Was bringt die EU-Forschungsförderung?
Seit 1984 finden die Forschungs- und technologischen Entwicklungsaktivitäten der Europäischen Gemeinschaft innerhalb von Rahmenprogrammen statt, die über mehrere Jahre hinweg definiert sind. Geforscht wurde unter anderem zu Fragen der Gesundheit und der Lebensqualität, dem Schutz der natürlichen Umwelt oder zur heraufziehenden Informationsgesellschaft. Die Beiträge aus der Wissenschaft und Industrieforschung in dieser Sonderpublikation von Spektrum der Wissenschaft geben punktuell Einblicke in bislang geförderte Forschungsprojekte und Entwicklungsarbeiten. Seit Anfang dieses Jahres gibt das nunmehr fünfte Rahmenprogramm die Leitlinien der europäischen Forschungsförderung bis zum Jahr 2002 vor. Warum wurden – anders als bisher – weniger wissenschaftlich-technische Ziele formuliert, warum wurde das Programm stark auf "aktuelle sozioökonomische Probleme" ausgerichtet? Auf Fragen von Dieter Beste antworten die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, sowie Dr. Edith Cresson, Mitglied der Europäischen Kommission.
Welche Ziele verfolgt die europäische Kommission mit ihren Förderaktivitäten für Forschung und technologische Entwicklung?
Dr. Edith Cresson: Die Kommission will mit ihrer Forschungsförderung in erster Linie Schwerpunkte setzen, damit Industrie und Wissenschaft der europäischen Länder sich auf die entscheidenden technologischen Probleme konzentrieren; auf solche, die den technologischen Wettbewerb und unsere Lebensbedingungen im 21. Jahrhundert bestimmen werden. Dabei geht es in wirtschaftlicher Sicht vor allem um Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, letztlich mit dem Ziel, die viel zu hohe Arbeitslosigkeit in den europäischen Ländern auf ein erträgliches Maß zurückzuführen. Es geht gesellschaftspolitisch um unsere Lebensqualität durch Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Schutz und Erhaltung der Umwelt. Dies sind Gebiete, in denen die europäischen Länder, wie besonders auch Deutschland, in den vergangenen Jahrzehnten Maßstäbe gesetzt haben. Allerdings werden hier auch im Hinblick auf fundamentale Entwicklungen unserer Gesellschaft im Zeitalter von Globalisierung, beschleunigtem Bevölkerungswachstum und steigender Lebenserwartung ständig neue Fragen aufgeworfen, die vielfach noch wissenschaftlicher Klärung bedürfen. Kurz, wir wollen mit der wissenschaftlichen Durchdringung der wesentlichen Probleme, die die Menschen heute beschäftigen und die vielfach weit über die nationalen Koordinaten hinausweisen, Beiträge liefern und Antworten finden, die den Menschen helfen, den Herausforderungen zu begegnen.
Das fünfte Rahmenprogramm der Europäischen Union für Forschung und Entwicklung hatte einen schwierigen Start. Es wurde auf europäischer Ebene länger darüber diskutiert als vorgesehen. Welche Hemmnisse mußten aus dem Weg geräumt werden?
Edelgard Bulmahn: Wirtschaftspolitisch und gesellschaftlich relevante Ziele lassen sich nicht im Hau-Ruck-Verfahren definieren. Das fünfte Rahmenprogramm für Forschung und technologische Entwicklung sollte nicht lediglich eine Fortsetzung seiner Vorgängerprogramme sein, sondern eine grundlegend neue Struktur erhalten. Die bisherige Forschungsförderung nach dem Prinzip "more of the same" hatte – trotz exzellenter Einzelvorhaben – oft zur Verzettelung geführt. Das neue Programm sollte sich daher stärker auf Forschungsthemen mit Priorität konzentrieren. Die Reduzierung der Anzahl spezifischer Programme und die Zusammenführung bestehender Potentiale im Rahmen von strategischen Schlüsselaktionen war dazu ein wichtiger Schritt. Ein breiter Konsens darüber erforderte einen intensiven Dialog aller Beteiligten. – Im übrigen gilt nach dem Maastrichter Vertrag für die Beschlußfassung über die europäischen Rahmenprogramme noch das Einstimmigkeitsprinzip. Mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages in diesem Jahr soll es durch das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit abgelöst werden. Damit wird die europäische Forschungspolitik erheblich handlungsfähiger werden.
