Materialforschung: Umschaltbare Oberflächen
Ein molekularer Teppich, dessen Eigenschaften sich über ein elektrisches Feld steuern lassen, könnte als Schnittstelle zwischen Biologie und Elektronik fungieren.
Grenzflächen mit besonderen Eigenschaften spielen auf vielen Gebieten eine wichtige Rolle. Ihr Einsatzspektrum reicht vom Abgaskatalysator zum Badeschaum, vom Kleben bis zu biochemischen Trennmethoden. Materialforscher haben daher in jüngster Zeit viel Mühe in die Entwicklung neuartiger Oberflächen gesteckt. Deren Eigenschaften werden oft schon auf molekularer Ebene entworfen und festgelegt. Beispielsweise können sie in vorgegebenen Mustern wechseln, wobei die räumliche Präzision der Musterbildung inzwischen auf den Größenbereich von hundert Nanometern (millionstel Millimetern) zusteuert. Allerdings galt bisher: War eine solche molekulare Oberfläche erst einmal hergestellt, blieben ihre Eigenschaften unveränderlich.
Doch das muss nicht so sein. Joerg Lahann, Postdoktorand bei Thomas Langer am Massachusetts Institute of Technology (MIT), entwickelte die Idee einer Oberfläche mit umschaltbaren Molekülen. Ausgangspunkt war ein früheres Projekt, bei dem dieselbe Arbeitsgruppe Polymere mit einem Formgedächtnis erzeugt hatte (Spektrum der Wissenschaft 5/2001, S. 27). Diese Kunststoffe lassen sich durch Änderung der Temperatur zwischen zwei verschiedenen geometrischen Formen umschalten und ähneln darin den schon länger bekannten gestalterinnernden Metall-Legierungen. Im Unterschied zu diesen sind sie allerdings biologisch abbaubar, was sie insbesondere für die Medizin attraktiv macht.
Lahann fragte sich, was geschähe, wenn man eine Oberfläche mit solchen Molekülen beschichten würde. Ließen sich dann die chemischen Eigenschaften gleichfalls "auf Knopfdruck" verändern?
Bei seinen Versuchen ging der MIT-Forscher von einem mittlerweile klassischen System der Grenzflächentechnik aus: einer sich selbst zusammenbauenden monomolekularen Schicht (SAM für self-assembling monolayer). Dabei ordnen sich fadenartige Moleküle parallel nebeneinander auf einer Unterlage an – zum Beispiel einer dünnen Goldfolie. Zur Anbindung an das Metall kann eine SH-Gruppe (aus einem Schwefel- und einem Wasserstoffatom) dienen, die an einem Ende eines langkettigen Kohlenwasserstoffs (Alkans) angebracht wird. Die Goldschicht muss nicht einmal besonders rein sein. Zudem lassen sich mit einem Stempel leicht Muster aus verschiedenen Molekülarten im Mikrometermaßstab aufbringen (Spektrum der Wissenschaft 8/1994, S. 23).
Allerdings sind in einer solchen monomolekularen Schicht die Moleküle dicht gepackt wie die Wollfäden in einem Berberteppich und demnach alle parallel ausgerichtet. Individuelle Bewegungsfreiheit verbleibt ihnen nicht – und damit auch kein Spielraum für eventuelle Gestaltänderungen. Lahann verfiel deshalb auf einen Trick, die Distanz zwischen ihnen zu vergrößern: Er knüpfte seinen Molekülteppich mit Fäden, die am äußeren Ende eine sperrige Atomgruppe als Abstandshalter trugen (Science, Bd. 299, S. 371). Wie die Bäume in einem Obstgarten waren die Moleküle dann so weiträumig angeordnet, dass jedem einzelnen genügend Platz für die Krone blieb.
Die sperrige Gruppe war aber nur über eine leicht spaltbare Esterbindung mit dem Stamm verknüpft, sodass Lahann die Fäden mit einer einfachen chemischen Reaktion auf einen Schlag enthaupten konnte. Die zurückbleibenden Rumpfmoleküle hatten nun reichlich Bewegungsfreiheit. Als Folge der Esterspaltung trugen sie außerdem an der von der Goldfolie abgewandten Seite eine negative elektrische Ladung.
Moleküle, die sich artig verbeugen
Dieser locker geknüpfte Molekülteppich war zwar nicht wie die Formgedächtnis-Polymere durch Temperaturänderung zwischen verschiedenen Anordnungen schaltbar. Aber dank der geladenen Enden boten sich die Fäden für Manipulationen mit elektrischen Feldern an.
