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Taxoide: neue Waffen gegen Krebs

Für den raren Naturstoff Taxol, ein zur Krebsbehandlung eingesetztes Alkaloid der Pazifischen Eibe, haben Chemiker halb- und vollsynthetische Herstellungswege entwickelt; diese ermöglichen die Schaffung einer ganzen Familie ähnlicher Substanzen mit dem Ziel, erwünschte Wirkungen zu optimieren und unerwünschte zu vermindern.

Vor gerade fünf Jahren feierten die Medien Taxol als Durchbruch in der Behandlung von Eierstockkrebs. Leider war der Naturstoff nur äußerst schwer zu beschaffen. Er mußte aus Rinde der Pazifischen Eibe (Taxus brevifolia) gewonnen werden, eines langsam wachsenden Nadelbaumes von selten mehr als 12 Metern Höhe und höchstens etwa 60 Zentimetern Stammdicke (Bild 2 rechts). Die etwa 3 Kilogramm Rinde eines hundertjährigen Exemplars liefern nur rund ein Drittel Gramm Taxol – ungefähr ausreichend für gerade eine einzige Dosis. Die taxol-produzierende Art gedeiht bevorzugt unter hochgewachsenen Beständen von Nadel- und Laubbäumen in der westlichen Küsten- und Gebirgsregion des nordamerikanischen Kontinents. Vor der Entdeckung der krebshemmenden Wirkung von Taxol wurden dieEiben dort hauptsächlich als Gestrüpp angesehen und nach dem Holzeinschlag verbrannt. Die neuen Erkenntnisse machten sie zum begehrten Gut. Mit dem Schwund der Spezies traten Umweltgruppen für ihren Schutz ein; das empfindliche alte Waldökosystem des Nordwestens, Heimat einer bedrohten Vogelart, würde ihr Fällen sogar irreparabel schädigen. Krebskranke Patienten und ihre Familien flehten aber derweil um das vielversprechende Medikament.

Die Situation hat sich inzwischen grundlegend gebessert. Die amerikanische Arzneimittelbehörde ließ 1994 halbsynthetisches Taxol für die Behandlung verschiedener Arten von Krebs zu, das in ausreichenden Mengen verfügbar ist. Anfang 1996 gab ein Ärzteteam von der Emory-Universität in Atlanta (Georgia) Ergebnisse einer ausgedehnten Studie damit bekannt. Die Wirksamkeit der Therapie übertraf dabei noch weit die Erwartungen: Frauen mit fortgeschrittenem Eierstockkrebs, die Taxol in Kombination mit einem weiteren Krebsmedikament erhalten hatten, lebten im Schnitt 14 Monate länger als anders behandelte Patientinnen. Die Substanz gilt derzeit als eines der vielversprechendsten Mittel gegen bösartige Tumoren von Brust und Eierstock. In anderen Studien hat sie ihre Wirksamkeit bei Lungenkrebs und Melanomen (sogenanntem schwarzem Hautkrebs) erwiesen.

Die Geschichte von Taxol ist zugleich ein Lehrstück über die Auffindung neuer Wirkstoffe und ihre Entwicklung zum Medikament. Chemiker haben es vor fast 30 Jahren als entscheidenden Bestandteil der Eibenrinde identifiziert und 1971 seine Struktur geklärt; seither erforschen Biologen seine Wirkweise und Mediziner seine therapeutischen Eigenschaften. Der anspruchsvollen Aufgabe, das Molekül synthetisch herzustellen und eine ganze Familie verwandter Verbindungen zu entwickeln, haben sich viele Wissenschaftler, uns drei eingeschlossen, verschrieben. Solche neuen Taxoide sind unter Umständen einmal einfacher zu produzieren und könnten zudem vielfältigere und bessere therapeutische Optionen als das Stammolekül bieten.