Welche neuen Akzente setzt das fünfte Forschungsrahmenprogramm der EU? Gibt es neue Schwerpunkte? Worin unterscheidet es sich von den vorangegangenen Programmen?
Cresson: Es ist uns tatsächlich gelungen, mit der Konzeption des fünften Rahmenprogramms neue Akzente zu setzen, die dieses Instrument ganz wesentlich von seinen Vorgängern abheben werden. Da ist zunächst der fundamental neue Ansatz, den wir mit den sogenannten Leitaktionen gewählt haben: Triebfeder für Forschung und Entwicklung soll nicht mehr in erster Linie der wissenschaftliche Fortschritt um seiner selbst willen sein, sondern die Bedürfnisse, Probleme und Fragen, denen sich die europäischen Bürger in einer sich rapide verändernden Welt konfrontiert sehen. Beispielsweise soll der Frage nachgegangen werden, wie die Stadt von morgen aussieht. Wie werden sich die ökologischen, verkehrstechnischen und kulturellen Lebensbedingungen in den Städten und Ballungszentren entwickeln? Welche gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Probleme bringt die zunehmende Überalterung der Bevölkerung in den europäischen Ländern mit sich? Oder: Wie kann die Informationsgesellschaft, die unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren geradezu revolutioniert hat, sozialverträglich gestaltet werden? Das sind neue Schwerpunkte, die wir in einem sehr langwierigen Prozeß der Konzeption und Konsultation mit allen erdenklichen Kreisen von Interessenten definiert haben. Ferner die Konzentration auf Themen von eindeutig europäischer Tragweite und Relevanz war mir ein wesentliches Anliegen. Die Tatsache, daß bei dieser überaus komplexen Prozedur noch ein kohärentes Ganzes herausgekommen ist, das unseren ursprünglichen Ansatz erhält und den Titel "Die Zukunft gestalten" rechtfertigt, grenzt fast schon an ein Wunder.
Wie beurteilen Sie den Erfolg der bisherigen Forschungsrahmenprogramme? Gab es Mißerfolge? Wie kann die Zusammenarbeit beziehungsweise die Koordinierung zwischen nationalstaatlichen und europäischen Förderanstrengungen verbessert werden?
Cresson: Man kann diese Frage nicht pauschal beantworten. Die Rahmenprogramme haben sich zweifellos insofern als Erfolg erwiesen, als sie die Europäische Union zur bedeutendsten Plattform internationaler Kooperation in Forschung und Technologie gemacht haben. Wissenschaftler und Forscher in unseren Ländern haben in dem vergangenen Jahrzehnt die europäische Dimension vielfach geradezu neu entdeckt, und niemand stellt heute mehr den Sinn und Wert europäischer Zusammenarbeit in Forschung und Entwicklung in Frage. Das war noch in den achtziger Jahren keineswegs selbstverständlich, und wenn man dies vor dem Hintergrund der sehr begrenzten Mittel und der komplizierten europäischen Entscheidungsprozesse mißt, ist das zweifellos ein Erfolg. Auf der anderen Seite gibt es auch Defizite und Versäumnisse. Natürlich führt nicht jede Idee, jedes Projekt unmittelbar zum Erfolg: auf keinem Gebiet sind die Risiken und Ungewißheiten so ausgeprägt wie in der naturwissenschaftlichen Forschung. Das gleiche gilt auch für die industrielle Forschung. Insofern gehören Mißerfolge, von denen Sie sprechen, zum beruflichen Alltag der Wissenschaftler und Ingenieure. Die Frage ist allerdings, ob die Forschungskooperation auf europäischer Ebene insgesamt erfolgreich genannt werden kann; als Indiz dafür kann die ständig steigende Nachfrage aus Industrie, Universitäten und freier Forschung nach unseren Programmen gelten, die unsere finanziellen Möglichkeiten regelmäßig um ein Vielfaches übersteigt – nur etwa 20 Prozent der qualifizierten Anträge werden im Durchschnitt bewilligt. Insofern ist die EU-Forschung offenbar Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Darüber hinaus gibt es aber grundsätzliche Defizite, die wir dringend beheben müssen, wenn wir den Ansprüchen und Erwartungen gerecht werden wollen: So brauchen wir mehr Flexibilität in der Anpassung an neue wissenschaftliche Entwicklungen und Bedürfnisse – ich nenne als Beispiel nur das plötzliche Auftreten von Forschungsbedarf im Zusammenhang mit BSE im vergangenen Jahr; und wir brauchen mehr Autonomie im Entscheidungsprozeß und in der verständlicherweise komplizierteren Verwaltung der europäischen Forschungsprogramme. Schließlich brauchen wir eine systematische Koordinierung mit den anderen Ebenen, auf denen Forschungsförderung betrieben wird, um eine kohärente Technologieentwicklung für Europa insgesamt zu erreichen, Doppelarbeiten auszuschließen und gemeinsame Strategien zu entwickeln, die den Problemen unserer Zeit angemessen sind.
