, wenn diese ausfällt?

Mutter Natur hat dieses Problem durch radikale Dezentralisierung gelöst. Unsere Körperorgane bestehen aus lauter im Wesentlichen gleichen Zellen; jede von ihnen erfüllt ihre spezielle Aufgabe eigenständig und begeht Selbstmord im Falle einer Infektion oder ihres Versagens, sodass neue Zellen ihre Aufgaben übernehmen können. Mit genau diesen Qualitäten will Professor Mange von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne elektronische Schaltkreise ausstatten. Sein seit 1993 laufendes Projekt heißt "Embryonics" wie embryonale Elektronik.

Eine seiner ersten Erfindungen ist eine künstliche Zelle namens Mictree (microinstruction tree, "Mikro-Befehlsbaum"). In einem knapp streichholzschachtelgroßen Plastikgehäuse stecken ein einfacher Prozessor und ein Vier-Bit-Register. Mit elektrischen Kontakten an den Seiten können die Zellen wie Legosteine zusammengesteckt werden. Wie in den zellulären Automaten stehen die Mictree-Zellen nur mit ihren vier unmittelbaren Nachbarn in Kontakt.

Die Zellen folgen den Anweisungen ihres "Genoms" – eines kleinen Programms in der Programmiersprache Pascal. Wie ihre biologischen Vorbilder enthält jede Zelle das gleiche Ge-nom. Sie führt aber nur einen gewissen Teil davon aus, der von ihrer Position im Gesamtsystem bestimmt wird. Diese Position errechnet die Zelle durch Verständigung mit ihren unmittelbaren Nachbarn. Es gibt weit mehr Zellen als nötig; aber dank dieser Verschwendung kann das System den Tod einzelner Zellen verkraften. Wenn jemand den "Kill"-Knopf drückt, schaltet die Zelle sich ab, und ihr linker Nachbar wird direkt mit dem rechten verbunden. Letzterer berechnet seine Position neu und übernimmt damit die Arbeit seines verstorbenen Kollegen. Seine eigenen Aufgaben werden von der Zelle zur Rechten übernommen, die ihrerseits ihre Position neu berechnet hat, und so weiter, bis eine zuvor inaktive Reservezelle in den Dienst gestellt wird.

Wie bei jedem Parallelrechner ist auch bei dem Mictree-Gitter die Gesamtaufgabe geschickt in Teilaufgaben für die einzelnen Zellen zu zerlegen. Als echter Schweizer wählte Mange als Gesamtaufgabe, die Zeit anzuzeigen – eine Stoppuhr mit besonderer Zuverlässigkeit. Die Darstellung von Minuten und Sekunden erfordert vier Zellen, eine pro Ziffer. Das Genom hält Anweisungen für zwei Zelltypen bereit: einen Zähler von null bis neun für die Einer und einen von null bis fünf für die Zehner. Ein Oszillator sendet einen Puls pro Sekunde in die äußerste rechte Zelle. Diese zählt für jeden Puls eins hoch; nach dem zehnten Puls setzt sie sich auf null zurück und sendet einen Impuls zu ihrem linken Nachbarn. Der zählt bis sechs, setzt sich zurück, schickt dabei einen Impuls nach links und so weiter.

Die Uhr lebt auf zwölf in einer Reihe zusammengesteckten Zellen; wenn eine Zelle stirbt, verschiebt sich die Uhr entsprechend und arbeitet weiter. Natürlich ist die Robustheit auch dieser Uhr begrenzt; wie die sprichwörtliche Katze hat sie nur neun Leben.

Die Zellen des Prototyps Mictree sind noch fest verdrahtet und daher nur sehr beschränkt verwendbar. In einem kommerziellen Produkt würde man stattdessen ein field-programmable gate array (FPGA) verwenden, eine Anordnung elektronischer Bauelemente, deren Verschaltung im laufenden Betrieb geändert werden kann (Spektrum der Wissenschaft 8/1997, S. 44). Manges Arbeitsgruppe entwickelt zurzeit ein Gate Array namens Muxtree (multiplexer tree), das für künstliche Zellen optimiert ist. Im biologischen Bild sind dessen Komponenten die Moleküle, aus denen die Zelle aufgebaut ist. Jedes "Molekül" besteht aus einem Logikgatter, einem Datenbit und einer Reihe von Konfigurationsbits, welche die Funktion des Gatters festlegen.

