Klima: Treibhausbombe im sibirischen Dauerfrost
Heizt Methan aus der zunehmend abtauenden Tiefkühltruhe Sibiriens das Klima weiter an? Mit mehrjährigen Untersuchungen haben deutsche Forscher jetzt erstmals Belege dafür geliefert.
Jedes Frühjahr taut die Eisdecke der Seen in Alaska, im Norden Kanadas und in Sibirien. Dann blubbern dicke Blasen an die Oberfläche: Methan, das im Winter nicht entweichen konnte, steigt in die Atmosphäre auf. Überall im Permafrost – Gebieten, deren Untergrund bis zu 1500 Meter hinab dauerhaft gefroren ist – lagern gewaltige Mengen dieses klimawirksamen Gases. In tiefen Schichten hat es sich mit Wasser zu Methanhydrat vereinigt, einer brennbaren, eisartigen Verbindung, die nur unter hohem Druck stabil ist (Spektrum der Wissenschaft 6/1999, S. 62). Zusätzlich bilden Mikroorganismen ständig neues Methan – umso mehr, je stärker die oberen Bodenschichten auftauen.
Ein Grund zur Beunruhigung ist dies noch nicht: Methan aus biologischen Quellen gehört zu den natürlichen Treibhausgasen, die Wärme in den unteren Luftschichten festhalten und so die Durchschnittstemperatur auf der Erdoberfläche anheben. Doch was geschieht, wenn sich unser Planet weiter erwärmt, weil der stark gestiegene Ausstoß von Kohlendioxid durch den Menschen den Treibhauseffekt verstärkt? Dann tauen die riesigen Permafrostgebiete, die fast ein Viertel der Landoberfläche der Erde ausmachen und allein die Hälfte des russischen Territoriums bedecken, immer tiefer auf. Als Folge davon sollte die Methanbildung sprunghaft ansteigen – und das Treibhaus Erde zusätzlich aufheizen.
Das Ausmaß dieses Effekts ist bislang jedoch kaum abschätzbar. Während für Kanada und Alaska wenigstens regionale Messungen und einige Hochrechnungen vorliegen, ist Sibirien noch immer die große Unbekannte, für die in den Klimamodellen lediglich Schätzwerte eingesetzt werden. Dem wollen Wissenschaftler der
Forschungsstelle Potsdam des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) abhelfen. Seit fünf Jahren untersuchen sie vor allem das Lena-Delta, eine Schlüsselregion für die Umwelt- und Klimaforschung, wo der Permafrost bis zu 500 Meter tief reicht. Das Ziel: den Methanausstoß in Sibirien zu bilanzieren und die Vorgänge im Boden, die ihn verursachen, genauer zu ergründen.
Pioniere im Schlamm Der aufwendige Einsatz im fernen Nordasien lohnt sich. Die Geowissenschaftlerin Eva-Maria Pfeiffer – sie leitet das Projekt jetzt von der Elbe aus, da sie einen Ruf an die Universität Hamburg erhalten hat – sieht darin eine einmalige Gelegenheit. "Wenn wir die natürlichen Quellen des globalen Methankreislaufs nicht nur genauer erfassen, sondern auch besser verstehen wollen, müssen wir nach Sibirien mit seinen weitflächig zusammenhängenden und fast unbeeinflussten Dauerfrostböden gehen", erklärt sie. "In Kanada und Alaska hingegen ist der Permafrost nur noch fleckenhaft vorhanden."
Schon in der Elbniederung, in den Mooren Schleswig-Holsteins und auch in Chinas Reisfeldern hatte die Bodenkundlerin Pfeiffer den Methanausstoß untersucht, ehe sie den Sprung nach Sibirien wagte. Dort Daten zu gewinnen ist nicht jedermanns Sache. Fernab jeglicher Infrastruktur und Zivilisation müssen die Forscher ihre Zeltlager aufschlagen oder in spartanisch eingerichteten Hütten leben. Die fünf bis zehn Wochen dauernden Expeditionen finden in den Sommermonaten statt, wenn der Boden aufgeweicht ist. Die Frauen und Männer stecken dann in Wathosen oder haben sich Stulpenstiefel übergezogen. Der Schlamm und das nach jedem Spatenstich nachlaufende Wasser werden schnell lästig, und ausgerechnet bei bestem Geländewetter – Sonnenschein und Windstille – fallen Myriaden von Stechmücken über jedes Stück nackte Haut her.
