Quantenphysik: Verschränkung total
Kunstvolle Experimente scheinen nach 100 Jahren Quantenphysik die Indizienkette für die Vollständigkeit – und unaufhebbare Seltsamkeit – der Quantenmechanik endlich vervollständigt zu haben.
Gemäß der Quantentheorie kann ein mikrophysikalisches System als Überlagerung von Zuständen existieren, die einander klassisch betrachtet ausschließen müssten – ein Gedanke, dem selbst Gründerväter der neuen Theorie wie Einstein und Schrödinger nicht folgen mochten. Um die vermeintliche Absurdität solcher Zustandsüberlagerungen zu demonstrieren, ersann Schrödinger bekanntlich die nach ihm benannte legendäre Katze, die beliebig lange in einer Überlagerung zwischen Leben und Tod verharrt. Einstein wiederum konzipierte ein System aus zwei Teilchen, die einen gemeinsamen Quantenzustand bilden – Schrödinger nannte solche Teilchen "verschränkt" –, selbst wenn sie sich noch so weit voneinander entfernen. Misst man also eine Quanteneigenschaft des einen Teilchens, dann nimmt sein Partner – über beliebig große Distanzen hinweg! – die für ihn durch den gemeinsamen Zustand vorgegebene Eigenschaft an. Dies widerspricht dem in der klassischen Physik selbstverständlichen Postulat des "lokalen Realismus", welches besagt: Die Eigenschaften eines Teilchens können nicht die eines anderen in großer Entfernung beeinflussen, und darum müssen alle Eigenschaften jedes Teilchens schon vor der Messung existiert haben.
Die Debatte um den Bruch des lokalen Realismus wäre wohl ein Thema für Naturphilosophen geblieben, hätte nicht der Physiker John S. Bell 1964 vorgerechnet, dass sich die Frage im Prinzip experimentell entscheiden lässt. Produziert man wie am Fließband gleichartige Paare von verschränkten Teilchen genügend oft und misst ihre Quanteneigenschaften, so müsste die Verteilung der Messresultate, falls der lokale Realismus gälte, der so genannten Bellschen Ungleichung gehorchen – andernfalls nicht. Doch bis tief in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts gab es nur wenige Experimente, die zuverlässig Serien verschränkter Zustände zu erzeugen und die räumlich getrennten Komponenten exakt genug zu messen vermochten. Alle derartigen Ergebnisse sprachen eher für eine Verletzung der Bellschen Ungleichung und somit für die Quantentheorie und gegen den lokalen Realismus. Aber dessen hartnäckige Anhänger – sozusagen die Anwälte des gesunden Menschenverstandes in der Quantentheorie – waren damit nicht zu überzeugen.
Messung ohne Ausnahme
Das stärkste Argument der Verfechter des klassischen Realismus war, dass bei solchen Messreihen viel mehr verschränkte Teilchenpaare produziert wurden – in den Versuchen von Alain Aspect in Paris handelte es sich um Lichtquanten –, als hinterher gemessen werden konnten. Mit anderen Worten, die Verschränkungs-Experimentatoren schlossen notgedrungen stets von einer sehr kleinen Stichprobe gemessener Werte auf die Verteilung einer sehr viel größeren Gesamtheit von nicht gemessenen Werten. Also konnte es immerhin sein, dass aus irgendeinem Grund die Bellsche Ungleichung zwar bei der Stichprobe verletzt wurde, nicht aber bei der Gesamtheit – und durch diese statistische Hintertür wäre der lokale Realismus vielleicht doch noch zu retten gewesen.
Erst jetzt ist es einem Team um M. A. Rowe am National Institute of Standards and Technology in Boulder (US-Bundesstaat Colorado) gelungen, dieses Schlupfloch zu schließen und eine komplette Messung sämtlicher im Experiment erzeugter verschränkter Paare zu erreichen (Nature, Bd. 409, S. 791). Die Forscher versetzten zwei in einer so genannten Paul-Falle gefangene Beryllium-Ionen durch zwei gekreuzte Laserstrahlen in eine Überlagerung von zwei Anregungszuständen. Obwohl die beiden Ionen sich in einem – für atomare Verhältnisse sehr großen – Abstand von 0,003 Millimetern voneinander aufhielten, waren sie verschränkt und bildeten eine Superposition der beiden für das Ionenpaar möglichen Anregungszustände. Dieses Kunststück konnten die Experimentatoren beliebig oft wiederholen.
