Titelthema: Sprache und Kognition: Sprachenvielfalt als natürliches Experiment
Das Sehen gilt gemeinhin als wichtigster menschlicher Sinn, das Riechen dagegen als praktisch vernachlässigbar. Die Sprachen dieser Welt scheinen das zu bestätigen: Während wir etwa im Deutschen schauen und blicken, betrachten und sichten, beobachten oder gar spähen, gibt es nur wenig Vergleichbares zur Geruchswahrnehmung. Menschen schnuppern oder schnüffeln, Tiere wittern. Dieses Ungleichgewicht ist keineswegs selbstverständlich, da es zahlreiche und chemisch sehr verschiedene gasförmige Substanzen gibt, auf die unsere Geruchsrezeptoren anspringen. Noch drastischer erweist sich die Bevorzugung des Sehsinns, wenn wir anschauliche Umschreibungen für mentale Zustände berücksichtigen, die Anlehnungen bei unserer Wahrnehmung machen: Während wir nämlich Einsichten gewinnen, den Durchblick haben, Ansichten äußern und dementsprechend manches in Betracht ziehen, fällt die Suche nach Geruchsmetaphern karg aus und bleibt zudem sehr nah an der ursprünglichen Bedeutungsebene, etwa wenn uns etwas stinkt.
Biologen, Philosophen und Kognitionswissenschaftler erheben diesen Vorrang des Sehsinns gern zur Grundeigenschaft menschlicher Kognition und durchforsten die Sprachen nach weiteren Auffälligkeiten, die Aufschluss über die genetisch verankerte Funktionsweise unseres Geistes geben könnten. Gerade Linguisten halten aber neuerdings dagegen: Wenn Sprachvergleiche etwas beweisen, dann die Vielfältigkeit kognitiver Prozesse, mithin die Plastizität des Gehirns.
Dies zeigt auch der Vergleich von sprachlichen Repräsentanten der beiden Sinne Sehen und Riechen. Was für die europäischen Idiome gilt, stimmt nicht etwa für das Maniq, die Sprache des gleichnamigen Bergvolks im Süden Thailands. Dessen gerade mal gut 300 Angehörige kennen Wörter für den Geruch der gelben Sonne, von Blut, angesengten Tierhaaren und vieles mehr. Wohlgemerkt: Diese Wörter bezeichnen tatsächlich jeweils einen Geruch und nicht den Gegenstand, der ihn verströmt. ...
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