Bulmahn: Europäische Forschungsförderung darf eben nicht isoliert betrachtet werden. Sie muß auf den vorhandenen Systemen nationaler Förderung aufbauen. Die Europäische Union kann nur dann wirkungsvoll Akzente setzen, wenn sie ihre Fördermaßnahmen in Anwendung des Subsidiaritätsprinzips gezielt auf Aufgaben von europäischem Gewicht konzentriert. Dies sind vor allem Aufgaben, die wegen ihrer finanziellen oder inhaltlichen Dimensionen nicht national gelöst werden können. Praktisch findet die Koordinierung der Zusammenarbeit auf zwei Ebenen statt: Die inhaltliche Ausgestaltung des Rahmenprogramms wird bei den Verhandlungen auf EU-Ebene weitgehend von den Mitgliedsstaaten bestimmt. Hier besteht die Möglichkeit, ergänzend zu nationalen Anstrengungen andere Schwerpunkte zu setzen. Bei der Programmumsetzung muß dann im Rahmen der jeweiligen nationalen Koordinierungsstrukturen sichergestellt werden, daß keine Doppelförderung mit identischen nationalen Projekten erfolgt.
Welchen Stellenwert hat die europäische Forschungsförderung im Konzert der Ihnen als Bundesforschungsministerin zur Verfügung stehenden Förderinstrumente?
Bulmahn: Der internationale Wettbewerb in der Biotechnologie, der Kommunikationstechnik oder in anderen High-Tech-Bereichen hat sich in den letzten Jahren erheblich verschärft. Diese globalen Herausforderungen können wir nur in europäischer Zusammenarbeit meistern. Die europäische Kooperation ist daher für Deutschland ein wichtiger Schlüssel, um zu einer stärkeren internationalen Ausrichtung unserer Forschungspolitik zu kommen. Dabei geht es nicht primär um zusätzliche finanzielle Mittel. Es geht mir hier vielmehr um die Verbesserung der Zusammenarbeit in zentralen Feldern. Beispiele dafür sind die Vernetzung des europäischen Forschungspotentials, die Intensivierung der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Industrie in Europa oder der Ausbau der europäischen Forschungsinfrastruktur. Mit dem fünften Rahmenprogramm wird dafür eine gute Grundlage geschaffen. Ich bin sicher, daß dieses mich wirklich überzeugende Programm einen wichtigen Beitrag für mehr technologische Innovation und damit letztlich zur Schaffung von Arbeitsplätzen in Europa leisten wird.
Wie werden die Fördermaßnahmen aus Brüssel von der Forschung in den europäischen Ländern angenommen? Gibt es regionale Unterschiede in der Akzeptanz?
Cresson: Über die Akzeptanz unserer Programmangebote können wir uns, wie gesagt, nicht beklagen: das wird durch die mehrfache Überzeichnung immer wieder bestätigt. Und das gilt grundsätzlich für alle Länder und Regionen der EU. Aber natürlich sind Erfolge und Beteiligungsintensität in den Regionen der EU sehr unterschiedlich, was sicherlich auf das sehr ausgeprägte Gefälle in der technologischen Infrastruktur zwischen High-Tech- und Low-Tech-Regionen zurückzuführen ist. Da unser Förderungssystem grundsätzlich auf Wettbewerbs-, nicht auf Subventionskriterien aufbaut – im Unterschied etwa zu den europäischen Strukturfonds – können wir von der Forschungsförderung allein auch nicht einen automatischen Ausgleich zwischen den Regionen innerhalb der EU erwarten. Dies muß vielmehr durch eine systematische Einbeziehung der Strukturfonds, insbesondere des Regionalfonds geschehen, bei dem übrigens die technologische Komponente in den letzten Jahren immer wichtiger wurde.