Die Wiederentdeckung einer Pflanzendroge

Das moderne pharmazeutische Interesse an Taxol reicht nur bis in die sechziger Jahre zurück, obwohl Pflanzendrogen aus Eiben seit Jahrhunderten bekannt sind. Schon im Altertum wurde ein Sud aus Zweigen (insbesondere Nadeln) der in Europa heimischen Gemeinen Eibe (Taxus baccata) zur Vergiftung genutzt; bis auf den roten fleischigen Wulst um die Samen enthalten alle Pflanzenteile ein giftiges – als Taxin bezeichnetes – Gemisch von Alkaloiden, das lähmend auf Herz und Zentralnervensystem wirkt. Im sechsten seiner sieben im Jahr 51 vor Christus veröffentlichten Bücher über den gallischen Krieg ("De bello gallico") beschrieb zum Beispiel der römische Feldherr und Staatsmann Julius Cäsar (100 bis 44 vor Christus), wie er den keltischen Stamm der Eburonen vernichtend schlug und daß einer der Könige, Catuvolcus, "sich mit Eibe... entseelte". Im Nordwesten der USA verwendeten indianische Stämme wie die Quinault, Multnomah und Nez Percé Rinde derpazifischen Eibe zum Desinfizieren, als Abtreibungsmittel und zur Behandlung von Hautkrebs.

Aber erst 1962 brachte die Sammeltätigkeit des Botanikers Arthur Barclay vom amerikanischen Landwirtschaftsministerium die Eibe auf ihren – wie sich zeigte – langen und mit Hindernissen gepflasterten Weg in die moderne Medizin. Damals hatte das amerikanische Nationale Krebsinstitut in Bethesda (Maryland) ein Programm zur Suche nach neuen Wirkstoffen gestartet, in dem breitgestreut Stoffe und Extrakte unterschiedlicher biologischer Herkunft – aus Pflanzen, Bakterien und Meeresorganismen beispielsweise – auf tumorhemmende Wirkungen getestet wurden. Im Rahmen dieses Programms sammelte Barclay auch Proben der Rinde von Pazifischen Eiben im Gifford Pinchot National Forest im US-Bundesstaat Washington.

Seine Proben landeten schließlich im Research Triangle Institute in Research Triangle Park (North Carolina). Dort stellten die beiden Chemiker Mansukh C. Wani und Monroe E. Wall fest, daß ein Rohextrakt der Rinde Leukämiezellen in Kultur abtötet. Schließlich, 1967, hatten sie den wirksamen Bestandteil isoliert: eine bis dahin unbekannte Verbindung, die sie Taxol nannten (nach der Verwandtschaft mit den als Taxane bezeichneten Verbindungen und nach der Herkunft aus Pflanzen der Gattung Taxus). Vier Jahre später veröffentlichte ihre Arbeitsgruppe auch die Struktur des Moleküls. (Den Namen hat das Pharmaunternehmen Bristol-Myers Squibb inzwischen als Warenzeichen registrieren lassen: Statt "Taxol" sollten Wissenschaftler deshalb "Paclitaxel" als allgemeinen Freinamen verwenden. Er konnte sich aber bislang nicht durchsetzen.)

In den Folgejahren schlief das Interesse an Taxol fast völlig ein. Das Krebsinstitut hielt den Stoff nicht für besonders vielversprechend: Bei ersten Tests wirkte er nie besser, teils sogar schlechter als andere Kandidaten; außerdem handelte es sich um eine rare Substanz, die sich nur schwer gewinnen ließ. Wall aber, im festen Glauben an ihr Potential, trat beim Krebsinstitut engagiert für ihre weitere Untersuchung ein, und 1977 stimmte dieses dann zu. Doch selbst nach der zweiten Testrunde zeichnete noch nichts Taxol vor anderen Kandidaten aus – bis auf seine ungewöhnliche Struktur, die einen möglicherweise neuen Wirkmechanismus nahelegte.


Starre Mikrotubuli

Nur ein Jahr später entdeckte die Biologin Susan B. Horwitz zusammen mit ihrem Doktoranden Peter B. Schiff am Albert-Einstein-College für Medizin in New York tatsächlich eine neue Facette an Taxol: Ähnlich wie gewisse andere Pflanzenwirkstoffe griff es an den für die Zellteilung unentbehrlichen, als Mikrotubuli bezeichneten Zellstrukturen an, aber auf eine bis dahin unbekannte Weise. Den Wirkmechanismus hat ihre Arbeitsgruppe dann in den folgenden zehn Jahren im Detail untersucht.

