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Tragende Strukturen, die im Vergleich zu ihrer Ausdehnung sehr dünn sind, werden als Flächentragwerke bezeichnet. Sind sie eben, nennt man sie Scheiben oder Platten, je nachdem, ob sie parallel oder senkrecht zur Fläche belastet werden. Sind sie gekrümmt, nennt man sie Schalen, wenn sie extrem dünn sind, auch Membranen.

Gut gebaute Schalen können mit wenig Material hohe Belastungen ertragen und große Spannweiten überbrücken. Deshalb kommen sie in Natur und Technik so häufig vor: Die Muschelschale, das Blütenblatt, das Bambusrohr, die pflanzliche oder tierische Zelle, der Luftballon, die Traglufthalle, die Kuppelschale einer Kathedrale, die Autokarosserie, der Ölbehälter, der Flugzeugrumpf, der Joghurtbecher, der Kühlturm, die Rohrleitung und die Röhre eines Knochens sind nur einige Beispiele. Was ist der Grund für dieses enorme Leistungsvermögen?

Zur Erklärung diene ein Gegenbeispiel. Man stelle in Gedanken ein Gewicht auf eine Sperrholzplatte, die an den Rändern unterstützt ist. Sie biegt sich durch; die obere Holzschicht wird zusammengepreßt und deshalb auf Druck beansprucht, die untere auf Zug. Von oben nach unten wechselt also die Beanspruchung das Vorzeichen; in der Mitte ist sie null. Die Fasern dieser Mittelfläche tragen mithin gar nichts zur Lastabtragung bei und die in der Nachbarschaft der Mittelfläche nur wenig. Das Material ist schlecht ausgenutzt: Eine auf Biegung beanspruchte Platte trägt nicht besonders viel.

Wenn sich dagegen sämtliche Fasern des Materials an der Lastabtragung beteiligen, ist die Konstruktion optimal ausgenutzt und entsprechend leistungsfähig. Wir nennen das einen Membranspannungszustand. Ein Blatt Papier setzt einer Biegung kaum einen Widerstand entgegen. Aber in einer hängemattenähnlichen Situation kann es große Lasten tragen. Eine Kuppel verdankt ihre gro- ße Tragfähigkeit der Tatsache, daß sie durchgängig, von der Ober- bis zur Unterseite, auf Druck beansprucht ist.

Ein Schalentragwerk ist also so zu konstruieren, daß es für die zu erwartenden Lasten den Membranspannungszustand ausbildet. Ein Biegungszustand, das heißt ein Vorzeichenwechsel der Spannung über die Dicke hinweg, ist dagegen dringend zu vermeiden. Dies erreicht man durch eine spezielle Formgebung, durch Stütz- und Versteifungsmaßnahmen sowie durch Vorspannung. Eine natürliche Konstruktion wie ein Blütenblatt oder ein Bambushalm kann der Biegebeanspruchung durch Windangriff ausweichen, indem es sich – notfalls sehr stark – deformiert; das soll eine technische Konstruktion im allgemeinen nicht tun. Ihre Ausgangsform muß deshalb so konstruiert sein, daß sie unter Belastung keine Biegung entwickelt.

Aus diesem Grund reagieren Schalen heftig auf Abweichungen von ihrer Idealsituation: Sie sind imperfektionsempfindlich. Dies wird besonders deutlich unter Druckbeanspruchungen, beispielsweise wenn man eine stehende Getränkedose von oben zusammendrückt. Zunächst wirkt sich die Krümmung sehr positiv aus: Sie bewirkt hohes Tragvermögen. Bei einer bestimmten Grenzlast aber verformt sich die Schale drastisch – in der Regel plötzlich und ohne warnende Vorzeichen. Eine zylindrische Schale beult aus (Bild 1), verbiegt sich, möglicherweise reißt das Material; eine Kuppelkonstruktion bricht spektakulär zusammen. Beulvorgänge dieser Art sind in der Praxis absolut zu vermeiden. Die Höhe der Grenz- oder Beullast hängt stark von Abweichungen in der geometrischen Form der Schale, von Eigenspannungen, von geänderten Randbedingungen und anderem ab. Kleine Änderungen haben mitunter große Wirkungen. Bei der Konstruktion muß man deshalb erhebliche Sicherheitszuschläge vorsehen.