Welche besonderen Stärken weist die Forschung in Deutschland im Vergleich zur Forschung in den anderen europäischen Ländern auf?
Bulmahn: Deutschland ist ein hochentwickeltes, breit diversifiziertes Forschungsland. Es hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg – nach einer zügigen Ausweitung der Kapazitäten in privater und staatlicher Forschung und Entwicklung – eine Position in der Spitzengruppe der forschenden Volkswirtschaften erarbeitet. Zur Zeit bewegen sich die Ausgaben für Forschung und Entwicklung auf einem hohen Niveau von knapp 60 Milliarden Mark. Mein Ziel ist es, das deutsche Forschungssystem weiter für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts fit zu machen: Deutschland muß eine Ideenfabrik werden. Um auch in Zukunft neue Ideen als Basis für Innovationen entwickeln zu können, brauchen Wissenschaft und Forschung langfristig verläßliche Rahmenbedingungen. Diese Rahmenbedingungen werden wir schaffen. Zudem werden wir die Investitionen des Bundes für Forschung und Bildung in Deutschland in den nächsten Jahren deutlich erhöhen.
Welche Bedeutung messen Sie dem Argument zu, Forschungsförderung müsse immer auch Standortförderung sein?
Bulmahn: Wir wollen für Wissenschaft und Forschung neue Entfaltungsmöglichkeiten schaffen und strukturelle Verkrustungen aufbrechen. Eigenverantwortung muß selbstverständlich sein. Die Forschungsförderung werden wir entbürokratisieren. Ich erwarte davon mehr Qualität, Transparenz, Flexibilität und Effizienz. In disziplinen- und branchenübergreifenden Leitprojekten werden wir die Entwicklung von Technologien und organisatorischen Voraussetzungen für Kreislaufwirtschaft und nachhaltiges Wirtschaften anschieben. Dies ist auch der richtige Weg, quer über organisatorische Grenzen hinweg neue Allianzen der Innovation zu bilden. Den Wettbewerb um die besten Ideen will ich systematisch als Instrument einsetzen, um Innovationsnetzwerke zu fördern. Mein Ziel ist es, eine umfassende Zusammenarbeit aller am Innovationsprozeß Beteiligten zu erreichen. Dabei sollen Netzwerke und regionale Schwerpunkte zwischen Hochschulen, außeruniversitärer Forschung und Industrie entstehen. Wir werden insbesondere die kreativen Leistungen junger und kleinerer Unternehmen mit ihrer besonderen Bedeutung für den Arbeitsmarkt unterstützen. Und der Ausbau von Bildung und Forschung in den neuen Bundesländern wird ebenfalls ein Schwerpunkt der neuen deutschen Bundesregierung sein. Die deutsche Wissenschaft und Wirtschaft unterstütze ich dabei, sich innerhalb Europas aktiv an der Schwerpunktsetzung zu beteiligen und eigene Initiativen zu ergreifen. Damit stärken wir nicht nur die Forschung in Deutschland, sondern geben auch dem Forschungsstandort Europa neue Impulse.
Wie stellt sich aus europäischer Sicht das Verhältnis der EU-Maßnahmen zu den unterschiedlichen nationalen Forschungsförderungsanstrengungen dar? Überwiegt in diesem Verhältnis die Kooperation mit den nationalen Regierungen, oder gibt es auch Konkurrenz?
Cresson: Ich würde weniger von Konkurrenz sprechen als von sinnvoller Ergänzung. Aber gerade in dieser Hinsicht haben wir noch Nachholbedarf. Die Notwendigkeit einer effizienten Koordinierung der Forschungspolitik auf Ebene der EU und der Mitgliedstaaten ist von der Kommission immer wieder angemahnt und eingeleitet worden. Auch die deutsche Regierung hatte sich während ihrer letzten Präsidentschaft im Ministerrat Ende 1994 besonders für dieses Ziel stark gemacht. Es geht um Information, Abstimmung von Zielen und Mitteln auf allen Ebenen und in jedem Stadium, nicht nur in der inhaltlichen Konzeption der Programme, sondern auch bei der Evaluierung der Projekte. Da sind wir leider von einer kohärenten und konsequenten Gesamtstrategie noch weit entfernt. Im übrigen haben auch wir im vierten und der Konzeption des fünften Rahmenprogrammes unsere Verfahren wesentlich gestrafft und entbürokratisiert. In Verwaltungseffizienz braucht die EU-Forschung den Vergleich mit der nationalen Ebene keineswegs zu scheuen.
