Tubulinstruktur aufgeklärt
Lebende Zellen sind Meister der Selbstorganisation: Ihre Bausteine vermögen sich selbständig zu größeren Einheiten zusammenzulagern und ermöglichen so erst die komplexe Architektur und funktionelle Integration des Gesamtsystems Zelle. Ein gutes Beispiel dafür sind die Mikrotubuli: röhrenartige Fasern aus einer regelmäßigen Anordnung der Proteine Alpha- und Beta-Tubulin. Sie bilden nicht nur die wichtigsten Strukturelemente des Zellskeletts, sondern beteiligen sich auch im Verein mit verschiedenen Motorproteinen an der Trennung der Chromosomen bei der Zellteilung, an der Fortbewegung gewisser Bakterien oder Urtierchen mittels Geißelschlag sowie an Transportvorgängen in der Zelle. Dabei entfalten sie eine überraschende Dynamik. So kann ein und dieselbe Röhre am einen Ende wachsen und am anderen gleichzeitig schrumpfen.
Auf zellbiologischer Ebene sind die Mikrotubuli und die mit ihnen assoziierten Systeme umfassend beschrieben worden (siehe Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1980, Seite 90, und April 1987, Seite 76). In der Grobstruktur besteht jede Röhre aus 13 achsparallel angeordneten Perlenketten, die jeweils abwechselnd die Alpha- und die Beta-Untereinheit enthalten. Beim Auf- und Abbau verhält sie sich wie eine Einbahnstraße: Wachsen kann sie nur am sogenannten Plus- und Schrumpfen am Minus-Ende. Auch die Motorproteine, die sich an den Mikrotubuli entlanghangeln, unterscheiden die beiden Richtungen: Jeder Proteintyp vermag nur entweder zum Plus- oder zum Minus-Ende zu wandern.
Außerdem weiß man schon seit langem, daß beide Untereinheiten jeweils eine Bindungsstelle für das energiereiche Molekül Guanosintriphosphat (GTP) enthalten, das an vielen wichtigen zellulären Schaltfunktionen mitwirkt. So ist es gemeinsam mit den G-Proteinen an der Übertragung von Signalen in die Zelle und zusammen mit den Elongationsfaktoren an der Biosynthese der Proteine beteiligt. Die energieliefernde Spaltung des GTP zu Guanosindiphosphat (GDP) und Phosphat erfolgt jedoch nur in der Beta-Untereinheit. Diese Asymmetrie zwischen den sonst sehr ähnlichen Tubulinen ist vermutlich für die Richtungspräferenz der Mikrotubuli verantwortlich.
In den vergangenen Jahren wurden die zellbiologischen Fakten durch Einsichten darüber ergänzt, auf welche Weise die Röhrenstrukturen im Zusammenspiel mit Motorproteinen wie Kinesin und Dynein Bewegung hervorbringen (siehe Spektrum der Wissenschaft, Juni 1994, Seite 34). So konnte man die Wanderung der Motorproteine entlang der Mikrotubuli direkt beobachten und physikalische Daten wie die Schrittweite, den Verbrauch an dem Treibstoffmolekül Adenosintriphosphat (ATP) und die Kraftübertragung ermitteln.
Um so schmerzlicher wurde ein eigentlich lange überfälliges Schlüsselelement zum Verständnis der Röhren vermißt: die dreidimensionale Struktur der Tubuline in atomarer Auflösung. Angesichts der enormen biologischen Bedeutung des Systems hatte man zwar jahrzehntelang versucht, durch Röntgenstrukturanalyse Einblick in den räumlichen Aufbau der Röhrenbestandteile zu gewinnen. Doch alle Bemühungen scheiterten daran, daß sich keine großen, regelmäßigen Kristalle von den beiden Proteinen züchten ließen.
Angesichts dieser Mißerfolge entschieden sich Eva Nogales und Kenneth H. Downing vom Lawrence Berkeley National Laboratory in Kalifornien für eine Alternativmethode, die keine dreidimensionalen Kristalle erfordert, dafür aber mühseliger ist und nur eine geringere Auflösung erreicht. Anstatt die Proteine auf herkömmliche Weise zu kristallisieren, erzeugten die kalifornischen Wissenschaftler aus den gereinigten Tubulinen flache Blätter, indem sie der Lösung Zink-Ionen zusetzten. Offenbar enthalten diese quasi-zweidimensionalen Kristalle dieselben Perlenketten wie die Mikrotubuli nur in etwas anderer Anordnung (Bild 1). Dies ist ein weiterer Vorteil gegenüber gewöhnlichen dreidimensionalen Kristallen, in deren Gitter die Proteine meist völlig anders zueinander ausgerichtet sind als in ihrer natürlichen Umgebung.