Simulation mit der FEM

Für gekrümmte Flächentragwerke verwendet man spezielle Schalentheorien und zugehörige FEM-Approximationen, die den extremen Unterschieden zwischen Dicke und Länge angemessen sind. Häufig sind die sich ergebenden Probleme nichtlinear, einerseits, weil große Deformationen die geometrischen Verhältnisse im Tragwerk so verändern, daß sie in die Gleichungen für das Kräftegleichgewicht eingehen, andererseits, weil man nicht einfach unterstellen kann, die im Material entstehenden Spannungen seien den Dehnungen proportional (geometrische beziehungsweise materielle Nichtlinearität). Entsprechend hoch sind die Ansprüche an die Lösungsalgorithmen.

Häufig interessiert einen nicht nur ein Gleichgewichtszustand eines Systems, sondern auch ein Prozeß. Das ist zum Beispiel der zeitliche Verlauf einer Deformation oder auch die Veränderung einer Struktur unter Variation gewisser Parameter wie einer äußeren Last oder der Abmessungen einzelner Bauteile. Hierfür ist spezielle Software einzusetzen.

Die Komplexität von Realität und Modellierung erfordert sehr viel Hintergrundkenntnisse. Dem enormen Leistungsvermögen der verfügbaren Software zum Trotz ist man von einer automatischen Lösung auf Knopfdruck noch weit entfernt.

Eine dünne Schale ist ein im wesentlichen zweidimensionales Gebilde in dem Sinne, daß zwei unabhängige räumliche Variable zur Beschreibung ihrer Form ausreichen. Da liegt es nahe, ihr Verhalten so zu modellieren, daß die Dickendimension nicht explizit vorkommt, und sich damit den erheblichen Rechenmehraufwand für die dritte räumliche Variable zu ersparen.

In vielen Fällen hat sich eine Hypothese als tragfähig erwiesen, die 1850 von dem deutschen Physiker Gustav Kirchhoff (1824 bis 1887) für ebene Platten formuliert und 1888 von dem britischen Mathematiker Augustus E. H. Love (1863 bis 1940) auf Schalen verallgemeinert wurde. Dabei nimmt man an, daß das Material, das entlang einer zur Mittelfläche senkrechten Geraden, der Schalennormalen, liegt, auch nach einer Deformation in einer Geraden und senkrecht zur verformten Mittelfläche bleibt.

Unter dieser Annahme wird allerdings die Verdrehung der Normalen abhängig von der Verschiebung der Mittelfläche; man muß diese Zwangsbedingung berücksichtigen und erhält dadurch ein Differentialgleichungs-System höherer Ordnung. Um dieses lösen zu können, muß eine FEM-Approximation für die Verschiebungen an den Übergängen zwischen Elementbereichen nicht nur, wie üblich, stetig, sondern auch knickfrei (stetig differenzierbar) sein. Das erfordert komplizierte Elemente, zum Beispiel Polynome fünfter Ordnung.

In den letzten Jahren hat man deshalb zunehmend die Kirchhoff-Love-Hypothese zugunsten der Reissner-Mindlin-Kinematik aufgegeben, in der die Querschubverzerrungen berücksichtigt sind. (Eric Reissner, 1913 bis 1996, hat 1945 die zugehörige Theorie formuliert, Raymond D. Mindlin, 1906 bis 1987, unabhängig 1951 eine Variante entwickelt.) Damit sind Verschiebungen und Drehungen wieder entkoppelt; man hat mehr unabhängige physikalische Größen im System, kommt aber für jede mit finiten Elementen geringerer Ordnung aus. Der Ansatz ist also nach wie vor zweidimensional, aber die vereinfachenden Annahmen sind der Realität näher. Bei dieser Modifikation trat zunächst das im vorstehenden Artikel beschriebene locking auf; Abhilfe schaffen beispielsweise gemischte finite Elemente.