Dieses Bauprinzip bietet nicht nur Flexibilität, sondern auch zusätzliche Robustheit. Jedes Molekül enthält zwei Exemplare des Gatters und drei des Datenbits. Wenn die beiden Gatter unterschiedliche Ergebnisse liefern, schaltet sich das Molekül zum Wohle der gesamten Zelle ab. Mit seinem letzten Atemzug sendet es sein Datenbit (welches durch dreifache Speicherung gesichert ist) und seine Konfiguration an den rechten Nachbarn. Der übernimmt die Aufgabe, tritt seinen eigenen Job an seinen rechten Nachbarn ab und so weiter, bis sich ein Reservemolekül findet. Diese zweite Stufe der Fehlertoleranz verhindert, dass ein einziger Fehler die gesamte Zelle unbrauchbar macht.

Zweitausend "Moleküle" in vier Zellen der Größe 20x25 bilden "BioWall" – die riesige digitale Uhr, die Manges Team kürzlich vorführte. Jedes Molekül sitzt in einem kleinen Gehäuse mit einem "Kill"-Knopf und einer Leuchtanzeige. Einige Moleküle führen Berechnungen aus, andere bilden die Pixel, aus denen die Ziffernanzeige zusammengesetzt ist. Ich gab mir alle Mühe, das System durch eifriges Betätigen von Knöpfen abstürzen zu lassen – was mir normalerweise auf Anhieb gelingt. Die hartnäckige Uhr aber hielt eisern durch. Ihre Ziffern sahen zwar zum Teil etwas verzerrt aus, wenn einzelne Leuchtpixel nach rechts auswanderten, aber sie waren immer noch lesbar, im Gegensatz zu den meisten defekten elektronischen Anzeigen.

Die gleichwohl noch auftretenden Defekte schreibt Mange Synchronisationsfehlern zu. Die Rechenleistung ist zwar dezentralisiert, aber die Kommunikation findet synchron nach den Vorgaben eines zentralen Taktgebers statt, und manchmal kommen Zellen aus dem Takt. Ein Team unter der Leitung von Andy Tyrell von der Universität York (England) experimentiert mit Zellen, die wie ihre biologischen Vettern asynchron arbeiten. Spezielle Signale (handshake) dienen zur Eröffnung und zur Beendigung einer Kommunikation. Mit einigen Fehlern kommt das System im gegenwärtigen Zustand noch nicht zurecht, darunter fehlerhafte Konfigurationsbits. Tyrells Team denkt an den Einsatz von Aufpassermolekülen – ein Immunsystem, das unter anderem die Konfigurationen auf Defekte überprüft.

Diese Systeme erfordern zwar großen Materialaufwand, aber das trifft auch auf andere fehlertolerante Systeme zu. Außerdem sollte es nicht allzu schwer sein, einen Muxtree auf die Größenordnung von Nanometern zu verkleinern. Seine "Moleküle" sind einfach genug, um durch echte Moleküle realisierbar zu sein. Mange sagt: "Wir bereiten uns darauf vor, dass die Elektronik sich in der gleichen Größenordnung abspielt wie die Biologie."

Vom philosophischen Standpunkt kommt Embryonics dem Traum von der selbstreplizierenden Maschine besonders nahe. Es ist zwar nicht ganz so dramatisch wie ein Roboter, der im Elektronikfachgeschäft Bauteile einkauft und sie sich zu Hause anlötet, oder der sich einen liebenden Partner nach seinen Vorstellungen zusammenbastelt. Im Endeffekt läuft es aber auf das Gleiche hinaus. Ob die Maschinen ihre Chips umprogrammieren oder mit neuronalen Netzen oder genetischen Algorithmen neues, ungeahntes Wissen erwerben – allein die Vorstellung, sie könnten ihr Schicksal selbst bestimmen, klingt Angst einflößend. Vielleicht sollten wir eher darüber freuen, dass die Maschinen uns immer ähnlicher werden: unvollkommen, fehlbar, aber auch mit robuster Kreativität.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2002, Seite 30
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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