Mikrotubuli sind zum einen Bestandteile des formgebenden inneren Cytoskeletts; zum anderen spielen sie als sogenannte Spindelfasern eine entscheidende Rolle bei der Trennung der verdoppelten Chromosomen während der Kernteilung, der Mitose, die der eigentlichen Zellteilung vorausgeht (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1990, Seite 88). Die feinen hohlen Fasern sind normalerweise keine starren, statischen Konstruktionen, sondern dynamische Gebilde aus sich zusammenfügenden und wieder lösenden Protein-Untereinheiten. Heftet sich Taxol an Mikrotubuli, so werden sie extrem stabil und statisch. Solche des Cytoskeletts formieren sich zu einzelnen nicht mehr auflösbaren Bündeln. Eine normale mitotische Spindel kann sich nicht bilden. Dies hemmt eine Teilung der Zellen gleich im Ansatz; sie sterben ab.

Krebszellen mit ihrer unkontrollierten Vermehrung sind zwar am stärksten betroffen; zwangsläufig zieht der Wirkstoff (wie viele andere Krebsmedikamente) aber auch gesunde sich häufig teilende Zellen erheblich in Mitleidenschaft, darunter weiße Blutkörperchen und die Bildungszellen der Haare und der Schleimhäute. Die Behandlung hat entsprechende Nebenwirkungen. Zum Beispiel kann sie die Immunabwehr schwächen, Übelkeit sowie Haarausfall bewirken und sensorische Nerven schädigen (Nervenzellen teilen sich zwar nicht mehr, ihre Mikrotubuli haben aber andere wichtige Funktionen).

Der ungewöhnliche Angriffsmechanismus von Taxol ließ die interessierten Forscher aufhorchen. Krebs wird gewöhnlich nach einiger Zeit gegen die laufende Behandlung resistent; in dem Wirkstoff sah man deshalb einen möglichen Hoffnungsschimmer für solche Patienten, die nicht oder nicht mehr aufherkömmliche Therapien ansprachen. Im Jahre 1984 begann man an mehreren Krebszentren der USA mit ersten klinischen Tests am Menschen, um Sicherheit und Verträglichkeit von Taxol-Infusionen zu ermitteln. Zunächst vermeldeten Eric K. Rowinsky und seine Mitarbeiter am Onkologischen Zentrum der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore außergewöhnlich Positives: Bei einem Drittel aller Patienten, bei denen die konventionelle Chemotherapie versagt hatte, verringerte Taxol die Größe der Tumoren; in einem Fall verschwanden sie völlig. Ähnliches wurde daraufhin von anderen Studien berichtet.

Leider gab es auch erhebliche Komplikationen. Vielfach traten teils schwere allergieartige Reaktionen auf, eine Person starb sogar daran. Der Verdacht fiel auf einen als Lösungsvermittler eingesetzten Zusatzstoff (Taxol ist nur schwer wasserlöslich); der genaue Grund bleibt jedoch unklar. Inzwischen beugt man durch Maßnahmen wie eine medikamentöse Vorbehandlung vor (Bild 1). Auch nach Modifikation von Dosierung und Verabreichungsschema machen jedoch, wie bei allen Chemotherapien, die diversen Nebenwirkungen von Taxol weiterhin Ärzten und Patienten zu schaffen.

Daß sich ein Medikament bei der ersten klinischen Erprobung trotz hoher Wirksamkeit noch längst nicht als perfekt erweist war kein ungewöhnliches Problem – eher schon, daß das Nationale Krebsinstitut nicht genügend Taxol bereitzustellen vermochte. Zwischen 1984 und 1989 ließ sich deshalb nur einebegrenzte Zahl ausgedehnter klinischer Tests durchführen. Dann beauftragte die Behörde Bristol-Myers Squibb mit der Gewinnung des Medikaments; im Gegenzug erhielt das Pharma-Unternehmen Zugang zu den Ergebnissen der behördlichen klinischen Tests.