Mittels Hauben, die luftdicht auf den Boden aufgesetzt werden, fangen die Forscher das austretende Gas ein und analysieren es mit Chromatografen im eigenen Feldlabor. "Das verlangt jedem Kollegen erst einmal harte Knochenarbeit ab, bevor er einen Methanwert vorweisen kann", sagt Eva-Maria Pfeiffer. Aber sie und ihr Team, das seit ihrem Wechsel nach Hamburg vom Potsdamer Mikrobiologen Dirk Wagner betreut wird, lieben die handfeste Forschung im Gelände. Zumal sie sich als Pioniere fühlen: Sie gehören zu den wenigen Arbeitsgruppen, die in der sibirischen Arktis Spurengas-Emissionen und ihre Bedeutung für die globalen Stoffkreisläufe erforschen. Im Lena-Delta und auf der weiter im Westen gelegenen Taimyr-Halbinsel sind sie gar die Ersten und Einzigen, die mehrjährige Methanmessungen durchgeführt haben. Ihre seit zehn Jahren regelmäßig stattfindenden Expeditionen führten sie aber auch schon auf die Inselgruppe Sewernaja Semlja nördlich des Urals und in das Kolyma-Indigirka-Gebiet im entlegenen Ostsibirien.
Die Expedition im Jahr 2002 ins Lena-Delta – eine markante Region von rund 32000 Quadratkilometern Ausdehnung, in der Schleswig-Holstein gleich zweimal Platz hätte – bezog erstmals auch die gewaltigen eisreichen Permafrostsedimente, die so genannten Eiskomplexe, in die Methanmessungen ein. Bei den extrem tiefen Lufttemperaturen, die im nordsibirischen Winter herrschen, reißt der Boden auf. Während des Sommers sickert dann Schmelzwasser in die Spalten, das in der folgenden Frostperiode wieder gefriert. So entstehen Eiskeile. Über die Jahre werden sie immer dicker, dringen tiefer in den Boden ein und verbinden sich in flachen Gebieten zu erstaunlich gleichmäßigen Mustern. Diese typischen polygonalen Netze machen die ausgedehnten Permafrostlandschaften unverwechselbar. Wie Pfeiffers Team erstmals nachwies, entweicht aus den Eiskeilen selbst ebenfalls Methan.
Auch wenn die bisherigen Daten noch keine abschließende Bilanzierung erlauben, ist eines schon jetzt klar: Der sibirische Permafrostboden darf als natürliche Methanquelle in Klimamodellen keinesfalls vernachlässigt werden, wie dies mangels gesicherter Daten oft geschieht. "Entgegen der bisherigen Meinung erreicht die Freisetzung und Bildung von Methan in kalten Frostregionen sogar die Größenordnung der wesentlich wärmeren Feuchtgebiete in den gemäßigten Zonen", erläutert Eva-Maria Pfeiffer.
Das zeigt etwa der Vergleich mit den natürlichen Flussmarschen Norddeutschlands. Werden dort im Durchschnitt 76 bis 128 Milligramm Methan pro Quadratmeter und Tag gemessen, ermittelten die Forscher in den Eiskeillandschaften immerhin zwischen 52 und 120 Milligramm. Diese Werte, gemessen in den Julimonaten der vergangenen Jahre, liegen deutlich über den 33 bis 77 Milligramm der sibirischen Feuchtböden. Und wegen des großen Volumens der Eiskomplexe summieren sie sich zu einer enormen Emission. Als Pfeiffer die auf den Versuchsfeldern gemessenen Werte auf das gesamte Lena-Delta hochrechnete, kam sie auf Quellstärken von 70000 bis 80000 Tonnen Methan in einer einzigen Vegetationsperiode. Dabei umfasst dieses weitläufige Mündungsgebiet nur rund ein Sechstel des arktischen Sibiriens.