Im Normalfall sollten sie wie in den dicht gedrängten Monoschichten lang gestreckt vorliegen, weil diese Anordnung energetisch am günstigsten ist. Obwohl die Kohlenwasserstoffketten eigentlich wassermeidend (hydrophob) sind, präsentieren sie in diesem Fall einer benetzenden Lösung eine Oberfläche, die sich wegen der elektrisch geladenen Endgruppe relativ wasserliebend (hydrophil) gibt.
Legt man hingegen eine Spannung mit positivem Pol an der Goldfolie an, zieht sie die negativ geladenen Kopfgruppen nach unten: Die Moleküle verbeugen sich gleichsam. Der Außenwelt kehren sie jetzt ihren verlängerten Rücken zu – also die ausgeprägt hydrophobe Flanke der gebogenen Kohlenwasserstoffkette. Polt man die Spannung um, werden die geladenen Köpfe abgestoßen, und die Fäden sollten sich wieder aufrichten.
Mit verschiedenen Methoden bewiesen die MIT-Forscher, dass sich die Moleküle wirklich in der geschilderten Weise verhalten. Zum Beispiel ermittelten sie die Benetzbarkeit der Oberfläche durch Wasser, indem sie den Randwinkel aufgesprühter Wassertröpfchen maßen. Dabei fanden sie über viele Umpolungen des elektrischen Feldes hinweg immer wieder denselben Wechsel zwischen einem stark wasserabweisenden Zustand bei positiver und einem weniger hydrophoben bei negativer Ladung der Goldfolie. Das Verbeugen und Aufrichten der Moleküle war aber auch direkt nachweisbar: mit einer Methode, die empfindlich auf Änderungen der Molekülstruktur an Grenzflächen reagiert. Es handelt sich um die SFG-Spektroskopie (für sum frequency generation), eine Abwandlung der Infrarot-Spektroskopie, die Schwingungen der Atome in einem Molekül misst.
Obwohl sich also der Umschalteffekt mit beiden Methoden eindeutig und reproduzierbar beobachten ließ, handelt es sich noch nicht um einen Wechsel zwischen Zuständen mit völlig entgegengesetzten Eigenschaften, sondern eher um eine graduelle Änderung. Selbst bei gestreckten Molekülen verhält sich die Oberfläche nämlich nur mäßig wasserfreundlich.
Dies mag damit zusammenhängen, dass die Fäden lediglich an ihrem äußersten Ende hydrophil sind und bei der lockeren Anordnung in gewissem Ausmaß auch ihr hydrophobes Inneres präsentieren. Möglicherweise kann man sie mit einem definierten Gelenk versehen, das sie nur in einer Richtung umknicken lässt, sodass nicht nach allen Seiten hin Platz freigehalten werden muss. Sie könnten dann zum Beispiel dicht gedrängt in geraden Reihen stehen und sich wie das Theaterensemble am Ende des Stücks alle parallel verbeugen.
Mit solchen Verbesserungen dürften die schaltbaren Molekülflächen im Grenzbereich zwischen Biochemie, Nanotechnologie und Elektronik schon bald Marktnischen finden. Einige Analysemethoden stehen heute kurz davor, auf Einzelmoleküle anwendbar zu sein. So hofft man, demnächst die Buchstabenfolge eines Gens aus einem einzigen DNA-Doppelstrang ablesen zu können. Mit monomolekularen Oberflächen, deren Eigenschaften elektronisch steuerbar sind, ließen sich die Biomoleküle in die richtigen Bahnen für diese Analyse lenken.
Im medizinischen Bereich bieten sich die schaltbaren Moleküle für miniaturisierte Wirkstoffdosierer an, die man zum Beispiel bei größeren Operationen dem Patienten implantiert, damit sie über Monate hinweg die medikamentöse Nachbehandlung übernehmen. Solche "Pharmachips" gehen ebenfalls auf Arbeiten aus Langers Team zurück und werden derzeit bei der Firma MicroChips in Bedford (Massachusetts) zur Marktreife entwickelt. Das elektronische Umschalten einer Molekülschicht könnte den gebundenen Wirkstoff freisetzen oder aber die Ausgangskanäle des gesamten Chips öffnen und schließen, ohne dass mechanisch bewegte Teile benötigt würden.
Die Unterscheidung zwischen hydrophob und hydrophil ist für Biomoleküle ebenso fundamental wie die elektrische Ladung für die Elektronik. Insofern bildet die schaltbare Monoschicht eine willkommene Brücke zwischen beiden Welten: eine Art Modem für den Informationstransfer an der Grenzfläche zwischen Biologie und Elektronik.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2003, Seite 12
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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