Wenig später begannen großangelegte Fäll-Aktionen Pazifischer Eiben, wobei abzusehen war, daß die Bestände wohl nur für fünf Jahre reichen würden. Angesichts der drohenden Knappheit bemühten sich Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen – wie Gartenbau, Forstbotanik, Zellbiologie und Chemie – um neue Wege zur Produktion von Taxol. So untersuchte man die Faktoren, welche die Konzentration in den Bäumen beeinflussen, legte Eibenkulturen an und entwickelte Verfahren zur Herstellung der Substanz in Zellkultur. Und man versuchte, den Stoff zu synthetisieren.


Der molekulare Mount Everest

Moleküle von der Größe und Komplexität des Taxols haben für Chemiker ihren eigenen Reiz, ästhetisch wie wissenschaftlich. Es besteht aus 112 Atomen. Sein Grundgerüst bilden zwei sechsgliedrige Kohlenstoffringe beidseits eines achtgliedrigen, an denen eine längere, wiederum ringtragende Seitenkette beziehungsweise ein seltener Vierer-Ring mit einem Sauerstoffatom hängen (Bild 2 oben). Dies zusammen mit weiteren Raffinessen stellte eine einzigartige Herausforderung für Forscher wie uns drei dar, die sich auf die Synthese von Naturstoffen spezialisiert haben.

Wir wußten, auf was wir uns einließen; Jahre zähen Ringens standen bevor. Aber Zug um Zug würde es uns höchstwahrscheinlich zu einem Verständnis der Verbindung verhelfen – welche ihrer Teile und Gruppen besonders stabil oder instabil sind und wie das Molekül sich chemisch verhält. Damit könnten wir dann weiterreichende Fragen über die genaue Funktion der molekularen Komponenten im krebskranken Organismus angehen. Ein umfassendes Verständnis der Architektur von Taxol und der Art und Weise, wie es sich an Mikrotubuli bindet, wür-de schließlich einmal maßgeschneiderte neue Medikamente ermöglichen – mit den Vorteilen der Muttersubstanz, aber mit geringeren Nebenwirkungen.

Zwischen 1983 und 1993 mühten sich mehr als 30 Arbeitsgruppen, Taxol oder wenigstens einfachere verwandte Verbindungen zu synthetisieren. Das Ziel erwies sich als ausgesprochen hoch gesteckt, zuzeiten schien es sogar unerreichbar. Anfangs versuchten viele Gruppen gewissermaßen auf halbem Wege einzusteigen: Statt das Zielmolekül aus einem Puzzle vieler kleiner synthetischer Verbindungen aufzubauen, kann man auch von einem strukturell sehr ähnlichen Naturstoff ausgehen, der im Idealfall preiswert und in Mengen zugänglich ist und sich durch geringfügige Änderungen in nur wenigen Schritten in das interessierende Produkt umgestalten läßt.

In den späten achtziger Jahren gelang einem von uns (Potier) am französischen Nationalzentrum für wissenschaftliche Forschung in Gif-sur-Yvette mit Andrew E. Greene und seinen Mitarbeitern an der Josephs-Fourier-Universität in Grenoble die erste Halbsynthese von Taxol. Als Poitier und seine Gruppe die Gemeine Eibe auf taxolähnliche Inhaltsstoffe durchmusterten, erkannten sie in 10-Desacetylbaccatin III eine geeignete Ausgangssubstanz: Die Verbindung mit dem Kerngerüst von Taxol – dem TaxanRingsystem einschließlich des sauerstoffhaltigen Viererrings – ließ sich aus den Nadeln und Zweigen in guter Ausbeute isolieren. Sie ersannen dann einen einfachen Weg, die fehlende – synthetisch herstellbare – Seitenkette anzuhängen. Da Eiben nach einem Rückschnitt wieder kräftig austreiben, versprach ein solches Verfahren – nach Umsetzung in eine industrielle Produktion und Anlegen von Plantagen – den Versorgungsengpaß zu beheben.

Weitere Formen der Halbsynthese seitens anderer Wissenschaftler folgten. Im Jahr 1993 gab Bristol-Myers Squibb bekannt, keine Pazifischen Eiben mehr fällen zu müssen. Das Unternehmen hatte ein Verfahren zur kommerziellen Produktion von Taxol übernommen, das auf Halbsynthesen von Iwao Ojima von der Staatsuniversität von New York in Stony Brook und Robert A. Holton von der Universität von Florida in Gainesville basiert. Von der französischen Variante unterschied es sich in der Erstellung der Seitenkette und der Methode, mit der sie mit dem Grundgerüst gekoppelt wurde.