In jüngster Zeit sind Tendenzen zu erkennen, die vereinfachenden Annahmen fallenzulassen und trotz hohen Rechenaufwands Schalen wieder als dreidimensionale Kontinua zu betrachten. Dadurch lassen sich auch komplexe dreidimensionale Stoffgesetze mit plastischem Verhalten, Rißbildungen und Delaminationen (Aufspaltung in mehrere Schichten) sowie Sandwich- und Composite-Strukturen, die aus verschiedenen Materialien bestehen, berücksichtigen. Über Materialgrenzen hinweg verläuft die Spannung nicht einfach linear oder glatt; die finiten Elemente sind so anzusetzen, daß sie dieses Verhalten wiedergeben können. Für spröde und quasi-spröde Materialien und Verbundwerkstoffe wie bewehrten und unbewehrten Beton, Keramiken und faserverstärkte Kunststoffe sind zusätzliche Plastizitäts- und Schädigungsmodelle heranzuziehen. (Zu Verbundwerkstoffen siehe auch Spektrum der Wissenschaft, November 1996, Seite 18.) Auf diese Weise lassen sich die Grenzen der Trag- und Verformungsfähigkeit, aber auch das Energieabsorptionsverhalten ermitteln, eine für die Sicherheit einer Konstruktion sehr wichtige Information.

Nachdem man durch Simulation ermitteln kann, wie eine vorgegebene Konstruktion sich unter Last verhält, ist der nächste Schritt, die Konstruktion so zu variieren, daß man mit geringem Materialaufwand ein optimales Tragverhalten erzielt – also das, was man in der täglichen Entwurfspraxis durch erfahrungsgeleitetes Probieren bewerkstelligt, zu automatisieren. Bei Schalentragwerken läuft das im wesentlichen darauf hinaus, die Form zu optimieren.


Formoptimierung

Man beginnt mit einer ersten, vorläufigen Form und analysiert mit der FEM ihre mechanischen Eigenschaften. Zugleich führt man eine sogenannte Sensitivitätsanalyse durch: Man wackelt gewissermaßen ein bißchen an jedem Parameter des ersten Entwurfs und ermittelt, ob und wie sehr sich dessen mechanische Eigenschaften dadurch verbessern oder verschlechtern. Mit Hilfe dieser Erkenntnisse verändert man den ursprünglichen Entwurf in Richtung einer Verbesserung, analysiert den neuen, und so weiter, bis das Entwurfsziel erreicht ist.

Im Jahre 1955 entwarf der bekannte finnisch-amerikanische Architekt Eero Saarinen am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge eine Versammlungshalle, das Kresge-Auditorium (Bild 3 a). Dessen Dach ist ein Achtelausschnitt einer Kugel aus 9 Zentimeter dickem Stahlbeton mit dem Radius 34,3 Meter, der auf seinen drei Ecken gelagert ist. Wer 9 Zentimeter nicht mehr für dünn hält, bedenke, daß das Dach ein Dreieck von 48,5 Meter Seitenlänge überspannt. Dagegen muß eine Platte, etwa eine gewöhnliche Zimmerdecke, bereits 24 Zentimeter dick sein, um bescheidene 7 Meter zu überbrücken. Das demonstriert die Vorzüge einer Schale, die vorwiegend im Membranspannungszustand beansprucht wird.

Zur Aufnahme der hohen Membrankräfte am freien Rand hatte Saarinen kräftige Randträger vorgesehen. Trotzdem wirkten in der Schale durch ihre ungünstige Form enorme Biegemomente, was sich durch vermehrte Rißbildung bemerkbar machte. Schon beim Ausschalen verformte sie sich so stark, daß man ihr Versagen befürchten mußte. Daraufhin wurden die Fassadenelemente so modifiziert, daß sie als Unterstützung für die Schalenränder dienen.