Und das in einer internationalen Situation, in der Forschung für Europa gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann?
Cresson: Leider ist es noch so. Die Bedeutung von Forschung für Europa kann in der Tat nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wir erleben seit einigen Jahren Umbrüche in unseren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens- und Arbeitsbedingungen, die den historischen Entwicklungen der beginnenden Neuzeit oder der industriellen Revolution im vergangenen Jahrhundert qualitativ in keiner Weise nachstehen. Ein wesentlicher Teil dieser Probleme hat Auswirkungen weit über die Landesgrenzen hinaus und ist mit dem klassischen Arsenal der Nationalstaaten, wie Frau Ministerin Bulmahn schon anmerkte, nicht mehr zu bewältigen. Dementsprechend haben Forschung und Entwicklung in den letzten Jahren in der Europapolitik einen ganz neuen Stellenwert, der sich noch keineswegs in den finanziellen Aufwendungen adäquat widerspiegelt – die sind ja nach wie vor ausgesprochen bescheiden, zumindest gemessen an dem, was von Wirtschaft und Industrie, oder auch an dem, was für andere Politikfelder wie Landwirtschaft, Regional- oder Sozialpolitik im EU-Haushalt aufgewendet wird. Aber die Bedeutung von Forschung und Technologie für Wirtschaft und Gesellschaft nimmt täglich zu, und dem wird auf europäischer Ebene zunehmend Rechnung getragen. So ist in dem strategischen Programm der Kommission für das kommende Jahrzehnt, der "Agenda 2000", Forschung und Entwicklung als einzige Politik herausgehoben worden, für die die finanziellen Aufwendungen überproportional steigen sollen. Daß wir in dem Kompromiß vom 17. November 1998 zwischen dem Ministerrat und dem europäischen Parlament letztlich eine Zuwachsrate von jährlich 4,5 Prozent für das fünfte Rahmenprogramm erzielt haben, ist in diesem Sinne ein klarer Erfolg.
Investiert Europa angesichts der zunehmenden Globalisierung der Märkte genügend in Forschung und Entwicklung?
Cresson: Wenn Sie bei dieser Frage unter Europa alle Ebenen verstehen, die in Forschung und Technologie investieren – also auf industrieller, Länder-, Bundes- und EU-Ebene –, so muß die Antwort nicht negativ sein: Die Notwendigkeit zu Zukunftsinvestitionen wurde in Politik und Wirtschaft in den letzten Jahren zunehmend erkannt, und diese Erkenntnis ist vielfach auch umgesetzt worden. Das können Sie an den Bilanzen und Kostenrechnungen der großen, international tätigen Unternehmen ablesen – und zwar keineswegs nur der sogenannten High-Tech-Industrie, sondern auch traditionellen Technologiesektoren, wie Elektrotechnik, Chemie, Automobil- oder Maschinenbau. Gerade in den letzten zwei Jahren zeigt sich da ein erfreulicher Bewußtseinswandel, in dem sehr einschneidende Programme der Struktur- und Kostenbereinigung im allgemeinen nicht auf Kosten der Forschungs- und Technologieaufwendungen gegangen sind. Ob das allerdings ausreicht, damit die europäischen Länder im globalen Wettbewerb mit den USA in High-Tech-Bereichen, wie Bio-, Informationstechnologie oder Raumfahrt bestehen werden, da habe ich noch meine Zweifel.
Wie beurteilen Sie den Trend? Wird es weitere Verlagerungen von nationalen Zuständigkeiten für die Forschungsförderung auf die europäische Ebene geben? Und: Was sind die besonderen Stärken der Forschung in Europa?