Totalsynthese

Die beiden anderen von uns – Nicolaou und Guy am Scripps-Forschungs-institut in La Jolla (Kalifornien) – sowie weitere wissenschaftliche Teams konzentrierten sich auf die Anfang der neunziger Jahre noch immer ausstehende Totalsynthese von Taxol (wenn auch Teilschritte schon gelungen waren). Bei Aufbau über einfache Komponenten sollte sich die Struktur der Verbindung an beliebigen Positionen variieren und dadurch leichter eine große Auswahl von Derivaten, also Taxoiden, schaffen lassen. Einige davon wären vielleicht billiger und wirksamer als Taxol selbst. Anfang 1994 veröffentlichte das Scripps-Team als erstes eine gelungene Totalsynthese (Bild 2); fast gleichzeitig verkündete die Gruppe um Holton eine andere.

Jeglicher Weg zu voll- oder halbsynthetischem Taxol muß die auch vie-len anderen Naturstoffen innewohnende Händigkeit berücksichtigen. Wenn ein Kohlenstoffatom mit vier verschiedenen Atomgruppen verbunden ist, sind an ihm zwei zueinander spiegelsymmetrische Konfigurationen möglich – analog unserer linken und rechten Hand. Von einem Molekül mit einem solchen Stereokohlenstoff existieren also zwei spiegelbildliche Formen, Enantiomere genannt. Oft vermag nur eines im menschlichen Körper die gewünschte Wirkung zu entfalten. Taxol enthält allein elf Stereozentren.

Zur Herstellung könnte man von Anfang an Komponenten mit der richtigen Konfiguration auswählen und dann bei jedem Reaktionsschritt für die Einhaltung der gewünschten Orientierung sorgen. Dieser Ansatz schränkt jedoch die Wahl der Ausgangsmaterialien ein und macht den Syntheseweg unflexibler. Um das zu vermeiden und uns die Option zum Aufbau jeweils beider Spiegelbilder zu erhalten, setzte unser Team am Scripps-Institut auf eine als Enantiomerentrennung bekannte Technik; dabei arbeitet man mit einem Gemisch und trennt erst gegen Ende der Synthese die relevante Konfiguration ab.

Ebenfalls aus Gründen der Effizienz entschieden wir uns für eine sogenannte konvergente Synthese. Dabei beginnt man mit der Konstruktion mehrerer kleiner Teilstücke (gewissermaßen einer parallelen Vorfertigung) und setzt sie zum gewünschten Produkt zusammen. Bei linearer Synthese würde man hingegen eine einzige Ausgangsverbindung Schritt für Schritt ausbauen. Die Struktur des Zielmoleküls läßt sich bei konvergentem Ansatz ziemlich leicht variieren; in jedem beliebigen Stadium kann man andere Bausteine einsetzen und ist bei deren Auswahl weit weniger eingeschränkt.

Wir haben also jetzt die Möglichkeit, kleine systematische Änderungen am zentralen Ringsystem oder an der Seitenkette von Taxol vorzunehmen – wie es üblich ist, um den Einfluß einzelner struktureller Komponenten auf die Eigenschaften des Moleküls, insbesondere auf seine biologische Wirksamkeit zuergründen. Angenommen ein Wasserstoffatom anstelle einer Hydroxylgruppe (-OH) setzt sie erheblich herab; dann muß diese Gruppe wohl direkt an der Interaktion mit Zielmolekülen im Körper beteiligt sein. Auf solchen Informationen aufbauend lassen sich neue Moleküle entwerfen, bei denen Teile verändert oder eliminiert sind, die schädlicheNebenwirkungen hervorrufen oder die Wirksamkeit verringern beziehungsweise sie nicht beeinflussen.