In einer Studie haben wir – ausgehend von Saarinens Entwurf – Form und Dicke der Schale so zu optimieren versucht, daß sie sich unter ihrem Eigengewicht möglichst steif verhält, weil sie hauptsächlich durch Membranspannungen beansprucht wird. Bei unveränderter Scheitelhöhe wollten wir ohne Randträger auskommen.

Als Ansätze für viereckige finite Elemente verwendeten wir Polynome, die in jeder der beiden Koordinatenrichtungen quadratisch sind; die Knoten, das heißt, die Stellen, an denen die Übergangsbedingungen von Element zu Element gelten sollen, liegen in den Ecken und den Seitenmitten (achtknotige Elemente).

Im Optimierungsprozeß haben wir die innere Formänderungsenergie minimiert. Das ist die bei der unter Last entstehenden Deformation im Tragwerk gespeicherte Energie. Je geringer sie ist, um so kleiner sind – bei gegebener Last – die Verformungen, das heißt, das Tragwerk ist sehr steif. In Saarinens ursprünglicher Form entsteht der maßgebliche Teil der Formänderungsenergie durch Biegemomente mit großen Verformungen. Indem der Optimierungsprozeß diese Größe vermindert, strebt er automatisch zugleich eine Form an, in der diese Biegeanteile verschwinden und die Schale hauptsächlich durch Membrankräfte beansprucht wird.

Das Ergebnis der Optimierung ist eine Form mit hoch angehobenen Rändern (Bild 3 c, d). In diesen Bereichen ist die Form negativ gekrümmt (konvex in der einen, konkav in der anderen Richtung) und wirkt zusätzlich versteifend. Die Berechnung bestätigte auch, daß die Originalschale sehr stark auf Biegung beansprucht ist und ohne die nachträglich angebrachte Stützung praktisch nur ihr Eigengewicht zu tragen vermochte. Allerdings konnten geometrische Imperfektionen diese geringe Tragfähigkeit nicht nennenswert verschlechtern. In der optimierten Form dagegen trägt die Schale das Dreifache (ohne Imperfektionen sogar das Sechsfache) ihres Eigengewichts und setzt sich unter der Maximalbelastung nur um 20 statt 40 Zentimeter.


Kasten: Große Getränkedosen

Die Gärtanks der Firma Ziemann in Ludwigsburg für Brauereien (links ein Tank bei der Aufstellung für eine Brauerei in Peru) bestehen aus einem Zylinder, an den unten ein Kegel mit der Spitze nach unten angesetzt ist. Sie müssen außer ihrem Eigengewicht dem Gewicht und der Temperatur des flüssigen Inhaltes standhalten, dazu – wenn sie freistehen – dem Winddruck sowie in manchen Gebieten Erdbeben und der dadurch ausgelösten heftigen Flüssigkeitsbewegung.



Der Belastung entsprechend ist die Behälterwand unten dicker als oben, mit zusätzlichen Längsversteifungen und einem Verstärkungsring am Übergang zwischen Kegel und Zylinder, weil dort die tragenden Stützen angebracht sind. Das Finite-Elemente-Netz des Behälters besteht aus viereckigen Schalenelementen des Programmsystems ANSYS. Die Farben (rechts) geben die unterschiedlichen Wanddicken wieder. Auch die Struktur des Versteifungsrings ist getreulich abgebildet (unten). Wenn der Behälter nicht, wie im Photo, in einem Becher, sondern auf einer Dreipunktkonstruktion gelagert ist, treten in der Nähe einer Stütze besonders große Spannungen auf (rechts außen). An diesem Beispiel wird deutlich, daß moderne Graphik viel zum Verständnis des Tragverhaltens von Strukturen beitragen kann.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1997, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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