Wärme macht Mikroben munter Woher stammt nun all dieses Gas? Biogenes Methan wird von Archaeen (früher nannte man sie Archaebakterien) gebildet. Diese stammesgeschichtlich sehr alten Lebensformen scheinen sich gut an die Bedingungen im Permafrost angepasst zu haben. "Erstaunlicherweise sind die Mikroben, wie unsere Experimente zeigten, selbst bei tiefen Temperaturen bis unter den Gefrierpunkt in der Lage, Methan zu bilden", berichtet Eva-Maria Pfeiffer. Allerdings steigern sie ihre Aktivität in der Wärme. Bei einem Temperaturanstieg um wenige Grad Celsius, wie Klimaszenarien ihn vorhersagen, tauen die Permafrostgebiete im Sommer tiefgründiger auf. Dann werden die Archaeen noch deutlich mehr Methan freisetzen als bisher schon.
Die Emission des Treibhausgases hängt aber auch noch von anderen Faktoren ab. So ernährt sich ein Teil der Methanproduzenten von Essigsäure und ist damit auf Essigsäure bildende Bakterien angewiesen. Deren Zahl sinkt jedoch manchmal plötzlich. Außerdem gelangt nicht alles Methan in die Atmosphäre. Nach ersten Felduntersuchungen Pfeiffers im Sommer 2001 und 2002 werden im Permafrost rund zwei Drittel des unter Luftabschluss gebildeten Treibhausgases wieder abgebaut, bevor es entweichen kann. Denn im Sommer sind in den sauerstoffreichen Oberböden Methan oxidierende Bakterien aktiv.
Hauptsächlich entscheidet aber die Temperatur über die Menge an freigesetztem Methan. Das zeigen die Messreihen seit 1999. In den letzten drei Jahren haben sich die Durchschnittstemperaturen der bodennahen Luft in den Untersuchungsgebieten kontinuierlich von 11,2 auf 12,1 Grad Celsius erhöht – ein Trend, der auch in den Permafrostgebieten in Kanada, Alaska und Tibet beobachtet wurde. 2002 war ein besonders warmer Sommer: Es gab praktisch keinen Frühling, die Temperaturen stiegen in einem kurzen Zeitraum von -40 auf +20 bis +30 Grad Celsius. Parallel zur Erwärmung nahm auch die Methan-Emission deutlich zu: von 37 Milligramm pro Tag und Quadratmeter im Sommer 1999 auf 49 Milligramm im Jahr 2002.
Zusätzlicher Temperaturschub
Verantwortlich dafür sind aber nicht nur die Mikroben. Tauen die nicht ganz so kühlen Randgebiete des Permafrostes auf, fehlt die nach oben isolierende Eisdecke. Durch eisfreie Schichten und geologische Bruchzonen kann dann auch im Untergrund gespeichertes Methan aus Gas- und Gashydratlagerstätten entweichen, die nicht unmittelbar biologischen Ursprungs sind. Noch muss untersucht werden, wie hoch der biogene und der geogene Anteil an der Freisetzung ist.
Insgesamt machen die Abschätzungen jedoch bereits deutlich, dass bei fortgesetzter globaler Erwärmung die Methan-Emission in Sibirien stark genug
ansteigt, um für einen zusätzlichen Wärmeschub in der Atmosphäre zu sorgen. Es käme zu einer Verschiebung der Klimazonen nach Norden, wie sie bereits in einigen arktischen Gebieten Kanadas und Skandinaviens beobachtet wird. Als Folge davon würden Bäume in die Tundra einwandern.
Außerdem sehen Atmosphärenforscher Anzeichen dafür, dass sich die Grenze zwischen der atlantischen Zirkulation, die feuchte Luft heranführt, und der
trockenen kontinentalen Strömung nach Osten verlagern könnte. Dann wäre in Sibirien mit mehr Niederschlägen zu rechnen – neben der Erwärmung ein weiterer Stimulus für die Methanproduzenten.
Es besteht also kein Zweifel mehr:
Sibirisches Methan wird zunehmend zum Treibhauseffekt beitragen. Strategien, seinen Ausstoß zu vermindern, wurden zwar diskutiert, stoßen aber schnell an Machbarkeitsgrenzen. Und so liefert Sibirien weitere harte Fakten für die Forderung, den anthropogenen Kohlendioxid-Ausstoß zu reduzieren, um die menschengemachte Erwärmung der Erde zu bremsen, bevor es zu spät ist.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2003, Seite 8
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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