Potier und seine Kollegen haben mit ihrer Methode das erste bekannte Derivat von Taxol erzeugt: Taxotere (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1993, Seite 99). Es unterscheidet sich an zwei Stellen von Taxol, hemmt aber ebenfalls das Tumorwachstum (Bild 3). Ärzte in Japan und Europa setzen das Pharmakon des französisch-amerikanischen Unternehmens Rhône-Poulenc Rorer oft zur Behandlung von Brust- und Eierstockkrebs ein. Ende 1995 ließ die amerikanische Arzneimittelbehörde es bei medikamenten-resistentem oder metastasierendem Brustkrebs zu. In der Bekämpfung gewisser Arten von Krebs unterscheidet es sich offenbar subtil von Taxol; eventuelle Vorteile des einen gegenüber dem anderen bei bestimmten Tumorformen sollten sich durch umfassende Anwendungen beider Medikamente in klinischen Tests ermitteln lassen.

Nicolaou und Guy haben mit ihren Kollegen am Scripps-Institut inzwischen Vertreter zweier wichtiger Klassen vonTaxolderivaten hergestellt, aus denen einmal funktionsfähige Pharmaka hervorgehen könnten: zum einen eine Art abgespeckte Version von Taxol, die etwas leichter hergestellt werden kann, aber dennoch – nach ersten vorläufigen Tests – bestimmte Krebszellen abzutöten vermag, zum anderen Varianten, bei denen die mutmaßliche Bindungsstelle für Mikrotubuli leicht abgewandelt ist. Wissenschaftler arbeiten derzeit daran, auf diese Weise die Bindungsfähigkeit und damit die mitose-hemmende Eigenschaft zu verbessern.

Wir alle suchen auch einem der pharmakologischen Hauptprobleme von Taxol beizukommen: seiner Wasserunlöslichkeit. Derzeit wird es intravenös über mehrere Stunden infundiert; das als Lösehilfe zugesetzte Mittel (Cremophor El) hat bei manchen Patienten Komplikationen verursacht. Eine wasserlösliche Verbindung wäre wesentlich einfacher zu handhaben. Eines der neuen am Scripps-Institut entwickelten Taxoide mit dieser Eigenschaft ließe sich möglicherweise mit geringeren Nebenwirkungen verabreichen.

Weitere im Labor hergestellte wasserlösliche Taxoide erlauben uns zudem, eingehender zu untersuchen, wie sich Taxol eigentlich an Mikrotubuli heftet. Bislang hat man seine Raumstruktur notgedrungen gewöhnlich anhand von Kristallen analysiert, doch entspricht eine derart ermittelte Gestalt nicht immer genau jener, wie sie im wäßrigen Milieu der Zelle vorliegt. Zu beobachten, wie sich gelöste Taxoide an Mikrotubuli binden, kann uns eine Vorstellung davon vermitteln, welche Bestandteile höchstwahrscheinlich mit zellulären wechselwirken. Es ist einleuchtend, daß wir wissen müssen, wo und wie diese Anheftung stattfindet, wenn wir die Wirksamkeit von Taxol über seine Struktur verbessern wollen – sonst könnte das Gegenteil passieren.

Literaturhinweise

- Total Synthesis of Taxol. Von K. C. Nicolaou, Z. Yang, J. J. Liu, H. Ueno, P. G. Nantermet, R. K. Guy, C. F. Claiborne, J. Renaud, E. A. Couladouros, K. Paulvannan und E. J. Sorensen in: Nature, Band 367, Seiten 630 bis 634, 17. Februar 1994.

– Chemie und Biologie von Taxol. Von K. C. Nicolaou, W.-M. Dai und R. K. Guy in: Angewandte Chemie, Deutsche Ausgabe, Band 106, Nr.1, Seiten 38 bis 69, Januar 1994.

– An Overview of Experience with Taxol (Paclitaxel) in the U.S.A. Von R. C. Donehower und E. K. Rowinsky in: Cancer Treatment Reviews, Band 19 C, Seiten 63 bis 78, Oktober 1993.

– Taxol and Taxotere: Discovery, Chemistry and Structure-Activity Relationships. Von D. Guenard, F. Gueritte-Voegelein und P. Potier in: Accounts of Chemical Research, Band 26, Heft 4, Seiten 160 bis 167, April 1993.

– The Yew Tree: A Thousand Whispers. Von Hal Hartzell, jr., Hulogosi Communications, Eugene, Oregon, 1991.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 76
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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