Bulmahn: Die Forschungsförderung ist nach dem Subsidiaritätsprinzip primär Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Dies muß auch so bleiben. Europäische Forschungsförderung hat nur eine ergänzende, aber gleichwohl wichtige Funktion: Sie ist vor allem für die europäische Vernetzung der nationalen Forschungslandschaften und die Lösung übergreifender Probleme, die alle Mitgliedstaaten betreffen – etwa im Umweltbereich, in der Meeresforschung, der Luftfahrtforschung und dem Verkehrsbereich –, von zentraler Bedeutung. Ein sinnvolles EU-Engagement ist zum Beispiel auch bei der gemeinsamen Nutzung von Gendatenbanken, der Internationalen Raumstation oder bei der Vernetzung von Höchstleistungsrechnern denkbar.
Cresson: Die Qualität der Forschung in Europa kann sich heute zweifellos auch im weltweiten Wettbewerb sehen lassen. Eine Vielzahl der wissenschaftlichen Entdeckungen und Durchbrüche auch noch in der zweiten Jahrhunderthälfte ist von europäischen Ländern ausgegangen. Das wissenschaftlich-technische Spektrum der europäischen Länder, gerade auch Deutschlands, ist ausgesprochen breit und vielseitig. Darin liegt eine große Stärke gerade gegenüber etwa Japan, das seine technologischen Offensiven systematisch auf einzelne High-Tech-Bereiche zu konzentrieren pflegte. Gerade im Bereich der klassischen technologie-intensiven Sektoren, die das Rückgrat der deutschen Exportindustrie bilden, wie Chemie, Elektrotechnik, Automobil- und Maschinenbau oder Luftfahrt und – last but not least – in der technologisch orientierten mittelständischen Industrie, liegen große Potentiale, die man nicht unterschätzen sollte. Aber auch in ausgesprochenen High-Tech-Bereichen wie Telekommunikation oder in der Biotechnologie haben die europäischen Länder in den letzten Jahren einiges an Terrain gutgemacht.
Wie können diese Stärken – vielleicht besser als bisher – in wirtschaftliche Kraft verwandelt werden?
Cresson: Das ist in der Tat das Kardinalproblem, das ich gelegentlich als das "europäische Paradox" bezeichnet habe: die Umsetzung von wissenschaftlichen Leistungen und Forschungsergebnissen in Markterfolge, der Gegensatz zwischen erstklassigen Forschungsergebnissen und dürftigen Markterfolgen in High-Tech-Bereichen – da sind uns tatsächlich unsere großen Konkurrenten, die USA und Japan, voraus. Auch wenn wir das Problem in letzter Zeit immer mehr bewußt gemacht haben – was in Deutschland besonders durch die Standortdebatte wesentlich gefördert worden ist –, ist es natürlich nicht kurzfristig vom Tisch zu bringen. Das ist weitgehend eine Frage von Tradition und Mentalität, des Interesses an Markterfolgen sowie der Einstellung zu Geschäftsrisiko und Risikokapital. Sicherlich hat sich hier einiges in den letzten Jahren zum Besseren gewandelt, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. Gerade Deutschland verfügt heute in einigen technologisch fortgeschrittenen Bundesländern und Regionen – etwa in Baden-Württemberg, Bayern oder Nordrhein-Westfalen – über ein dichtes Netz von Technologie-Transferzentren, die die Verbindungen von Forschungsinstituten und Universitäten mit der mittelständischen Wirtschaft systematisch entwickelt haben. Und wir haben mit der Gründung der sogenannten Value-Relais-Zentren in den Mitgliedsländern – die bekanntesten davon in Deutschland haben ihren Sitz in Stuttgart, Berlin und Mülheim/Ruhr – schon Anfang der neunziger Jahre ein entsprechendes Zeichen auf EU-Ebene gesetzt. Wir haben 1996 ferner einen sehr konkreten Aktionsplan für Innovationsförderung vorgelegt, und ich habe im letzten Jahr erstmalig Vertreter von Banken und Kreditinstituten und Vertreter des technologie-interessierten Mittelstands auf einer Konferenz in Brüssel zusammengebracht – eine Veranstaltung, die auf großes Interesse auf allen Seiten stieß. Quintessenz: Es gibt durchaus ermutigende Tendenzen, wenn man die Patentbilanzen ansieht oder die Entwicklung von neuen Unternehmensgründungen in der Biotechnologie, die bis vor wenigen Jahren noch ausschließlich von den USA bestimmt wurde.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 961
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