Nun wurden die beiden verschränkten Ionen durch einen zusätzlichen kurzen Laserpuls und gleichzeitiges Variieren der Paul-Falle gleichsam aus dem Tritt gebracht und individuell markiert; sie blieben dabei zwar noch immer verschränkt, aber der Anregungszustand des einen Ions unterschied sich nun in zufälliger Weise von dem des Partners. Jetzt erst, im dritten Schritt, erfolgte der Messvorgang: Ein Laser bestrahlte das Ionenpaar und löste dadurch je nach individuellem Anregungszustand nur in einem Ion, in keinem oder in beiden Ionen die Emission von Lichtquanten aus. Die so in 20000 Durchgängen gemessene vollständige Verteilung aller Resultate bestätigte zweifelsfrei eine deutliche Verletzung der Bellschen Ungleichung – ein etwas verspätetes Geburtstagsgeschenk an die Quantentheorie und eine posthume Widerlegung der Bedenken von Einstein und Schrödinger.
Nur eine Woche später meldete "Nature" (Bd. 409, S. 1014) den nächsten Verschränkungstrick, diesmal ausgeführt von Paul Kwiat und seinen Mitarbeitern vom Los Alamos National Laboratory (New Mexico) und von der Universität Genf. Sie arbeiteten mit unterschiedlich polarisierten Lichtquanten und gewannen durch raffiniert eingesetzte Polarisationsfilter aus nur unvollkommen verschränkten Teilchenpaaren maximal verschränkte. Dies wiesen sie nach, indem sie an den manipulierten Paaren die Verletzung der Bellschen Ungleichung demonstrieren konnten.
Zuvor ist stets nur der umgekehrte Vorgang realisiert worden: Aus zunächst verschränkten Paaren werden durch Wechselwirkung mit der Umwelt unverschränkte. Dieser Ablauf ist ein Beispiel für so genannte Dekohärenz, denn verschränkte Teilchen bilden einen "kohärenten" Quantenzustand. Dekohärenz ist gang und gäbe; sie geschieht bei jedem Messvorgang und verwandelt das Sowohl-als-auch der Quantensuperpositionen in das "klassische" Entweder-oder des Messresultats. Das Team um Kwiat ging nun aber von einem "fast klassischen" Zustand aus, in dem eine bestimmte Zustandskomponente dominierte; zum Beispiel waren beide Lichtquanten anfangs fast vollständig vertikal polarisiert, und ihr gemeinsamer Zustand enthielt nur schwache Beimengungen der anderen möglichen Kombinationen von vertikaler und horizontaler Polarisation für zwei Lichtteilchen. Erst durch raffinierte Filterung "destillierten" die Forscher daraus einen maximal verschränkten Quantenzustand aus gleichermaßen vertikal und horizontal polarisierten Paaren.
Den Spieß umkehren
Kwiat und seine Mitarbeiter sprechen darum von einer in den (fast) klassischen Zuständen "verborgenen Nicht-Lokalität", die durch den Destillationsprozess zu Tage tritt. Damit haben sie den Spieß, mit dem Einstein die Nicht-Lokalität der Quantentheorie durch Einführen verborge-ner Variabler erledigen wollte, erfolgreich umgedreht. Hinter der vermeintlich unvollstän-digen Quantentheorie verbirgt sich keine noch tiefere Physik, die dem klassischen Postulat des lokalen Realismus genügt, sondern hinter jedem vermeintlich klassischen Zustand verbirgt sich ein Gemisch von Quantenzuständen, das durch Destillation nachweisbar ist.
Die beiden Kunststücke – vollständige Messung der Verschränkung und Verschränkungsdestillation – haben nicht nur theoretischen Wert. In künftigen Quantencomputern wird man maximal verschränkte Zustände wie am Fließband produzieren müssen. Solche Experimente zeigen, dass das im Prinzip möglich ist.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 2001, Seite 21
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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