Indem Eva Nogales und ihre Mitarbeiter diese Blätter aus verschiedenen Winkeln mit einem schwachen, die Proteine nicht zu sehr schädigenden Elektronenstrahl beschossen, konnten sie aus dessen Ablenkung eine Elektronendichtekarte mit einer Auflösung von 3,7 Ångström ermitteln. Obwohl dies noch nicht ausreicht, jede Elektronenwolke eindeutig einem Atom zuzuordnen, konnten die Forscher doch die bereits bekannten Aminosäuresequenzen der beiden Proteine derart in die Dichtekarte einpassen, daß sich die einzelnen Aminosäurereste zweifelsfrei lokalisieren ließen und erkenn-bar wurde, in welcher Weise sie sich zu Strukturelementen wie Helices (Schrauben) und Faltblättern verbinden ("Nature", Band 391, Seite 199).
Die so erstellte Struktur zeigt zwei verblüffend ähnliche Untereinheiten (Bild 2). Obwohl die beiden Proteine nur in 40 Prozent ihrer Aminosäurebausteine übereinstimmen, nehmen sie dasselbe Faltungsmuster an; darin gruppieren sich mehrere Helices um ein kleines Beta-Faltblatt. Deutlich erkennbar sind auch die genauen Bindungsstellen für GTP.
Besondere Begeisterung dürfte die Aufklärung der Tubulinstruktur bei Krebsforschern wecken. Der wohl aussichtsreichste in neuerer Zeit entdeckte Tumorhemmstoff ist das aus der Rinde der Pazifischen Eibe (Taxus brevifolia) gewinnbare Taxol. Wie sich zeigte, stört es das Auf- und Abbaugleichgewicht der Mikrotubuli, indem es eine unnatürliche Form von Tubulin stabilisiert. Dadurch blockiert es praktisch die Zellteilung und damit die Vermehrung von Tumorzellen.
Taxol ist bereits von der Pharmafirma Bristol-Myers Squibb erhältlich, die auch den Namen als Warenzeichen für sich beansprucht und die Wissenschaftler (bislang vergeblich) auffordert, auf die umständlichere Bezeichnung Paclitaxel auszuweichen. Allerdings hat der Naturstoff, der sich inzwischen auch synthetisch herstellen läßt (siehe Spektrum der Wissenschaft, August 1996, Seite 76) relativ gravierende Nebenwirkungen. Solange sein Bindungsort an das Tubulin nicht bekannt war, konnte man nur aufs Geratewohl versuchen, das Molekül abzuwandeln, damit es spezifischer wirkt. Nun aber, da mit der Struktur des Tubulins auch die Andockstelle für das Taxol aufgeklärt worden ist (angedeutet in Bild 1), kennt man gewissermaßen das Schloß und kann daher genauer beurteilen, wie der Schlüssel modifiziert werden muß, damit er besser hineinpaßt.
Zusätzliches Interesse gewinnt die Aufklärung der Tubulinstruktur dadurch, daß Jan Löwe und Linda Amos am Laboratorium für Molekularbiologie in Cambridge (England) fast gleichzeitig – die Manuskripte gingen bei "Nature" mit nur vier Tagen Abstand ein – den dreidimensionalen Aufbau eines bakteriellen Proteins namens FtsZ (filamenting temperature-sensitive mutant Z) bestimmt haben, das ebenfalls an der Zellteilung beteiligt ist und GTP zu binden vermag, weshalb man schon länger eine Verwandtschaft mit den Tubulinen vermutete. Es kommt nicht nur bei den (echten) Bakterien, sondern auch im Urreich der Archaea (früher Archaebakterien genannt) vor. Dies erwies sich als Glücksfall; denn das bakterielle Protein ist ebenso wie die Tubuli-ne schlecht kristallisierbar, während mit dem Archaea-Gegenstück eine herkömmliche Röntgenstrukturanalyse mit einer Auflösung von 2,8 Ångström gelang.
Demnach hat das Molekül einen sehr ähnlichen räumlichen Aufbau wie die Tubuline, obwohl die Übereinstimmung der Sequenzen weniger als 20 Prozent beträgt. Im Bereich der GTP-Bindungsstelle ist die Ähnlichkeit besonders groß. Und so besteht die Hoffnung, daß sich knifflige Fragen, die im widerspenstigen System der Tubuline und Mikrotubuli bisher offen geblieben sind, am leichter handhabbaren FtsZ studieren und beantworten lassen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1998, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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